Kapitel // 14 //

Als sie an den langsamen Atemzügen hörte, dass sie schliefen, nahm Nava den Kopfhörer ab, baute das Richtmikrofon ab und überdachte währenddessen ihre nächsten Schachzüge. Sie konnte warten, bis die beiden Männer die Wohnung verließen, aber bis Sonnenaufgang waren es noch vier Stunden.

Sie erwog, ein Nickerchen zu machen und die Überwachung bei Tagesanbruch fortzusetzen, aber etwas ließ ihr keine Ruhe. Sie hatte so eine Ahnung, dass die Identität von Caines Freund wichtig war. Statt nach Hause ging sie also noch ein letztes Mal ins STR-Labor.

An ihrem Arbeitsplatz angelangt, lud sie die Digitalfotos von Caines seltsamem Besucher auf ihren Rechner. Es waren insgesamt neun, jeweils aus unterschiedlichem Blickwinkel, da sich der Mann hin und her bewegt hatte, als Nava die Bilder geschossen hatte. Sie zoomte sich auf jedem der Fotos an sein Gesicht heran, aber die Bilder waren dunkel, unscharf und verzerrt.

Sie drückte ein paar Tasten, und die Gesichtserkennungssoftware begann ihr Zauberwerk; die neun einzelnen Fotos verschmolzen zu dem dreidimensionalen Abbild eines Männergesichts. Langsam nahmen die Nase Gestalt an, die Augen und der Knochenbau. Ein Auge war zugeschwollen, und das Gesicht war blutig. Nava tippte einige Tastenkombinationen, und das Blut verschwand und wurde durch rosige Haut ersetzt, die dem restlichen Gesicht entsprach. Allmählich kam er Nava bekannt vor.

Sie löschte das zugeschwollene linke Auge und ersetzte es durch ein Spiegelbild des rechten Auges. Dann schrumpfte sie die offensichtlich geschwollene Nase. Als sie damit fertig war, richtete sie das Gesicht so aus, dass es sie direkt ansah. Erst glaubte sie, etwas falsch gemacht zu haben – doch eine schnelle Überprüfung ergab, dass dem nicht so war. Der Mann dort in der Tür war ein Doppelgänger von David Caine.

Dann kam ihr eine Idee. Sie rief Caines Akte auf, und mit einem Mal war alles klar: ein Zwillingsbruder. Nava überlegte krampfhaft, wie sie diese unerwartete Information für sich nutzen konnte. Sie bezweifelte, dass Grimes die Akte so genau gelesen hatte, dass er wusste, dass Caine einen Zwillingsbruder hatte. Lag sie damit falsch, würde ihre List schnell auffliegen. Hatte sie aber Recht damit 

Sie musste sich entscheiden: warten und womöglich die Initiative aus der Hand geben oder zuschlagen und damit Enttarnung riskieren. In solchen Situationen hatte sie sich stets auf ihren Instinkt verlassen. Wie sie es sah, konnten sämtliche Optionen nach hinten losgehen; es kam darauf an, die Risiken zu analysieren und zu minimieren. Ganz ausschließen ließen sie sich nicht.

Nava beschloss, dass sie handeln musste.

Sie war zwar nicht befugt, die Stammdatei der NSA zu bearbeiten, wusste aber, wie sie es dennoch hinbekommen konnte. Einige Monate zuvor hatte sie einen Systemadministrator der Sozialversicherung durch Bestechung dazu gebracht, ihr ein Benutzerkonto und Kennwort einzurichten, damit sie Decknamen erzeugen konnte. Dieses illegal erworbene Kennwort hatte sie zwar seit fast sechs Wochen nicht mehr verwendet, aber eigentlich musste es immer noch gültig sein.

Sie griff auf die Datenbank der Sozialversicherung zu und drückte auf «Enter». Der Bildschirm wurde schwarz. Einen Moment lang glaubte Nava, das System sei gesäubert und ihr Kennwort gelöscht worden. Sie stellte sich vor, wie ein lautloser Alarm ausgelöst wurde, Sicherheitstüren ins Schloss fielen und bewaffnete Männer angerannt kamen. Doch stattdessen empfing sie ein Menü.

