Kapitel // 32 //

Nava packte ihre Waffe fester, als der Fahrstuhl in das fünfte Stockwerk hinaufgeschossen kam. Sie stand etwas abseits, damit sie nicht gleich zu sehen sein würde. Der Fahrstuhl kam mit einem leisen metallischen Klicken zum Stehen, die Türen öffneten sich langsam und gaben den Blick frei auf 

Nichts.

Bevor sie den Fahrstuhl betrat, warf Nava zunächst einen Blick an die Decke, um sicherzugehen, dass dort keine Überraschungen lauerten; aber sie sah nur drei Leuchtstofflampen und eine winzige Überwachungskamera. Sie senkte den Kopf und drückte die Schultern durch, als sie den Fahrstuhl betrat. Mit ihrer Basecap und dem unauffälligen grauen Overall ging sie hoffentlich als Mann durch, falls gerade jemand auf den Bildschirm guckte.

Sie drückte den untersten Knopf. Die Türen schlossen sich, und die Kabine raste ins Untergeschoss hinab. Navas Magen sackte nach unten, als der Fahrstuhl abbremste. Sie griff nach der in ihrer übergroßen Hosentasche versteckten Pistole, deren kaltes Metall durch den Stoff zu fühlen war.

Die Türen öffneten sich, und Nava orientierte sich binnen eines Herzschlags. Der Raum war klein, keine zwölf Quadratmeter. Weißer Boden, weiße Wände. Eine schwere Sicherheitstür mit Handabdruck-Scanner. Ein großer, silbriger, L-förmiger Tresen und eine Reihe kleiner Schwarzweiß-Bildschirme.

Hinter dem Tresen saßen zwei Wachen. Im Gegensatz zu dem Wachmann oben am Empfang waren sie ernst zu nehmen: jung und muskulös, mit kurz geschorenen Haaren – Söldner; der eine war ein Latino, der andere ein Weißer. Nava setzte eine gelangweilte Miene auf, ging selbstbewusst auf die beiden zu und legte das Päckchen auf den Tresen. Die Pistole in ihrer Tasche hatte sie fest im Griff.

«Ich hab hier ein Päckchen für Dr. Forsythe», eröffnete sie das Gespräch. Der Weiße sah unentschlossen zu seinem Kollegen. Also hatte der Latino das Sagen. Gut zu wissen. Sie zog die Waffe und schoss ihm in den Hals.

Er kam nicht einmal mehr dazu, überrascht zu gucken. Er fiel in seinen Sessel. Ein Blutstropfen löste sich von dem in seiner Haut steckenden Betäubungspfeil. Bevor der Weiße reagieren konnte, schwenkte Nava die Pistole in seine Richtung und presste sie ihm fest auf das rechte Auge. Er verzog schmerzvoll das Gesicht.

«Hände hinter den Kopf», sagte sie.

Er tat, was ihm gesagt wurde.

«Wie heißen Sie?»

«Jeffreys.»

Sie wies mit einer Kopfbewegung auf den Handabdruck-Scanner. «Ist das der einzige von der Sorte?»

«Ja», sagte er und schluckte schwer.

«Was sind die anderen Sicherungsmaßnahmen?»

Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, und sie drückte ihm den kalten Lauf fester an den Schädel.

«Es gibt an allen möglichen Stellen Daumenabdruck-Scanner.»

«Haben Sie den stillen Alarm ausgelöst?»

«Nein.»

«Wie oft erfolgt die Meldung bei den anderen Wachen?»

«Alle fünfzehn Minuten.»

«Wann war die letzte Meldung?»

«Unsere letzte war um 22.45 Uhr. Die nächste ist um 23 Uhr.» Ihre Uhr zeigte 22 : 47. Sie hatte dreizehn Minuten. Zwanzig wären ihr lieber gewesen, aber was sollte man machen.

«Wie viele Wachen sind in diesem Komplex?»

«Ähm …» Er sah mit dem linken Auge zur Decke, als ob er im Stillen zählte. «Sechs», antwortete er schließlich. «Nein, nein, Moment … sieben. Es müssten sieben sein.»

«Sie und Ihren Partner eingeschlossen?»

«Ja.»

