Kapitel // 12 //

Tversky betrachtete Julias EEG-Werte, und ihm zitterten die Hände. Er war mit seinen eigenen Forschungen schon so weit fortgeschritten, dass er nur ein paar Stunden dafür gebraucht hatte, das Serum zu synthetisieren, das die maximale Anregung der Hirnstromwellen bewirkte. Er starrte auf Julias schlaffe Gestalt, die ausgestreckt auf dem Tisch lag. Seit der letzten Injektion waren schon fast zehn Minuten vergangen. Mittlerweile musste ihre Hirnchemie praktisch identisch mit Caines sein. Jetzt konnte er nur noch abwarten. Alle Theorien und Rätsel, die ihn bis zu diesem Punkt gebracht hatten, gingen ihm durch den Sinn. Einsteins Relativitätstheorie. Die Heisenberg’sche Unschärferelation. Schrödingers Katze. Deutschs Multiversum. Und natürlich der Laplace’sche Dämon.

Keiner dieser berühmten Denker, von Laplace einmal abgesehen, hätte das hier für möglich gehalten. Aber schließlich hatte auch keiner von ihnen gesehen, was er gesehen hatte. Sie waren im Restaurant nicht dabei gewesen. Und hatte Maxwell nicht bewiesen, dass die Gesetze der Physik keine absolute Gültigkeit hatten? Was hätte er zu Tverskys Theorie gesagt? Äußerst unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich?

Plötzlich wandte sich Julia zu ihm. Ihre Augen blieben geschlossen, und mit leiser Stimme fragte sie: «Was ist das für ein entsetzlicher Gestank?»

 

Es war der schlimmste Gestank, den sie je gerochen hatte. Er war so widerlich, dass das Wort «Gestank» dafür noch schmeichelhaft schien.

Das musste es sein. Jetzt ging es los, das war die Aura. Julias Herz setzte einen Schlag aus. Sie wusste, sie musste sich konzentrieren, aber der Gestank war überwältigend, drang ihr in die Nase, die Augen, die Kehle. Mit einem Mal hatte sie die Überreste ihres Mittagessens wieder im Mund. Sie hustete die feuchten Brocken aus, genoss den bitteren Geschmack auf ihrer Zunge, denn sie war dankbar für jede Ablenkung von dem entsetzlichen Gestank.

Sie rollte vom Tisch und fiel zu Boden. Sie hörte Petey etwas rufen, aber er war so weit weg. Sie kämpfte sich hoch, auf Hände und Knie, das Gesicht nur Zentimeter von der gelblichen Pfütze des Erbrochenen entfernt. Obwohl sie die Augen zukniff, sah sie unter sich die erkaltende Lache. Durch geschlossene Lider folgten ihre Pupillen den Bewegungen jedes Bakteriums, jedes Moleküls.

Sie spürte, wie ihr Bewusstsein schwand. War es das jetzt, oder wurde sie ohnmächtig? Nein, sie durfte Petey nicht enttäuschen. Sie waren schon so weit gekommen – sie durfte nicht ohne eine Antwort gehen. Sie musste sich konzentrieren. Ihr umwölkter Verstand versuchte zu gehorchen, aber es gelang ihm nicht; verzweifelt haschte sie nach der Frage, die sie hierher geführt hatte. Und dann konnte sie es sehen … und da wusste sie es.

Es ist mehr als nur mannigfaltig und verschlungen, denn es ist grenzenlos. Es ist die Ewigkeit, die sich gleichzeitig in alle Richtungen erstreckt, ein derart gewundener Pfad, dass er einer Ebene gleichkommt. Aber diese Ebene ist es nicht allein – an jeden der Quadrillionen Knotenpunkte, aus denen die Oberfläche besteht, knüpfen sich weitere Ebenen, erstrecken sich in unmöglichen Winkeln, winden und drehen sich, biegen sich immer und immer wieder und kommen schließlich auf sich selbst zurück.

Julia schrie. Ein alle Gedanken betäubender Schmerz erfüllte ihr Wesen. Ihr Rücken beugte sich, als sie den Kopf hochriss und ihn dann auf den Boden knallen ließ. In diesem Moment hörte sie die Stimme. Sie kannte die Stimme aus einer anderen Zeit. Es war eine unter den Billionen Stimmen, die sie nun kannte, diese aber kannte sie auf eine andere Art.

Die Stimme flüsterte ihr etwas zu. Sie versprach ihr, dass sie sie gehen lassen würde, wenn sie nur einen kleinen Ausschnitt der großen Unendlichkeit schaute. Nur einen kleinen Ausschnitt, und dann wäre alles vorbei. Nur einen kleinen Ausschnitt.

Also sieht sie hin. Da alles überall ist, ist es auch dort, wohin sie schaut. Es von allem anderen zu unterscheiden ist die Schwierigkeit. Und dann sieht sie es, direkt vor sich … aber es ist nichts Einzelnes, eher eine Million, eine Milliarde. So vieles ist gleich, aber so vieles ist auch unterschiedlich, vom Größten bis hin zum Allerkleinsten.

Sie könnte tausend Bücher über das Jetzt schreiben, das sie kennen lernen will. Doch dafür ist keine Zeit. Keine Zeit … seltsam. Hier gibt es tatsächlich keine Zeit, aber in dem Jetzt, aus dem sie kommt, weiß sie, dass ihre Zeit abläuft. In jenem Jetzt bleibt ihr gerade noch genug Zeit, ihm zu sagen, was er tun soll.