Sie drückte F10, um die Stammdatei der Sozialversicherung zu bearbeiten. Es dauerte nur fünf Minuten. Anschließend kehrte sie zur NSA-Datenbank zurück, wählte Caines Datei aus und befahl dem Server, seine Daten zu aktualisieren. Auf dem Bildschirm erschien die Meldung «Vorgang wird bearbeitet», und der Server griff auf die Quelldatenbanken zu, aus denen sich seine Dateien speisten. Eine halbe Minute später erschien ein neues Fenster.

Bis auf ein Feld waren alle Daten unverändert. Sie hatte es geschafft. Wenn Grimes auf eine Backup-Fassung zugriff, konnte er sehen, was sie getan hatte, aber das spielte keine Rolle. Wenn es so weit kam, hatte sie bereits den Vorsprung, den sie brauchte. Sie verließ das Büro und ging zum zweiten Mal in dieser Nacht zu David Caines Wohnung.

Sie wusste, dass es so oder so das letzte Mal sein würde.

 

James Forsythe war außer sich vor Wut.

Er tobte. Er machte nur deshalb nicht an Ort und Stelle kurzen Prozess mit Grimes, weil er ihn noch brauchte. Forsythe zwang sich, die Augen zu schließen, bis er seine Gefühle wieder im Zaum hatte. Er konzentrierte sich auf seine Atmung. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

«Alles in Ordnung mit Ihnen, Dr. Jimmy?», fragte Grimes und zupfte sich unwillkürlich am Ohr.

«Dr. Forsythe. FOR-SYTHE», sagte Forsythe mit zusammengebissenen Zähnen und schlug die Augen auf.

«Sie wissen doch, dass ich das nur im Scherz sage.» Grimes lächelte. «Schaun Sie, es tut mir Leid, dass ich Sie heute Nacht nicht geweckt habe, aber ich wusste ja nicht …»

«Sie wussten nicht, dass ich Bescheid bekommen will, wenn der Wissenschaftler, den wir beobachten, verschwindet

«Streng genommen ist er nicht verschwunden – sie konnten ihn bloß noch nicht finden, seit sie angefangen haben, ihn zu suchen.»

«Aber sie haben vor drei Stunden angefangen, ihn zu suchen. Und das während Ihrer Wache

Grimes scharrte mit den Füßen. «Schaun Sie, ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll. Was passiert ist, ist passiert.»

Forsythe wollte gerade etwas erwidern, da wurde ihm klar, dass der Idiot Recht hatte. Seine Rache an Grimes konnte er sich für später aufheben.

«Also gut», sagte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen. Von Anfang an.»

Grimes aktivierte seinen PDA und begann vorzulesen. «Laut Polizeibericht starb die Studentin Julia Pearlman zwischen elf und zwölf Uhr heute Nacht. Sie fiel offenbar aus einem Fenster im sechsten Stock. Gegen zwei Uhr fand sie ein Obdachloser nackt in einem Müllbehälter. Die Rechtsmedizin hat die Todesursache noch nicht endgültig festgestellt, vorläufig spricht man von Genickbruch. Die Sache wird bisher als Selbstmord eingeschätzt. Ein Mord ist aber noch nicht ausgeschlossen worden.»

«Und sie glauben, Tversky könnte in die Geschichte verwickelt sein?»

Grimes nickte. «Die Polizei will ihn sprechen, da die Frau aus Tverskys Labor gesprungen ist, und Studenten haben erzählt, Tversky und die Frau hätten oft bis spätnachts zusammen gearbeitet.»

Forsythe schnappte nach Luft. Mit einem Mal war ihm alles klar. «Sie war Testperson Alpha.»

«Ja, sieht so aus. Ich habe Daten von seinem Rechner bekommen, als er versuchte, die Festplatte zu löschen. Direkt vor ihrem Tod hat er ein neues chemisches Präparat an ihr ausprobiert. Offenbar hat er es anhand eines Mannes entwickelt, den er gestern in seinem Labor untersucht hat und der ähnliche … äh, Fähigkeiten hat. Er bezeichnet ihn als Testperson Beta.»

«O Gott», sagte Forsythe, «noch ein Unbekannter.»

«Nein, wir haben das rausgekriegt. Er heißt David Caine.»

Forsythe hob den Kopf. «Wie haben Sie das rausgefunden?»