«Wird sein Daumenabdruck sämtliche Türen im Gebäude öffnen?», fragte Nava und zeigte zu dem Bewusstlosen im Sessel. Jeffreys schluckte schwer, als er begriff, was sie da fragte, aber dann nickte er leicht.

«Ja.»

Ohne ein weiteres Wort zog sie ihre Betäubungspistole zurück und schoss ihm in den Arm. Sie langte über den Tresen und zog die rechte Hand des Latinos heran. Mit dem Messer aus ihrem Knöchelholster durchtrennte sie die äußeren Sehnen seines Daumens und führte die Klinge vorsichtig in das Gelenk ein; sie ploppte das obere Glied nahezu unversehrt ab, zusammen mit einem Schwall Blut.

Nava wischte sich die Hände an der Uniform des Mannes ab. Dann schnitt sie einen Streifen seines Ärmels ab, wickelte den amputierten Daumen darin ein und verband die Wunde mit einem weiteren Streifen. Sie konnte es nicht fassen, dass ihre Quelle vergessen hatte, die Daumenabdruck-Scanner zu erwähnen. Patzer wie diese waren der Grund, warum sie die Aufklärung lieber selbst übernahm. Sie fragte sich, was er wohl noch alles falsch mitbekommen hatte. Sie würde es nur zu bald herausfinden.

Sie trat um den Tresen und suchte die Bildschirme ab, bis sie fand, was sie gesucht hatte. David. Seine Augen starrten an die Decke, aber er schien bewusstlos zu sein; seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig. In der rechten unteren Ecke des Monitors stand «C10». Nava wollte gerade gehen, da fiel ihr ein weiterer Bildschirm auf.

Jasper. Er war wie David auf einem großen, metallenen Behandlungsstuhl festgeschnallt und hatte die Augen geöffnet. Im Gegensatz zu David schien er aber bei Bewusstsein zu sein. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt, und ihm zitterten die Hände. Er tat ihr sehr Leid. Die Beschriftung des Monitors besagte, dass er sich in D8 befand. Aufgang D, also weit weg von David. Merkwürdig, dass sie die beiden Gefangenen so weit voneinander entfernt untergebracht hatten. Damit blieb ihr nicht genug Zeit, sie beide zu retten.

Sie sah auf ihre Uhr. 22 : 48 – noch zwölf Minuten. Sie musste sich beeilen.

 

Nava sah den langen Korridor hinab. Wie im Foyer war alles weiß, das harte Neonlicht an der Decke blendete einen förmlich. Der Gang erstreckte sich zwanzig Meter weit nach vorn, bevor er sich teilte. Als Nava sich der Abzweigung näherte, vernahm sie zwei tiefe Männerstimmen. Sie blieb stehen und erwog ihre Alternativen. Sie wollte nicht gleich drauflosschießen – wenn sie nicht traf, riskierte sie unter Umständen, dass einer von ihnen den Alarm auslöste.

Wenn sie beide rasch kampfunfähig machte, konnte sie sich in einem der Lagerräume verstecken, die von dem Flur abgingen. Aber wenn es einem der Männer gelang, einen Schuss abzufeuern, würde dies dem geheimen Charakter ihrer Rettungsaktion ein jähes Ende setzen. Sie musste sich rasch entscheiden.

Sie beschloss, ohne Pistolen auszukommen. Sie verstaute sie und machte sich für den Nahkampf bereit. Sie war eine ausgezeichnete waffenlose Kämpferin, aber wenn die Sache haarig wurde, konnte sie immer noch ihren Dolch einsetzen.

Als erstes musste sie die beiden trennen. Am einfachsten war es, den einen kampfunfähig zu machen, bevor der andere merkte, was los war, und sich dann um den zweiten zu kümmern. Sie wich einige Schritte zurück und drückte sich gegen eine der zurückgesetzten Türen des Flures. Dann nieste sie. Oder machte zumindest ein Geräusch, das wie ein Niesen klang. Einer der ältesten Tricks überhaupt, aber ihrer Erfahrung nach wurden überhaupt nur die besten Tricks alt.

Die Männer stellten ihre Unterhaltung sofort ein. Nava konnte beinahe spüren, wie sie lauschten, wie sie die Ohren spitzten, um auch das leiseste Geräusch zu vernehmen. Sie hielt den Atem an.

