Kapitel // 31 //

Forsythe war hocherfreut, dass Testperson Beta statt nach Tversky nach ihm verlangt hatte. Wenn er es schaffte, Caine an sich zu binden, wurde Tversky vielleicht sogar schneller überflüssig als geplant. Forsythe lächelte und zog einen kleinen, glänzenden Gegenstand aus der Tasche. Als er sich der Testperson näherte, beschleunigte sich das leise Piepsen des EKGs.

«Keine Sorge, Mr. Caine. Es wird nicht wehtun», sagte Forsythe. «Ich will nur die Lidklammern lösen, damit Sie … sich konzentrieren können. Allerdings merke ich sofort, wenn Sie Dummheiten machen.»

Forsythe warf einen Blick auf die Bildschirme an der gegenüberliegenden Wand. Ihn interessierte jetzt in erster Linie das EEG, das die elektrische Aktivität im Temporallappen von Testperson Beta anzeigte. Wenn die Kurve über ein vorher festgelegtes Maß anstieg, würde der Testperson ein Elektroschock versetzt, der ihre Konzentration unterbrach.

Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme verabreichte Forsythe ein leichtes Beruhigungsmittel, damit die Testperson leichter beeinflussbar war. Langsam sank ihr Puls auf siebzig Schläge pro Minute. Dann erst löste Forsythe die Lidklammern. Sofort schloss die Testperson die Augen, und einen Moment lang war es Forsythe, dem das Herz bis zum Hals schlug; ein rascher Blick zum EEG bestätigte ihm jedoch, dass die Testperson nur ruhte – ihre Deltawellen waren dominant, die anderen dagegen zeigten kaum Ausschläge.

Nach einigen Sekunden öffnete die Testperson ihre strahlend grünen Augen und starrte Forsythe an. «Und jetzt?», fragte sie.

Forsythe zog eine 25-Cent-Münze aus der Hosentasche. «Ich möchte, dass Sie diese Münze im Auge behalten. Ich werde sie werfen. Wenn sie landet, soll sie Kopf zeigen.»

Die Testperson war verwirrt. «Aber was genau soll ich tun?»

Nun war Forsythe verblüfft. «Sie sollen dafür sorgen, dass bei dem Wurf Kopf herauskommt.»

«Und wie?»

«Mit Ihren geistigen Kräften.»

 

Caine starrte Forsythe an und wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn er log, war er dran. Aber die Wahrheit wollte er auch nicht sagen. Er hoffte, dass Nava sich beeilte.

Vorausgesetzt, sie kommt überhaupt. Vergiss nicht, die Wahrscheinlichkeit, dass sie es gar nicht erst hierher schafft, liegt bei 12,7 Prozent. Du sitzt hier vielleicht für immer fest.

Caine versuchte, seinen Fatalismus beiseite zu schieben. Er sah wieder zu dem Bildschirm, der Jasper in seinem Behandlungsstuhl zeigte. Ein Speichelfaden glänzte an seiner Wange. Dann blickte Caine erneut zu Forsythe. Die pochende Ader an seiner Schläfe machte deutlich, dass er allmählich die Geduld verlor.

Caine blieb keine andere Wahl.

«So funktioniert das nicht», sagte er schließlich.

«Was wollen Sie damit sagen?»

«Wenn Sie wollen, kann ich mit hoher Gewissheit vorhersagen, ob die Münze Kopf oder Zahl zeigen wird. Aber ich kann nicht einfach mit meinen geistigen Fähigkeiten etwas geschehen lassen. Ich muss irgendwie daran beteiligt sein, um das Ergebnis zu beeinflussen.» Caine öffnete die rechte Hand. «Geben Sie mir die Münze. Lassen Sie mich sie werfen.»

Forsythe sah misstrauisch auf Caines Handfläche.

«Nur so kann Ihr Experiment funktionieren», sagte Caine.