Grimes lächelte. «Als ich sah, dass bei Tversky so viele neue Testergebnisse reinkamen, habe ich die Kennnummer mit der Buchhaltung abgeglichen. Am gleichen Tag hat er unter dieser Kennnummer einen Scheck für David T. Caine ausgestellt.»

«Warten Sie mal – Sie sagten: ‹Wir haben das rausgekriegt.› Wer ist denn wir

Grimes’ Lächeln schwand, er runzelte die Stirn. «Agent Vaner, auch wenn sie mir nicht gesagt hat, wie sie da rangekommen ist. Irgend so ein Spionagetrick vermutlich.»

«Wo ist sie jetzt?»

«Als ich zuletzt Kontakt mit ihr hatte, hatte sie sich vor seiner Wohnung postiert.»

Forsythe war froh, wenigstens eine gute Nachricht zu hören. «Also gut. Sie soll Caine beschatten, und Sie finden währenddessen Tversky.»

«Aye, aye, Käpt’n Jimmy.» Grimes knallte die Hacken zusammen, machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.

Froh, wieder allein zu sein, widmete sich Forsythe Tverskys letzten Labornotizen. Sie waren zwar unvollständig, aber dennoch faszinierend. Es gab nur anekdotenhafte Anhaltspunkte für Caines Fähigkeiten, aber die chemische Analyse schien seine Theorie zu bestätigen. Und so etwas wie Pearlmans EEG-Werte hatte Forsythe noch nie gesehen. Keine Minute nachdem ihr das Präparat injiziert worden war, hatten sämtliche Hirnstromwellen der Testperson Alpha in vollkommenem Gleichklang ausgeschlagen. Zwar war das Mädchen bei Tverskys Experiment umgekommen, aber die wissenschaftlichen Implikationen der Studie waren revolutionär.

Das weitere Vorankommen war zwar einfacher, wenn Tversky für ihn arbeitete, aber unbedingt nötig war das nicht. Was er wirklich brauchte, waren weitere Untersuchungen an David Caine. Wenn Tversky jedoch Recht hatte mit seinen Theorien, dann war Caine ein äußerst gefährlicher Mann. Forsythe sah in seinem Rolodex nach, griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. Nachdem er fast fünf Minuten lang warten musste, bekam er den Mann an den Apparat, den er brauchte.

«Guten Morgen, General», sagte Forsythe und setzte sich auf seinem Stuhl aufrecht hin. «Ich muss Sie um einen Gefallen bitten …»

 

Als Caine über die Straße ging, vorsichtig zwei Becher Kaffee und eine Tüte Bagels balancierend, hatte er das Gefühl, dass gleich etwas geschehen würde. Caine beachtete es nicht und versuchte sich stattdessen auf die Musik zu konzentrieren, die aus seinem Kopfhörer drang. Wenn er Stress hatte, spendete ihm sein Walkman Trost. Er hörte kurz bei einigen Sendern mit ausgefallener Musik rein und blieb dann doch bei Classic-Rock hängen, erwischte gerade noch den Schluss von «Comfortably Numb», ehe Jefferson Airplane anfingen, von Alices Sortiment an Pharmazeutika zu singen.

Dann begann der Gestank, seinen Geist zu erfüllen.

O nein.

Er blieb abrupt stehen, und ein großer Mann, der gerade mit einem Handy telefonierte, lief auf ihn auf. Caine strauchelte nach vorn, ließ einen Kaffee fallen und rammte eine übergewichtige Schwarze in einem blauen Kleid, die zwei prall gefüllte, große Einkaufstüten trug. Die Frau wich noch nach links aus, verlor aber das Gleichgewicht, und die Tüten fielen zu Boden. Orangen und Äpfel kullerten über den Gehsteig.

Das Obst stiftete weiteres Chaos. Ein kahlköpfiger Mann in engem weißem Shirt kippte seinen Frappuccino einer älteren Dame auf die knallgelbe Bluse. Eine Asiatin in purpurrotem Rock fiel hin und brach sich zwei Fingernägel ab. Ein stämmiger Bauarbeiter ließ seine Werkzeugkiste einem schick gekleideten Geschäftsmann auf den Fuß fallen, brach ihm dabei den großen Zeh und ruinierte seine Halbschuhe von Gucci.