«Hast du das gehört?»

«Klang wie ein Niesen.»

«Ja. Bleib hier, ich seh mal nach.»

Schwere Schritte stampften den Flur hinab. Nava wartete, bis er fast vor ihr war; erst dann zeigte sie sich. Sie sahen sich eine Sekunde lang in die Augen, dann griff sie an. Er war vielleicht einsfünfundachtzig groß und wog gute hundert Kilo, hatte rotblonde Haare, eine wuchtige Stirn und einen noch wuchtigeren Schlagstock, den er sofort nach Navas Kopf schwang. Sie trat auf ihn zu und fing seinen Unterarm mit den behandschuhten Händen ab. Dann verdrehte sie sein Handgelenk und setzte all ihre Kraft ein, um ihn über ihre Schulter zu schleudern.

Aber er war zu schnell – er riss seinen anderen Arm hoch und schlug sie hart mit dem Handballen vor die Brust, presste ihr die Luft aus der Lunge und brach ihren Griff. Ihr blieb nur ein kurzer Moment, bis der andere Wachmann begriff, dass etwas nicht stimmte. Für Eleganz war keine Zeit.

Sie packte seine Schultern und rammte ihm mit aller Kraft ein Knie in den Schritt. Als sie den vernichtenden Aufwärtshaken anbrachte, der ihn k. o. schlug, war die Farbe bereits aus seinem Gesicht gewichen. Er fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, sein Schlagstock polterte zu Boden.

«McCoy, alles in Ordnung?», rief sein Kollege eine Sekunde später. Wenn er klug war, löste er den Alarm aus, bevor er nachgucken kam. Aber da die meisten Soldaten nicht gerade für überragende Intelligenz bekannt waren, ging Nava davon aus, dass ihr noch Gelegenheit zum Handeln blieb. Sie griff sich McCoys Schlagstock und raste um die Ecke.

Dieser Wachmann war viel kleiner, hatte jedoch den Körperbau eines Gewichthebers. Sie schleuderte den Schlagstock ohne viel Schwung in Richtung seiner Knie. Instinktiv bückte er sich und fing ihn auf, vergaß dabei jede Deckung. Dieser Fehler sollte ihm kein zweites Mal unterlaufen.

Nava wirbelte herum und knallte ihm den Absatz ihres Stiefels mit einem brutalen Tritt seitlich gegen den Kopf. Er ging nicht zu Boden, war aber einige Sekunden lang desorientiert, und mehr brauchte Nava nicht. Sie ließ ihren Ellbogen auf seinen Nacken hinunterkrachen und brach ihm dann mit einem harten Knietritt zum Kinn den Unterkiefer.

Er fiel um und blieb liegen.

Eine Minute später, nachdem sie die beiden Wachen betäubt und in einen der Lagerräume gezerrt hatte, warf Nava ihre Basecap weg und schlüpfte in einen zu großen weißen Laborkittel. Sie ging weiter den Flur hinunter, Richtung C10.

Nachdem sie die nächste Sicherheitstür passiert hatte, betrat sie einen weiteren strahlend weißen Flur, der kein Ende zu nehmen schien. Der Gang war eng, kaum breit genug, dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Alle drei Meter ging rechts eine Tür ab. In ungefähr dreißig Metern Entfernung standen zwei Männer links und rechts neben einer Tür aufgebaut. Das musste C10 sein.

Während sie weiterging, erwog Nava ihre eingeschränkten Optionen. Ein Ablenkungsmanöver würde definitiv nicht funktionieren, weil sie sich nirgends verstecken konnte. Es bestand die Chance, dass sie dicht genug herankam, um beiden einen Betäubungsschuss zu versetzen, aber Nava bezweifelte das. Eine weitere Option war der Nahkampf, zumal der schmale Gang ihr einen leichten Vorteil geben sollte, weil sie sich in dem engen Raum besser würde bewegen können als die beiden groß gewachsenen Männer. Andererseits würde sie, wenn sie zu Boden ging, nirgendwohin ausweichen können. Die Männer würden sich sofort auf sie stürzen.