Nach einer Sekunde ließ Forsythe die Münze widerwillig in Caines gefesselte Hand fallen. Caine schloss die Augen. Zuerst sah er nur ein paar bunte Punkte, die auf der Oberfläche seiner geschlossenen Lider tanzten. Dann jedoch erschien ein anderes Bild, es lockte ihn zu sich.

Er ist immer da. Der riesige Baum wächst aus Caines Sein. Hinter ihm dreht und windet sich der massive, einzelne Stamm in die Ewigkeit zurück. Vor ihm beginnt eine unendliche Reihe von Ästen zu wachsen.

Das Bild ist in beständiger Bewegung. Manche Äste wachsen, während andere verkümmern und absterben. Unaufhörlich knospen neue Zweige; andere verschwinden, als hätten sie nie existiert. Die Nebenäste bilden selbst wieder Äste aus, und diese verzweigen sich weiter. Es gibt so viele Biegungen und Windungen und Kombinationen, dass die Äste sich nach mehreren Generationen völlig zu verknoten scheinen, eine Felswand bilden, den formlosen Abgrund des Danach.

Der kognitive Teil seines Gehirns möchte schreien, möchte sich von den Fesseln der Gesundheit losmachen und der Ewigkeit vor ihm entfliehen. Ein anderer Teil jedoch, so alt wie die Menschheit, fühlt sich an diesem Ort heimisch. Caine lässt diesen Teil die Führung übernehmen.

«Kopf, sagten Sie?», fragte Caine, die Augen nach wie vor geschlossen.

«Ja», bestätigte Forsythe.

Und dann sah Caine, wie er es geschehen lassen konnte.

In der Luft herrscht eine leichte Strömung, die von der Klimaanlage herrührt – sie ist kaum spürbar, aber Caine sieht jetzt, wie sie die Sauerstoff- und Stickstoffmoleküle bewegt. Das Geldstück ist eine 25-Cent-Münze, und die Kopfseite ist 0,00128 Gramm schwerer als die Zahlseite. Auch hat die Kopfseite einen breiteren Rand als die Zahlseite, und ihre Prägung ist weniger aerodynamisch. Aber diese Faktoren sind zu vernachlässigen im Vergleich zu der Kraft seiner Finger und dem Drehmoment, die zusammen 98,756 Prozent der Flugbahn der Münze ausmachen, wenngleich die Flugbahn wiederum nur zu 58,2451 Prozent dafür verantwortlich ist, ob am Ende Zahl oder Kopf herauskommt.

Um die Ergebnisbildung vollständig zu verstehen, analysiert Caine die Zusammensetzung der Münze (sie hat einen reinen Kupferkern; die Außenhülle besteht aus einer Kupfer-Nickel-Legierung mit 75-prozentigem Kupferanteil) und des Fußbodens (Linoleumfliesen, Kantenlänge dreißig cm). Diese beiden Faktoren machen 37,84322 Prozent des Wurfergebnisses aus. Weitere 0,55164 Prozent rühren von der Entfernung zu den magnetischen Polen her, 1,12588 Prozent von der Geschwindigkeit der Erdrotation und 2,23415 Prozent von der Sauberkeit des Fußbodens.

Die restlichen 0,00001 Prozent sind unerheblich – bei 100 000 Münzwürfen würde Caine nur einmal danebenliegen. Caine bezieht sämtliche Informationen in seine Überlegungen mit ein, sucht einen geeigneten Pfad und –

Caine schnippte mit dem Zeige- und Mittelfinger und warf die Münze in die Luft. Er öffnete die Augen und sah zu, wie sie durch die Luft taumelte, wie das Licht mit ihren beiden Seiten spielte. Hell, dunkel, Kopf, Zahl. Als sie auf dem Boden landete, gab es ein leises klack und dann ein tsching, tsching, tsching, brrrrrrrrrm, als sie hüpfte, hüpfte, hüpfte und rasselnd außerhalb seines Blickfelds zum Liegen kam.