Im Handumdrehen hatte Caine den Tagesverlauf dieser Menschen geändert. Der Kahlkopf würde sich einen neuen Frappuccino bestellen. Die ältere Frau musste nach Hause und sich umziehen. Die Asiatin musste zur Maniküre. Der Arbeiter musste einen Anwalt engagieren, um sich gegen die Klage des Geschäftsmanns zu verteidigen, dem wiederum ein Meeting durch die Lappen ging, während er in der Notaufnahme darauf wartete, dass sich jemand seines Zehs annahm.

Jede dieser Veränderungen würde weitere Veränderungen nach sich ziehen. Caine sah sie alle vor sich ausgebreitet, so wie sich bei einem Stein, den man in einen See wirft, kreisförmige Wellen bilden. Er wusste nicht genau, was es war, aber irgendetwas stimmte nicht. Dann wurde es ihm klar: Normalerweise wäre nichts davon passiert.

Der Glatzkopf wäre in ein Fitnessstudio gegangen, hätte dort einen Mann kennen gelernt, der sein Freund und später sein Lover geworden wäre. Der Bauarbeiter hätte noch einen Sohn bekommen, doch der Stress wegen der Klage des Geschäftsmanns führte dazu, dass er von seiner Frau geschieden wurde. Der Geschäftsmann wäre eigentlich zwei Monate später gestorben, doch sein Arzt entdeckte bei diesem Krankenhausbesuch ein Herzgeräusch bei ihm, was zu einem präventiven Eingriff führte, der ihn vor einem tödlichen Herzinfarkt bewahrte. Die ältere Frau wäre eigentlich auf dem Weg zur U-Bahn gestürzt und hätte sich die Hüfte gebrochen, doch nun blieb sie gesund. Die Asiatin hätte eigentlich an einem Geschäftsessen teilgenommen, das zu einer Beförderung geführt hätte.

Diese Bilder gingen Caine in Sekundenschnelle durch den Sinn, dann waren sie wieder fort. Er fühlte sich, als würde sein Herz gleich platzen. Schweiß brach ihm aus. Ihm wurde bewusst, dass er die Augen geschlossen hatte, also öffnete er sie schnell wieder und versuchte, die Fäuste zu öffnen. Tief durchatmen, einfach nur tief durchatmen und zu verstehen versuchen, was da gerade geschehen war. War das Eingebung? Vorausschau? Nein, nein. Es war nur ein verrückter Wachtraum, eine bizarre Wiederholung des Spiels, das er mit Jasper oft gespielt hatte, als sie noch kleine Jungen waren. Sie hatten sich auf gut Glück irgendwelche Leute ausgesucht und dann vorausgesagt, was ihnen im Laufe dieses Tages passieren würde.

Tief durchatmen, tief durchatmen. Ja, das war es. Nur ein Tagtraum. Er verblasste bereits. Caine drehte sich um, gerade als der Geschäftsmann anfing, den Bauarbeiter anzuschreien – und dann war da nur noch Schwärze. Kalte Schwärze.

Ein Pochen. Es fühlte sich an, als würde sich sein Kopf bei jedem Herzschlag dehnen und wieder zusammenziehen. Er schlug die Augen auf. Er lag auf dem Rücken ausgestreckt und sah zu einem Kreis von Gesichtern hoch.

«Ich glaube, er kommt zu sich», sagte eine pummelige Blondine.

«Alles klar mit dir, Mann?», wollte ein dunkles Gesicht wissen.

Caine wollte aufstehen, aber zwei kräftige Hände hielten ihn zurück, schoben ihn wieder auf den Gehsteig.

«Lassen Sie ihn nicht aufstehen. Vielleicht hat er sich das Rückgrat gebrochen», befahl ein Mann weiter hinten in der Menge.

«Ganz ruhig, Mann.» Es war das dunkle Gesicht, das zu den Armen zu gehören schien, die ihn am Boden hielten. «Der Krankenwagen ist schon unterwegs.»

Caine schloss wieder die Augen. Angesichts der ganzen redenden Gesichter wurde ihm übel. Die Schwärze war angenehmer, und so zog er sich wieder in diese vertraute Höhle zurück.

Go ask Alice. When she’s ten feet tall.

 

«Und?», ertönte Forsythes Stimme im Ohrhörer.