Nein, ein Nahkampf war zu riskant. Sicher, die anderen beiden Wachen hatte sie ohne große Probleme erledigt, aber ihr Glück würde nicht ewig halten. Ihr größter Vorteil war das Überraschungsmoment, das musste sie ausnutzen. Sie ließ ihr Klemmbrett fallen, sodass sich die Zettel überall auf dem Boden vor Zimmer C6 verteilten. Ein Wachmann sah herüber, hielt sie jedoch für einen von Forsythes Schützlingen. Während sie ihre Papiere aufsammelte, wandte sie den Wachen den Rücken zu und beförderte unauffällig ihre schallgedämpfte 9mm vom Schulterholster in eine der Kitteltaschen.

Sie hätte lieber die Betäubungspistole eingesetzt, aber für Fehler war kein Raum. Eine Kugel würde die Zielperson auch dann noch bremsen, wenn der Schuss nicht präzise war. Dummerweise standen die Wachen so nah beieinander, dass sie nur auf einen Mann freie Schussbahn hatte. Sie musste dichter heran.

Sie näherte sich den beiden Männern, hielt dabei den Kopf gesenkt und täuschte Verlegenheit über ihre Ungeschicktheit vor. Dabei achtete sie darauf, dass ihr die langen Haare ins Gesicht hingen. C8. Noch sechs Meter bis zum Kontakt. Lässig ließ sie ihre Hand in die Tasche gleiten.

C9. Drei Meter.

Sie berührte den kalten Stahl, ließ rasch die Finger über die Mündung gleiten, bevor sie den Griff packte. Als sie bei der Tür ankam, blieb sie stehen und sah die Wachen schüchtern an. Der größere der beiden war braun gebrannt und schlank, mit geschmeidigen, sehnigen Muskeln. Er wusste eindeutig seine Fäuste zu gebrauchen. Der andere war gebaut wie ein kleiner Kipplaster. Nava konnte das helle Summen einer Stimme hören, die aus seinem Headset kam.

«Dalton hier», sagte er. Nava spannte sich an. Wenn die anderen Wachen gefunden worden waren, musste sie sofort angreifen. Andererseits durfte sie nicht riskieren, dass die Person am anderen Ende mitbekam, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Sie beschloss zu warten; wenn der Typ namens Dalton gerade eine Warnung durchgesagt bekam, würde sie es in seinen Augen sehen können, bevor er eine Chance hatte zu reagieren.

«Ja, verstanden», sagte Dalton. Er beendete das Gespräch. Aus seinem Blick sprach Bösartigkeit, aber das war eben auch schon so gewesen.

«Kann ich Ihnen helfen, Miss?», fragte der Schlanke mit tiefer, herausfordernder Stimme.

«Ich … ich soll den Patienten untersuchen», stammelte Nava mit ihrer besten Kleinmädchenstimme.

Er sah sie an, als wäre sie der dümmste Mensch, der ihm jemals begegnet war. «Hier ist für Unbefugte Zutritt verboten. Sie –»

Er brach ab, als die Kugel ihm ein Loch in die Brust schlug.

Nava fuhr mit der Waffe zu Dalton herum, aber er packte ihr Handgelenk, und der Schuss krachte in die Decke, ließ Splitter von Kunststoff und Glas herunterrieseln, und auf einmal war es dunkler. Dalton verdrehte ihr die Hand, und die Waffe fiel polternd zu Boden; dann packte er Nava bei der Kehle und stürmte vor, warf sie gegen die Wand.

Ihr Kopf prallte mit einem Knacken von der Mauer ab. Sie bekam keine Luft mehr, als seine Hand ihre Kehle wie ein Schraubstock quetschte. Ihre rechte Hand war hilflos eingeklemmt, und der Mann presste sich zu dicht an sie, um einen wirkungsvollen Tritt abschießen zu können. Sie schlug ihm mit der freien Hand in die Nieren, aber er verzog nicht einmal das Gesicht. Sie konnte seinen heißen Atem auf der Haut spüren, und immer noch verstärkte sich sein Griff um ihren Hals.

Während er ihr ins Gesicht starrte, leuchteten seine Augen plötzlich auf. «Dachte, dich hätte ich längst kalt gemacht, Vaner.»