Forsythe eilte dorthin. Als er sie aufhob, lächelte er.

«Die Chance stand fifty-fifty», sagte Caine ebenso zu sich selbst wie zu Forsythe. «Das beweist noch gar nichts.»

«Wohl wahr», bestätigte Forsythe aufgeregt. «Aber wenn noch weitere 49-Mal Kopf kommt, dann schon, denke ich. Bitte machen Sie weiter.»

Forsythe ließ das Geldstück erneut in Caines gefesselte Hand fallen. Wieder schloss Caine die Augen, aber diesmal brauchte er praktisch gar nicht mehr nach dem richtigen Ast zu suchen. Er streckte sich ihm förmlich entgegen. Wieder schnippte er mit den Fingern. Wieder flog die Münze durch die Luft und landete hüpfend auf dem Boden.

Wieder war es Kopf.

«Noch einmal.»

Fall. Schnipp. Glitzer. Land. Hüpf.

Und noch einmal schnipp. Wieder Kopf. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Kopf. Kopf. Kopf. Zwischen den Würfen nickte Caine ein, dämmerte weg, aber jedes Mal weckte Forsythe ihn mit einem kurzem Stromstoß. Auch wurde Caine mit einem Elektroschock bestraft, als er versuchte, im Immer nach Nava zu suchen. Nach seinem zweiten Versuch ließ er es bleiben; Forsythe hatte eindeutig nicht geblufft mit der Drohung, dass er mitbekomme, wenn Caine versuchte zu tricksen.

Schließlich waren sie fertig. Caine kam es vor, als wären Stunden vergangen. Er war benommen und schweißüberströmt, aber er zwang sich dazu, Forsythe anzusehen, nachdem er den fünfzigsten Kopf in ebenso vielen Versuchen geworfen hatte. Für kurze Zeit verschwand das Lächeln auf Forsythes Gesicht und wurde von einem anderen Gefühlsausdruck ersetzt. Der Mann wandte rasch den Kopf ab, um ihn zu verbergen, aber es war zu spät. Caine kannte diesen Ausdruck nur zu gut.

Es war Angst.

 

«Nicht zu fassen», hauchte Forsythe.

Tversky nickte. «Wissen Sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für fünfzig aufeinander folgende Kopfwürfe ist? Sie beträgt eins zu zwei hoch fünfzig. Das sind» – Tversky tippte die Formel in den Computer – «1125899906842620 zu eins. Und das unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln. Können Sie sich vorstellen, wozu er imstande wäre, wenn er klar denkt?»

Forsythe nickte nachdrücklich. Während der gesamten zweistündigen Sitzung war die Testperson des Betäubungsmittels wegen immer wieder eingeschlafen. Selbstverständlich taugte die Versuchsanordnung bei weitem nicht als Basismaterial für eine Forschungsarbeit – dazu würde Forsythe eine Art mechanischen Münzwerfer und eine Kontrollgruppe einsetzen müssen –, aber sie war gut genug, um ihn davon zu überzeugen, dass es sich bei der Testperson in der Tat um eine moderne Verkörperung des Laplace’schen Dämons handelte.

Die publikationsgerechte Aufarbeitung bereitete ihnen ohnehin keine Sorgen. Solange sie über Testperson Beta verfügen konnten, würde ihnen gar nichts mehr Sorgen bereiten. Und dank Tverskys Arbeit an dem Zwillingsbruder wussten sie nun auch, wie sich der Dämon wieder abschalten ließ.

«Haben Sie gemessen, wie lange er die Augen während der verschiedenen Versuche geschlossen hielt?», fragte Forsythe.