«Wir werten die Daten noch aus, aber wie’s aussieht, ist er einfach so mitten auf dem Gehweg zusammengebrochen», antwortete Grimes, den Blick auf die Monitore vor sich gerichtet. Auf dem unten rechts lief der Zwischenfall in einer Endlosschleife immer wieder ab. Grimes hatte es sich schon zehnmal angesehen, war aber immer noch ganz hingerissen.

«Erzählen Sie mir, was genau passiert ist.»

«Die Zielperson blieb kurz stehen, einer lief auf ihn auf, woraufhin die Zielperson eine fette Tante rammte, und die ließ eine Tüte Obst fallen, das überall rumgekullert ist. Ein paar Leute sind darüber gestolpert, und dann hat sich die Zielperson umgesehen, sich an den Kopf gefasst und ist einfach so zusammengebrochen.»

«Ist er verletzt?»

«Nein, aber er hat wahrscheinlich mordsmäßige Kopfschmerzen. Jemand hat einen Krankenwagen gerufen, aber die Zielperson wollte nicht mitfahren. Ich hab ihren Funk abgehört, und der Rettungssanitäter meinte, er sei in Ordnung, allenfalls ’ne ganz leichte Gehirnerschütterung.»

«Schaun Sie sich das Video noch ein paar Mal an, und sagen Sie mir Bescheid, falls Ihnen sonst noch irgendwas auffällt. Und bleiben Sie währenddessen an ihm dran.»

«Roger. Roger.» Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug war einer von Grimes’ Lieblingsfilmen, und er zitierte gern daraus, vor allem, wenn er sich über Dr. Jimmy lustig machte. Grimes merkte, dass er ihn geärgert hatte, denn Dr. Jimmy sagte zehn Sekunden lang nichts darauf. Grimes hätte gewettet, wenn er den Anruf noch einmal abspielte, dabei die Lautstärke aufdrehte und Hintergrundgeräusche herausfilterte, würde er hören können, wie der gute Onkel Doktor leise vor sich hin fluchte. Das musste er auf jeden Fall später mal ausprobieren.

«Und wo ist er jetzt?»

«Er geht nach Hause. Wir folgen ihm mit dem Lieferwagen, und Vaner ist vor Ort. Ich lasse ihn auch von Satelliten aus beobachten, und wir haben ein Richtmikro auf seine Wohnung gerichtet. Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Jimmy, wir haben das absolut im Griff.»

«Teilen Sie Vaner mit, dass ein Einsatzkommando unterwegs ist, um bei dem Zugriff zu helfen.»

Grimes stieß einen leisen Pfiff aus. Ein Einsatzkommando? Na, das würde ja ein Spektakel geben.

 

Caine warf seinem Bruder einen in Alufolie eingewickelten Bagel zu und legte die New York Post auf den Couchtisch. «Zwiebel mit Frischkäse, leicht getoastet.»

«Was denn – kein Kaffee?», fragte Jasper.

Caine überlegte zu sagen: Ich hatte wieder eine Vision, bin zusammengebrochen und habe deinen Kaffee leider auf den Gehweg gekippt. Doch stattdessen sagte er: «Tschuldige, hab ich vergessen.»

«Macht nichts», murmelte Jasper, bereits den Bagel mampfend. Er kaute nachdenklich, schluckte dann. «Und? Hat dir der Sandmann irgendwelche Lösungen gebracht?»

«Leider nein. Er hat mich nur einen Tag dem Moment näher gebracht, an dem ich Nikolaev zweitausend Dollar zahlen muss, die ich nicht habe.»

«Wirklich schade, dass du nicht der hier bist», sagte Jasper und hob die Zeitung auf.

Auf der ersten Seite stand in großer Blockschrift: POWERBALL-MILLIONÄR!!!, und darunter hielt ein Mann einen riesigen Scheck über 247,3 Millionen Dollar. Caine las normalerweise die New York Times, doch als er diese Schlagzeile gesehen hatte, hatte er nicht widerstehen können und die Post gekauft.

«Ach du dickes Ei … das ist Tommy DaSouza», sagte Jasper und hielt das Bild hoch, sodass Caine es sehen konnte. Weißt du noch? Aus unserer Nachbarschaft?»

«Wow, ich hab ihn gar nicht erkannt», sagte Caine und starrte das Foto an. Tommy hatte mindestens dreißig Pfund zugenommen, seit er ihn zuletzt gesehen hatte. «Bist du sicher, dass er es ist?»