Schwarze Punkte erschienen vor ihren Augen. Sie hatte noch zehn Sekunden bis zur Bewusstlosigkeit. Ihr Mund öffnete und schloss sich, als sie versuchte, Luft einzusaugen, aber es nutzte nichts. Dalton war einfach zu stark. Mit letzter Kraft hob sie das linke Knie in Brusthöhe, sodass ihr Fuß neben ihrer ausgestreckten Hand hing.

Sie tastete mit den Fingern den Stiefel entlang, bis sie den Griff ihres Dolches fand. Mit schweißnasser Hand zog sie ihn heraus. Der Ruck ließ ihre Hand so hart gegen die Wand prallen, dass sie das Messer beinahe fallen ließ, aber sie schaffte es.

Sie brachte den Arm hoch und stach Dalton in den Rücken. Als die Klinge sich in sein Fleisch bohrte, verstärkte er den Druck auf Navas Hals noch, aber sie stieß den Dolch tiefer hinein, spürte, wie er ihm in die Schulter sank. Als sie ihm die Sehne durchtrennte, ließ Dalton sie mit einem Aufschrei los. Sie sank auf Hände und Knie, holte keuchend Luft. Fast wurde sie ohnmächtig, hinderte sich aber daran, indem sie ihre blutigen Knöchel fest gegen den Boden presste und sich auf den Schmerz konzentrierte.

Sie gestattete sich einen weiteren Atemzug, bevor sie ihre Arbeit zu Ende brachte. Sie musste dafür sorgen, dass Dalton aufhörte zu schreien. Er stand über ihr, versuchte verzweifelt, den Dolch zu greifen und herauszuziehen; die eine Hand hing schlaff an seiner Seite, die andere fuhrwerkte an seinem Rücken herum.

Nava packte seinen rechten Fuß und zog daran. Dalton fiel rückwärts um, landete hart auf der Seite; mit einem Knirschlaut brach sein Schlüsselbein. In seinen Augen loderten Schmerz und Zorn. Nava holte ein zweites Mal Luft und sprang auf den gestürzten Wachmann, setzte sich rittlings auf seine Taille. Sie packte den Dolch, drehte ihn um neunzig Grad herum und riss ihn aus der Schulter. Blut schoss aus der Wunde wie Wasser durch einen geborstenen Damm.

Mit beiden Händen hob sie den Dolch über den Kopf und stieß ihn auf Daltons Brust hinab. Die Klinge brach ihm zwei Rippen, bevor sie sich tief in sein Herz bohrte. Sein Kopf ruckte nach vorn, und er stieß ein letztes Keuchen aus, die Augen weit aufgerissen. Dann fiel sein Kopf zurück. Sein ganzer Körper erschlaffte unter Nava, alles Leben war aus seiner ungeschlachten Gestalt gewichen.

Immer noch nach Luft schnappend, rieb sie sich die Kehle und begutachtete die Szene. Das war nicht annähernd so glatt gegangen wie ihre ersten beiden Feindberührungen. Der Schlanke lag auf dem Rücken, die Beine von sich gestreckt. Eine Blutlache war aus seiner Brust gesickert. Er musste nach dem Treffer noch einige Sekunden gelebt haben, denn beide Hände waren blutverschmiert. Dünne rote Linien zogen sich über den Fußboden, endeten an seinen Fingerspitzen.

Dalton hatte noch mehr Dreck gemacht. Er lag in einer dunkelroten Pfütze, und noch immer sickerte es aus seiner Schulterwunde. Wo der Boden nicht mit Blut bedeckt war, war er mit Glasscherben und schwarzen Kunststoffsplittern von der Decke übersät. Wenn jemand diesen Flur betrat, wusste er sofort Bescheid.

Ihre Uhr zeigte 22 : 55. Ihr blieben noch fünf Minuten, bevor hier die Hölle losbrach. Wenigstens war es nicht mehr so hell, seit der abgelenkte Schuss aus Navas Waffe eine der Leuchtstofflampen zertrümmert hatte. Nava besah sich den langen, gut ausgeleuchteten Flur und dann wieder ihr kleines Stück Dunkelheit vor Caines Zimmer.