Tversky nickte. «Es ist genau, wie ich erwartet habe – zwischen der Zeitmenge, die benötigt wird, um ein unwahrscheinliches Ereignis herbeizuführen, und dem Grad der Unwahrscheinlichkeit dieses Ereignisses besteht ein lineares Verhältnis. Die Beeinflussung von Ereignissen mit höherer Wahrscheinlichkeit wie das Wurfergebnis einer Münze kostete fast keine Zeit, während die Beeinflussung von Ereignissen mit geringerer Wahrscheinlichkeit wie das Wurfergebnis eines Würfels längere Zeitabschnitte im REM-Zustand erforderte. James», sagte Tversky und riss Forsythe aus seinen Gedanken, «mit den geeigneten Mitteln könnte David Caine alles tun, was ihm in den Sinn kommt.» Tversky begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. «Er könnte mit seinem unbegrenzten Wissen über die Welt zu den unglaublichsten Entdeckungen beitragen. Mikrobiologie, Astrophysik, Mathematik, Onkologie – die Liste wäre endlos! David könnte uns dabei helfen, die größten Rätsel des Universums zu lösen.»

Aber Forsythe hatte weitreichendere Ambitionen. Der wissenschaftliche Fortschritt interessierte ihn herzlich wenig.

«Es gibt andere Möglichkeiten zur Nutzung seiner Fähigkeiten», überlegte Forsythe laut, um auszutesten, wie Tversky darauf reagierte.

«Und welche?»

«Wallstreet zum Beispiel. Politik. Militär.»

«Sind Sie verrückt?», fragte Tversky. «Wir müssen ihn für die Wissenschaft nutzen. Alles andere wäre zu gefährlich. Außerdem gibt es noch zu viele offene Fragen, die geklärt werden müssen, bevor es sich überhaupt lohnt, über seine Verwendung nachzudenken. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt.» Tversky setzte seine Wanderung durchs Zimmer fort. «Wir müssen einen Weg ersinnen, im Geheimen mit ihm zu arbeiten. Vielleicht einzelne Wissenschaftler hinzuziehen, und –»

«Moment», sagte Forsythe. Er wollte Tverskys Gedanken in eine andere Richtung lenken, bis er die Gelegenheit hatte, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Vorläufig brauchte er den Wissenschaftler noch, aber wenn er Glück hatte, nicht mehr lange.

Vielleicht ließe Tversky sich ja für den Mord an dieser Studentin verantwortlich machen. Ein Anruf bei der Polizei würde ihn nicht nur aus dem Labor entfernen, sondern ihn zugleich diskreditieren. Forsythe lächelte in sich hinein. Ja, das war die Lösung. Sobald er verstand, was in der Testperson vorging, würde er sich Tverskys für immer entledigen.

«Uns fehlt immer noch die geeignete Methode des sicheren Umgangs mit der Testperson», sagte Forsythe in dem Versuch, zu den praktischen Dingen zurückzukehren. «Ich bezweifle, dass wir ihm ewig damit drohen können, seinem Bruder etwas anzutun. Und sobald wir ihn zur Vorhersage oder Herbeiführung von Ereignissen mit größerer Unwahrscheinlichkeit auffordern, riskieren wir, dass er den perfekten Fluchtplan ausheckt.»

«Ja», pflichtete ihm Tversky bei. «Das stimmt. Wir können ihm auch nicht unbegrenzt so hohe Dosen Thorazin verabreichen. Über einen längeren Zeitraum hinweg ließe sich David vielleicht mit verhaltenstherapeutischen Mitteln von den Drogen entwöhnen, ohne dass wir die Kontrolle über seine Psyche verlieren.»

«Das halte ich für unwahrscheinlich», sagte Forsythe und schüttelte den Kopf. «Und selbst wenn, wir könnten nie ganz sicher sein. Wenn uns die Kontrolle entgleitet, und sei es nur für einen Augenblick, ist vielleicht alles vorbei.»

Beide Männer wandten ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spionspiegel zu, während jeder seinen Gedanken nachhing. Drüben lag die Testperson und starrte unfreiwillig die Wand an.