Jasper schlug den Artikel auf und nickte. «‹Thomas DaSouza, 28, wohnt immer noch in Park Slope, nur fünf Blocks von dem Haus entfernt, in dem er aufgewachsen ist.›»

«Das ist toll für ihn, hilft mir aber nicht.»

«Was redest du denn da? Der hat dich früher verehrt. Der ist ein Jahr lang auf dem Spielplatz immer hinter uns hergelaufen, nachdem du ihn damals gerettet hast.»

Caine zuckte die Achseln und erinnerte sich daran, wie er eines Tages dazwischengegangen war, als ein besonders fieser Rabauke es auf Tommy abgesehen hatte. «Das ist lange her, Jasper.»

«Ja, aber du warst für Tommy immer ein guter Freund. Wenn du ihm nicht Nachhilfe in Mathe gegeben hättest, hätte er wahrscheinlich nicht mal die Highschool fertig gekriegt.»

Die Highschool. Damals hatte Caine es gar nicht erwarten können, seinen Abschluss zu machen. Jetzt würde er alles darum geben, wenn er in dieses einfachere Leben zurückkehren könnte. Tommy und er hatten damals viel Spaß miteinander gehabt. Doch nach dem Abschluss hatten sie sich auseinander gelebt. Tommy hatte sich einen Job gesucht, und Caine war aufs College gegangen. Nach ein paar Jahren stellte er fest, dass ihn mit seinem alten Freund nicht mehr viel verband.

«Ich habe seit fast fünf Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen.»

Jasper nahm das schnurlose Telefon vom Tisch und hielt es seinem Bruder hin. «Dann würde ich mal sagen, ist es jetzt Zeit, eure Freundschaft zu erneuern.»

«Was erwartest du von mir? Soll ich ihn anrufen und sagen: ‹Hallo, Tommy, Glückwunsch zum Lottogewinn, könntest du mir zwölf Riesen leihen?› Das kommt nicht in Frage.» Er warf Jasper das Telefon wieder hin.

«Okay», sagte Jasper. Er wählte die Nummer der Auskunft. «Brooklyn. Tommy DaSouza.» Er notierte die Nummer auf einem Zettel und schob ihn gemeinsam mit dem Telefon über den Couchtisch seinem Bruder hin. Caine guckte, als hätte ihm Jasper eine tote Ratte vorgelegt.

«Wenn du es nicht machst», sagte Jasper, «mache ich es. Fragen kostet nichts. Der Typ hat gerade mehr Geld gewonnen, als er jemals wird ausgeben können, und du wirst umgebracht, wenn du läppische zwölftausend Dollar nicht zahlst. Wenn er Nein sagt, bist du nicht schlimmer dran als zuvor. Wenn er Ja sagt, bist du aus dem Schneider. Du kannst nichts dabei verlieren.»

«Und was ist mit meinem Stolz?», fragte Caine.

«Um deinen Stolz mach dir mal Sorgen, nachdem du deine Schulden bei der Russenmafia bezahlt hast», erwiderte Jasper. «Jetzt ruf schon an, verdammt nochmal-Tal-Saal-kahl

Caine bekam bei Jaspers Gereime ein flaues Gefühl im Magen, aber er wusste, dass sein Bruder Recht hatte. Zögernd griff Caine zum Telefon und wählte die Nummer. Ein Mann mit ungeduldig klingender Stimme nahm beim ersten Läuten ab. «Ja?»

«Tommy DaSouza?», fragte Caine.

«Hören Sie, was auch immer Sie zu verkaufen haben, ich will es nicht, klar? Ich stehe ja offensichtlich im Telefonbuch, also schicken Sie mir einfach Ihren Katalog, und wenn ich interessiert bin, rufe ich Sie an. Ciao.»

«Warte, ich will dir nichts verkaufen!», sagte Caine, mit einem Mal eifrig, da ihm klar wurde, dass es womöglich tatsächlich seine einzige Chance war. «Äh, ich bin’s, David. David Caine.»

Kurz herrschte Schweigen, und Caine dachte schon, Tommy würde gleich auflegen. Dann: «Mensch, Dave! Wie geht’s dir denn, altes Haus?»

«Witzig, dass du fragst», antwortete Caine, hob, zu seinem Bruder gewandt, die Augenbrauen und wechselte das Telefon vom einen Ohr ans andere. «Das ist es gewissermaßen, warum ich anrufe …»

 

«Hast du das Geld?»