Sie hatte eine Idee.

 

Crowe fluchte leise. In derselben Sekunde, in der er draußen den Schuss hörte, überkam ihn das sichere Gefühl, dass Vaner dahinter steckte. Als er auf den Monitor sah, war Esposito bereits tot, lag verblutend auf dem Boden. Das letzte Bild, das die Überwachungskamera zeigte, bevor nur noch Schnee zu sehen war, war Dalton, der Vaner bei der Hand packte. Ihr Schuss musste die Kamera an der Decke erwischt haben.

Crowe zog seine 45er Sig-Sauer aus dem Schulterholster und hetzte zur Tür, Daltons Schreie in den Ohren. Er wollte gerade den Knauf drehen, da gab es einen lauten Schlag – und das Gebrüll hörte auf. Sie musste ihn mit bloßen Händen getötet haben. Crowe ließ den Knauf wieder los. Wenn Vaner noch lebte, wartete sie wahrscheinlich ab, ob aus dem Raum noch eine weitere Wache kam. Wenn dem so war, würde sie ihn umlegen, bevor er auch nur den Auslöser drücken konnte.

Jeffreys, Esposito, Gonzalez, McCoy und Rainer – er fragte sich, ob von ihnen überhaupt noch jemand lebte. Sie waren keine guten Menschen, aber den Tod verdiente niemand. Er hätte gedacht, dass sechs ehemalige Angehörige von Sondereinsatzkommandos ausreichen sollten. Er hatte die abtrünnige CIA-Agentin eindeutig unterschätzt – sie war nicht nur von den Toten auferstanden; nein, sie war auch noch in bester Kampfstimmung. Der einzige Teil seines Sicherheitsplans, der funktioniert hatte, war der falsche Text auf dem Monitor am Wachschutztresen. Die ganze Zeit über hatte sich Vaner, statt zu David Caine zu laufen, weiter von ihm entfernt und war schließlich vor Crowes Büro angekommen.

Auf einmal leuchtete die rechteckige Lampe an der Wand grün auf. Das elektronische Schloss war abgeschaltet worden. Crowe ging rückwärts, zielte mit der Pistole auf die Tür.

Er legte Druck auf den Abzug – gerade so viel, dass er bei Vaners Eintreten sofort feuern konnte. Die Tür schwang auf, eine übel zugerichtete Nava Vaner stand darin. Crowe schoss, bevor sie noch reagieren konnte. Eine halbe Sekunde später war der Boden mit Blut, Hirnmasse und einigen Schädelsplittern bedeckt.

 

In demselben Moment, als Nava die Tür öffnete, wurde ihr klar, dass alles nur ein Trick gewesen war. Ihr Gehirn verarbeitete diese Information gerade, da sah sie den dunkelhaarigen Mann vom Bahnhof. Die Mündung seiner 45er zeigte auf sie. Sie fragte sich, ob es wehtun würde zu sterben. Sie war früher schon angeschossen worden, zweimal ins Bein und einmal in die Schulter, aber keine dieser Verletzungen war schwer gewesen. Blutig, ja, und schmerzhaft, aber nicht lebensbedrohend. Das würde diesmal anders sein.

Auf diese Entfernung konnte er gar nicht daneben treffen.

Sie spürte den Schlag, bevor sie die Explosion hörte. Die Kugel traf Dalton direkt unter dem Auge. Nava hatte den Toten mit ins Zimmer bringen wollen, um den dunklen Flur noch freizuräumen; sie trug ihn über der Schulter, sein Kopf baumelte vor ihrer Brust.

Daltons Schädel platzte wie eine Wassermelone, durchnässte ihr Hemd mit warmem, klebrigem Blut. Hätte sie den Toten nicht getragen, die Kugel hätte ihr glatt das Herz zerfetzt. Stattdessen kratzte sie Nava nach dem Austritt aus dem Schädel des Söldners nur ein bisschen an. Nava fragte sich allmählich, ob Caines Intuition auf sie abgefärbt hatte.