«Er ist viel zu gefährlich, ihn freizulassen», sagte Forsythe. «Ich denke, die Entscheidung liegt auf der Hand – wir müssen ihn permanent unter Neuroleptika stellen.»

«Aber das würde ihn komplett seines freien Willens berauben», erwiderte Tversky zornig.

«Geht es nicht genau darum?»

«Ja, aber ein solcher Zustand ist irreversibel.»

«Der Tod ebenfalls», entgegnete Forsythe kühl. «Und das scheint Ihnen bei den Versuchen an Testperson Alpha keine Probleme bereitet zu haben.»

Tversky errötete. «Das war ein Unfall … Ich … Soll das eine Drohung sein?»

«Warum?», fragte Forsythe. «Hätte ich einen Grund, Ihnen zu drohen?»

Tversky schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: «Ich glaube, wir sollten das Verfahren an dem Bruder erproben, bevor wir es bei David anwenden. Nur um sicherzugehen, dass es keine Nebenwirkungen gibt.»

Forsythe nickte. «Schön, dass wir einer Meinung sind.»

Beide schwiegen einen Moment lang. Eine beklemmende Stille machte sich breit. Schließlich brach Tversky das Schweigen. «Ich werde mich etwas hinlegen», sagte er verlegen. «Es war ein langer Tag, und morgen stehen zahlreiche Tests an.»

Forsythe musterte ihn argwöhnisch. Was hatte Tversky vor? Er überlegte, ihn gefangen zu setzen, entschied sich aber dagegen. Fürs Erste war der Zugang zu Testperson Beta mehr als genug, um Tversky bei der Stange zu halten.

«Dann gute Nacht», sagte Forsythe. «Ich bleibe noch ein wenig und bereite den Zwilling vor.»

Einen Moment lang glaubte Forsythe schon, Tversky würde protestieren, aber dann schien er seine Meinung zu ändern. «Gute Nacht, James. Ich finde allein hinaus.»

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, berechnete Forsythe die exakte Dosierung für eine dauerhafte Neurolepsie des Zwillings. So schwierig Tversky auch war, in diesem Punkt hatte er Recht: Am besten erprobte man das Verfahren erst einmal an dem Bruder, nur für den Fall, dass etwas schief ging.

Forsythe drückte ein paar Tasten an seinem Terminal und klickte «Ausführen», als der Computer ihn fragte, ob er dem Zwilling die gewählten Medikamente ganz sicher verabreichen wollte. Während die Drogen durch die Infusionskanüle in den Arm des Zwillings strömten, ließ sich auf dem Bildschirm bereits beobachten, wie dessen Augen glasig wurden, wie sein Blick sich leerte. In weniger als drei Stunden würde es keinen Jasper Caine mehr geben, nur noch eine leibliche Hülle, die um einiges zugänglicher und respektvoller sein würde. Und die über keinen freien Willen mehr verfügte.

Forsythe wandte seine Aufmerksamkeit von dem Zwilling ab und fügte dem aktuellen Medikamentenmix von Testperson Beta ein Narkotikum hinzu. Es war nicht sinnvoll, gewalttätige Aktionen zu riskieren. Als er fertig war, seufzte Forsythe. Ohne Drogen wären die Experimente so viel eindeutiger. Er war jedoch zuversichtlich, dass die Zwillinge auch in diesem Zustand noch genug Leistung bringen würden. Und wenn nicht, dann sollte sein Team in der Lage sein, ein Pharmazeutikum zu entwickeln, mit dem sich die Hirnchemie der Zwillinge replizieren ließ; ähnlich, wie es Tversky bei Testperson Alpha gelungen war.

Dann waren die Zwillinge ohnehin entbehrlich.

 

Der Lieferwagen setzte Nava 150 Meter von dem Gebäude entfernt ab. Es sah genauso aus wie die anderen sechsstöckigen Betonklötze in dieser Straße, aber Nava wusste, dass die nichtssagende Fassade zur Tarnung gehörte. Sie zog den Schirm ihrer Basecap tiefer ins Gesicht, nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und trat sie mit dem Stiefel aus.