Tversky wäre fast zusammengezuckt. Er drehte sich um, aber der einzige andere Mensch in dieser Gasse war ein magerer kleiner Junge. Er war höchstens zwölf, auch wenn die zur Seite gedrehte Yankees-Kappe ihn sogar noch jünger aussehen ließ.

«Hast du das Geld oder nicht?»

«Du bist Boz?», fragte Tversky verblüfft.

Der Junge lachte. «Soll das ’n Scherz sein? Boz trifft sich doch nicht mit irgendeinem Spinner, von dem er noch nie gehört hat. Ich bin Trike.»

«Mir wurde gesagt, dass ich mich mit Boz treffe.»

«Ach ja? Na und? Das Treffen ist abgesagt. Jetzt triffst du dich mit mir.» Die Hände des Jungen verschwanden in seinen übergroßen Taschen. «Zeig das Geld her, oder ich mach die Biege.»

Tversky zog einen weißen Umschlag aus seiner Manteltasche, bemühte sich, die zitternden Hände ruhig zu halten. Trike versuchte, ihm das Geld zu entreißen, aber Tversky hielt es außerhalb seiner Reichweite. «Lass erst mal sehen.»

Trike lächelte zu ihm hoch, zeigte zwei Goldzähne. «Also gut, Opa», sagte er und zog eine braune Papiertüte aus der Tasche. Tversky schaute sich um, ob jemand zusah, aber die Gasse war menschenleer. Er nahm die Tüte entgegen, erstaunt, wie schwer sie war.

«Und jetzt her mit der Knete.»

Tversky gab Trike den Umschlag. Der Junge leckte sich einen Finger an, zählte schnell nach und stopfte sich das Geld dann vorn in den Hosenbund.

«Nett, mit dir Geschäfte zu machen», sagte er und verschwand, ließ Tversky in der Gasse allein. Tversky steckte die braune Papiertüte in seine Aktentasche und ging schnell in Richtung Broadway.

Erst als er wieder sicher in seinem schäbigen Motelzimmer war, wagte er, die Tüte herauszunehmen. Er hatte seine Wohnung verlassen, gleich nachdem er das Video angesehen hatte. Julia hatte ihn angewiesen, hierher umzuziehen, und also hatte er das getan.

Nachdem er die Jalousien zugezogen hatte, legte er die Tüte mitten aufs Bett. Er schluckte trocken, langte dann hinein und berührte die glatten Kunststoffröhren. Sie fühlten sich kühl an unter seinen verschwitzten Fingern. Tief durchatmend zog er die Flintenpatronen eine nach der anderen aus der Tüte. Er legte sie in einer Reihe hin. Es waren insgesamt zehn Stück. Eine Minute lang starrte er sie nur an, fragte sich, wie es überhaupt zu dieser Situation hatte kommen können.

Aber es gab jetzt kein Zurück mehr. Nach dem, was mit Julia geschehen war – was er Julia angetan hatte –, war es dazu viel zu spät. Er musste das jetzt durchziehen. Er sah auf seine Armbanduhr. Ihm blieben noch ein paar Stunden bis sechs Uhr. Wenn David nicht kam, musste er davon ausgehen, dass sich Julia geirrt hatte. Aber er glaubte nicht, dass dem so sein würde.

Bisher war alles genau so geschehen, wie sie gesagt hatte – von der Stelle, an der er sich im Restaurant hinsetzen sollte, bis dahin, wie er Kontakt zu dem Waffenhändler aufnehmen sollte. Da sie das alles korrekt vorausgesehen hatte, gab es keinen Grund zu der Annahme, dass ihre übrigen Voraussagen nicht eintreffen würden. Und ihm blieb ohnehin keine andere Wahl.

Doch eigentlich stimmte das nicht, oder? Er musste ihre Anweisungen nicht befolgen. Er konnte es sich anders überlegen, einen anderen Weg einschlagen. Doch obwohl er wünschte, dass es eine andere Möglichkeit gab, wusste er, dass er sie nicht ergreifen würde. Es war traurig, dass er versuchen musste, David Caine zu töten, um an das zu gelangen, was er haben wollte. Aber er würde es tun.

Es war zu spät, um einen anderen Weg einzuschlagen.