Aber darauf konnte sie nicht zählen. Sie ließ die kopflose Leiche fallen und warf sich zurück in den blutbesudelten Korridor. Sie landete auf der Seite, rutschte ein Stück den nassen Boden entlang und griff hektisch nach ihrer 9mm – aber die war nicht da. Nava hatte vergessen, sie wieder in die Kitteltasche zu stecken. Sie sah sie im Türbereich liegen, nur Zentimeter von ihrem Fuß entfernt. Ebenso gut hätte sie einen Kilometer weit weg liegen können.

Der Dunkelhaarige würde in einer Sekunde über ihr sein. Es gab keine Möglichkeit, rechtzeitig zu der Pistole zu kommen. Nava drückte den Schalter an ihrem Armband – der Notfall war eingetreten. Nava hatte ihr Leben noch nie jemandem anvertraut. Sie erwartete nur eines: enttäuscht zu werden.

Immer noch auf dem Rücken liegend, zog sie ein kleines Wurfmesser aus dem Gürtel und holte aus, hoffte auf ein Wunder.

 

Grimes ging gerade sorgfältig die Würmer aus Fruchtgummi durch – ihm schmeckten die weißen mit den grünen Streifen am besten –, als eine große blinkende Kugel auf seinem Bildschirm erschien. Das Bild wurde von dem Alarmstufe-Rot-Sound aus Raumschiff Enterprise begleitet, der in seinem Kopfhörer losplärrte. Grimes setzte sich auf, stopfte sich einen Wurm in den Mund. Cool. Neues Spiel.

Er doppelklickte auf die rote Kugel und lehnte sich zurück, um das Feuerwerk zu genießen – wenn schon nicht optisch, dann wenigstens akustisch. Er fragte sich flüchtig, ob er gerade ein Verbrechen begangen hatte, aber dann verwarf er den Gedanken wieder, weil er ja gar nicht mehr für die Regierung der Vereinigten Staaten tätig war. Stattdessen konzentrierte er sich auf das viele Geld, das gerade auf sein Nummernkonto im Ausland überwiesen worden war. Noch schöner war das Ganze, weil Dr. Jimmy echt ausflippen würde.

Das war fast noch besser als das Geld. Fast.

 

Crowe wich dem Toten aus. Ein Blick auf die Leiche und ihm war klar, was sich gerade abgespielt hatte. Er hatte Daltons Kopf getroffen, nicht Vaner. Aber jetzt war es vorbei mit ihrem Glück – ihre Pistole lag nutzlos in der Tür. Er konnte sehen, dass Espositos Waffe immer noch draußen im Gang in ihrem Holster steckte.

Crowe schritt über Dalton hinweg und ging langsam zur Tür, um Vaner zu töten. Als er sich dem Flur näherte, sah er ein Stück von ihrem Fuß. Da sie wissen musste, dass er kam, sah er keinen Grund, sich die Kugeln für den Todesschuss aufzuheben. Das hier war kein James-Bond-Film, in dem man dem Gegner zuerst in die Augen sehen wollte. Das hier war die Wirklichkeit, und Crowe ging kein Risiko ein.

Ohne stehen zu bleiben, drückte er ab.

 

Der Schmerz war Feuer und Stromschlag zugleich. Sämtliche Nervenenden kreischten auf, als die Kugel Navas Schuhsohle zerfetzte. Nava riss das Bein zurück und biss sich kräftig auf die Zunge, zwang sich dazu, nicht aufzuschreien. Wenn das hier ihr letzter Moment war, dann sollte er nicht mit Geschrei erfüllt sein, erst recht nicht mit ihrem eigenen. Es war schlimm genug, dass sie flach auf dem Rücken lag. Sie hatte sich immer vorgestellt, im Stehen zu sterben.

Der Schatten des Mannes fiel über den Fußboden, als er in die Tür trat. Gleich würde sie sterben. Nava hielt die Messerhand ganz ruhig, biss gegen den Schmerz die Zähne zusammen und wartete darauf, dass der Mann den Flur betrat. Er würde sie töten, aber sie würde ihm etwas mitgeben, an das er sich noch lange erinnern würde.

Dann geschah es.

Die Neonröhren gingen flackernd aus, und auf einmal war es stockdunkel.