Als sie den am Straßenrand geparkten schwarzen Geländewagen erreichte, bückte sie sich und schaute hinter das rechte Vorderrad. Ihr Material lag dort, wie versprochen. Sie steckte den Ausweis ein, streifte das Armband über und ging zum Eingang.

Sie holte tief Luft und schob sich durch die schwere Drehtür. Die Eingangshalle war vollständig mit Marmorimitat ausgelegt. Ihre Schritte hallten, als sie zum Empfangstresen ging. Der übergewichtige Wachmann legte langsam sein People-Heft beiseite, als er sie kommen sah. Nach einem kurzen Blick auf ihren gefälschten Betriebsausweis verbrachte er ganze fünf Sekunden damit, ihre Reisetasche zu kontrollieren.

Wie erwartet, durchsuchte er nur das Fach, dessen Reißverschluss Nava für ihn öffnete. Das größere Fach, das eine Betäubungspistole, zwei halbautomatische Pistolen vom Typ Glock 9mm, dreihundert Schuss Munition, eine Dose Freon und genug Plastiksprengstoff enthielt, um das Gebäude dem Erdboden gleichzumachen, ignorierte er. Zufrieden, dass sie keine Terroristin war, forderte er sie auf, sich einzutragen, und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.

Mit einem kurzen Lächeln und einem Dankeschön ging Nava energisch zu den Fahrstühlen. Genau in dem Moment, als sie den Knopf drückte, gingen die Türen auf. Sie wollte gerade eintreten, da bemerkte sie, dass schon jemand in der Kabine stand. Er war so in Gedanken, dass er an Nava vorbeihuschte, ohne auch nur aufzusehen. Er hatte ihr Gesicht unter dem Schirm der Basecap nicht sehen können, aber Nava hatte ihn erkannt.

Es war Doc.

Einen Moment lang stellte sie sich vor, ihm mit ihrem Dolch die Kehle aufzuschlitzen und ihn in der Eingangshalle verbluten zu lassen. Sie wollte ihn für das töten, was er David angetan hatte. Für das, was er Julia angetan hatte. Aber Nava wusste, wenn sie dieser Verlockung nachgab, würde der Wachmann den Alarm auslösen, und dann würde sie David nicht retten können.

Und so sah Nava trotz ihrer brüllenden Wut zu, wie Doc an ihr vorbeiging, und sagte kein Wort. Mit mahlenden Kiefern fuhr sie zum fünften Stockwerk hinauf und versuchte, Doc aus ihren Gedanken zu verbannen. Für Rache war später noch Zeit. Als die Türen aufgingen, setzte sie ihre Mission fort.

Sie trat in einen kleinen Vorraum, der zu zwei gläsernen Doppeltüren führte. Sie öffnete den Rucksack und holte ein elektromagnetisches Gerät von der Größe eines Kartenspiels heraus. Sie hielt es vor den magnetischen Schalter an der Wand und wartete, bis es alle möglichen Frequenzen durchlaufen hatte und ein leises Klicken zu hören war, als die elektronischen Sperrriegel gelöst wurden. Der gesamte Vorgang dauerte keine fünf Sekunden.

Sie trat durch die Türen in eine luxuriöse Lobby. Zwei identische schwarze Ledersofas standen einander gegenüber, dazwischen lag ein kunstvoll verzierter Orientteppich. Das Panoramafenster dahinter zeigte die funkelnden Lichter einer beinahe schlafenden Stadt. Während Nava durch das Fenster starrte, wünschte sie sich, ihr Leben wäre anders verlaufen. Sie gestattete sich wenige Sekunden der Träumerei, dann kehrte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Ihren Lebensweg hatte sie selbst eingeschlagen, niemand anders. Und nun wartete Arbeit auf sie.