Nava war beinahe überrascht, dabei hatte sie die Stromsperre doch mit dem Schalter an ihrem Armband selbst ausgelöst. Sie reagierte blitzschnell. Den grässlichen Schmerz in ihrem Fuß ignorierend, setzte sie sich auf und beugte sich vor. Wenn ihr Fuß in Sichtlinie des Dunkelhaarigen gewesen war, dann stimmte auch das Umgekehrte.

Sie riss die Hand nach vorn und ließ das Messer fliegen. Es traf mit einem widerwärtigen dumpfen Schlag, auf den sofort ein tiefes Ächzen folgte und das harte Klirren von Metall auf Fliesen. Er hatte seine Pistole fallen gelassen – Nava hatte noch eine Chance. Sie beugte sich vor, tastete mit der Hand durch das klebrige Blut, das den Boden bedeckte, und suchte hektisch nach der 9mm, die irgendwo im Dunkeln lag.

Dann hatte Nava sie. Ihre Hände schlossen sich um den Metallgriff.

Sie wollte die Waffe gerade heben, als ihr ein schwerer Stiefel aufs Handgelenk trat. Sie schrie vor Schmerz auf, als der Mann das Gewicht auf den Absatz verlagerte und die Knochen in ihrem Handgelenk splitternd brachen. Nava versuchte zu schießen, aber der grelle Schmerz lähmte sie, während der Mann sich bückte, um ihr die Pistole aus der Hand zu nehmen.

Sie packte die Waffe verzweifelt mit der freien Hand und fand den Abzug. Sie wusste in der Dunkelheit nicht, wohin die Mündung zeigte. Es spielte auch keine Rolle; wenn sie nicht schoss, war sie binnen Sekunden tot. Sie drückte ab. Sie hoffte, dass die Kugel ihr Ziel fand, denn zum Kämpfen hatte Nava keine Kraft mehr.

 

Die Kugel fuhr Crowe durch das Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger. Es tat höllisch weh, aber das war ihm egal; indem er die Waffe an der Mündung gehalten hatte, hatte er Schlimmeres verhindert – der Schuss ging weit daneben und traf nichts Wichtiges. Zumindest glaubte Crowe das, als er Vaners Pistole von sich wegbog.

Aber er hatte nicht mit dem stählernen Türrahmen gerechnet. Ohne Vaners Messer in Crowes Brust wäre der Querschläger kein Problem gewesen. Nun aber war er eins. Die Kugel prallte vom Türrahmen ab, pfiff haarscharf an Crowe vorbei und erwischte den Griff von Vaners Messer. Die Wucht des Projektils ließ die Klinge in Crowes Brust sich drehen, sodass sie ihm die linke Herzkammer zerfetzte.

Blut floss aus dem aufgerissenem Herzmuskel und füllte Crowes Brustraum. Obwohl sein Herz noch schlug, schaffte der Muskel es nicht mehr, seinen Körper mit Blut zu versorgen. Er ging zu Boden wie ein Stein, krachte voll auf Vaner. Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt.

«Wo ist Caine?», keuchte sie.

Er wusste, ihm blieben nur noch wenige Momente zu leben. Er konnte nicht glauben, dass er Betsy niemals wieder sehen würde … und dann fiel es ihm wieder ein – die Nachricht. Er schloss die Augen, versuchte, sich an die Worte zu erinnern, bevor es zu spät war. Er glaubte schon zu versagen, da sah er sie unvermittelt wieder vor sich.

 

Persönliche Nachricht für Martin Crowe:

Wenn Nava fragt, wo ich bin, sagen Sie es ihr.

Nur so kann ich Betsy retten.

– David Caine

 

Auf einmal begriff er die Bedeutung der Nachricht und riss sich ein letztes Mal zusammen.

«D10», keuchte er. «Sagen Sie ihm … sagen Sie ihm, dass ich meinen Teil erfüllt habe.»

Während die Synapsen seines Gehirns allmählich aussetzten, blitzte das strahlend bunte Bild eines Sommernachmittags vor ihm auf, den er damit verbracht hatte, mit seiner kleinen Tochter Regenbogen zu jagen. Wenn das der Tod war, war er gar nicht so schlimm. Und mit diesem Gedanken erlosch das Feuer seiner Synapsen, und Martin Crowe tat seinen letzten Atemzug.