Nava riss den Blick vom Fenster los und marschierte entschlossen den Flur hinunter, folgte dem Grundriss, den sie im Lieferwagen auswendig gelernt hatte. Sie knackte ein weiteres elektromagnetisches Schloss und stand vor der zweiten Reihe Fahrstühle. Sie holte tief Luft und setzte ihr Pokerface auf. Sobald sie den Fahrstuhl gerufen hatte, gab es kein Zurück mehr. Von dem Moment an, in dem sie den Knopf drückte, würde sie unter ständiger Überwachung stehen.

Wenn ihre Unterlagen korrekt waren, sollte ihr nichts passieren. Aber wenn sie falsch waren … dann saß sie tief in der Scheiße. Vielleicht gingen die Türen auf, und ein waffenstarrendes Wachteam stand vor ihr. Oder der Fahrstuhl wurde mit Nervengas geflutet. Oder sie fuhr sicher bis zum Labor hinunter, nur um dort von deutschen Schäferhunden zerfleischt zu werden. Sie wusste es nicht. Woher auch?

Sie holte Waffen und Munition aus der Reisetasche und verstaute sie in einem sehr flachen Rucksack. Dann holte sie ein kleines, in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen hervor. Dann die Betäubungspistole und eine ihrer 9mm-Pistolen. Sie vergewisserte sich, dass sie entsichert waren. Waren sie. Sie waren immer entsichert.

Schließlich betastete sie das kleine Fach an ihrem Armband: ihre Geheimwaffe. Sie hoffte, dass sie sie nicht brauchen würde; sie hing nicht gern von anderen ab, wenn es um ihr Leben ging. Sie beschoss, sie nur einzusetzen, wenn sie in Lebensgefahr schwebte. Wenn das Ding dann nicht funktionierte, würde sie nur sich allein etwas vorzuwerfen haben. Aus irgendeinem Grund fühlte Nava sich bei diesem Gedanken besser.

Sie drückte den kleinen Fahrstuhlknopf an der Wand und wartete ab, was als Nächstes passieren würde.

 

Einen Moment lang begriff Caine, was an Drogenmissbrauch so reizvoll war.

Dann war er dermaßen high, dass ihm selbst diese Überlegung unwichtig vorkam. Die kühle, durch seine Adern fließende Salzlösung war durch etwas anderes ersetzt worden. Etwas Aufregendes. Er hätte nie gedacht, dass man das Rauschen seines eigenen Blutes spüren konnte, aber ihm war ja bisher auch noch nie intravenös ein Narkotikum verabreicht worden.

Die eiskalte Flüssigkeit raste seinen Arm hinauf, bahnte sich einen Weg zu seinem Gehirn. Caines Körper trieb in einem Meer der Beliebigkeit: sein Arm, seine Schulter, sein Hals wow. Nichts war mehr wichtig. Alles war gut. Sein Knie pochte nicht mehr, die Rückenschmerzen waren wie weggeblasen, sein steifer Nacken war nicht mal mehr eine blasse Erinnerung. Sein Kopf fühlte sich irgendwie … teigig an … aber gut. Verdammt gut.

Caines Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er begann zu kichern, wodurch seine Augenlider an den Zangen zogen, aber das war nicht weiter schlimm. Bis eben hätte das ein Brennen ausgelöst, jetzt war es nur noch ein angenehmes Kitzeln. Alles kitzelte, alles prickelte. Eine Woge der Euphorie überkam ihn, und er seufzte. Nichts war wirklich wichtig, das war ihm jetzt klar. Er wusste gar nicht, warum er sich immer so viele Sorgen gemacht hatte.

Auf einmal war er sehr müde. Er wollte die Augen schließen und schlafen, aber er konnte nicht, weil … na ja, eben weil … er wusste es nicht mehr. War ja auch egal, dann schlief er eben mit offenen Augen. Wäre doch mal cool, mit offenen Augen zu schlafen.

Richtig … cool