Julia hob den Kopf, um ihre Botschaft auszusprechen. Ihre Stimme war schwach. Petey beugte sich mit seinem Ohr so nah über ihren Mund, dass seine Haare ihr Gesicht kitzelten. Und während sie sprach,

sieht sie, wie sich die Ebenen auf sie zu bewegen, wie alles sich ändert. Und schließlich ist es das Immer, das sich verändert, umgestaltet, um sich ihren Worten anzupassen, und das raubt ihr endgültig den Verstand. Es ist ein unerträglicher Anblick: Das Immer entwickelt sich vor ihren Augen, und sie steht im Mittelpunkt. Es ist zu viel, zu viel, zu viel 

Julia spürte, wie sie ausatmete, und sie dachte, nein, sie dachte nicht, sie wusste –

denn sie kann sich jetzt sehen, im Mittelpunkt des Immer – dass ihre Zeit fast abgelaufen ist.

Sie musste aushalten. Es gab für sie noch so viel zu tun. Sie hoffte, die Zeit dafür zu haben. Und dann,

weil Julia es wünscht, zeigt sie ihr, wie sie es in die Tat umsetzen kann.

 

Julia erschlaffte in seinen Armen, und Tversky zitterte. Er tastete nach ihrem Puls. Ihr Herz schlug noch. Schwach, aber immerhin. Er zog ihr ein Augenlid hoch, dann das andere, sah aber nur das Weiße. Julia hatte die Augen nach oben gerollt. Er gab ihr leichte Ohrfeigen, damit sie wieder zu Bewusstsein kam, wusste aber, dass es sinnlos war.

Jeder Instinkt verriet ihm, dass sie im Sterben lag. Er legte sie zurück auf den Tisch und schloss die EEG-Elektroden wieder an, die sich bei ihrem Sturz gelöst hatten. Erst dachte er, die Elektroden wären beschädigt, aber dann dämmerte ihm die Wahrheit: Es war keine Hirnaktivität mehr messbar. Nichts. Das Bewusstsein, das Julia Pearlman gewesen war, hatte sich aufgelöst; ihr Herz schlug noch schwach, aber ihr Geist war zerstört.

Tversky sah sich verzweifelt im Labor um, überlegte, was er tun sollte. Er wollte sich setzen und tief durchatmen, wusste aber, dass ihm dafür keine Zeit blieb. Wie sollte er das erklären? Kalter Schweiß brach ihm aus, und er begann zu hyperventilieren.

Er sah auf die Uhr an der Wand – 23.37 Uhr. Die Putzkolonne kam um Mitternacht hier durch – nur noch 23 Minuten. Er musste nachdenken. Er konnte einen Krankenwagen rufen. Sie lebte noch; vielleicht war sie noch zu retten. Doch mit einem Blick auf Julia wurde ihm klar, dass das nicht in Frage kam. Ihr Kopf war immer noch mit seinen Markierungen überzogen. Und wenn sie starb, kam es zu einer Obduktion. Dann flog alles auf.

Der Rechtsmediziner würde die Chemikalien in ihrem Blut entdecken. Man musste kein Genie sein, um sich zu denken, dass Tversky dahinter steckte. Durch den Anruf würde er sich nur verdächtig machen. Am liebsten wäre er auf der Stelle aus dem Labor gerannt, aber da war der Wachmann. Er würde sich daran erinnern, dass Tversky erst spätabends gegangen war.

O Gott. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er war doch immer so vorsichtig gewesen – warum hatte er sich keinen Ausweichplan zurechtgelegt? Er starrte Julia mit hasserfülltem Blick an. Die dumme Fotze starb hier in seinem Labor und machte damit alles zunichte.

Einundzwanzig Minuten.

Tversky fuhr sich mit schweißnassen Händen durchs Haar und ging im Raum auf und ab. Aus dieser Sache kam er nicht mehr raus. Er war geliefert. Am Vorabend der wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckung aller Zeiten wanderte er in den Knast.

Zwanzig Minuten.

Die Zeit verging viel zu schnell. Er brauchte einen Ausweg. Er brauchte … ein Fenster. Er rannte zum Fenster und schob es hoch. Es knarrte und widersetzte sich, ließ sich aber öffnen. Sich am Fensterrahmen festhaltend, lehnte er sich hinaus und spähte hinab in die Gasse sechs Etagen unter ihm. Das konnte funktionieren. Wenn er klug vorging und nicht in Panik geriet, konnte er das hinbekommen.

Er eilte zum Waschbecken und schüttete sich ein starkes Reinigungsmittel in die hohle Hand. Er musste die Markierungen auf ihrem Kopf abwaschen. Während er ihre Kopfhaut wusch, ging er in Gedanken durch, was er noch alles erledigen musste 

Achtzehn Minuten.

… ehe die Putzkolonne kam. Wenn sie sauber war und er das Erbrochene vom Boden aufgewischt hatte, musste er die Daten verstecken: Die Videoaufzeichnungen, die EEG-Messungen, seine Notizen – das musste alles kopiert und dann vernichtet werden. Endlich wieder einigermaßen ruhig atmend, trat Tversky einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Die Markierungen waren nicht mehr zu erkennen. Gegen die kleinen roten Schwielen konnte er leider nichts unternehmen. Vielleicht würde man die wunden Stellen übersehen, wenn sie sich beim Sturz den Schädel brach. Er konnte es nur hoffen.

Er warf sie sich über die Schulter und trug sie quer durch den Raum. Er lehnte sie an den Fensterrahmen, da hörte er es: ein lang gezogenes, leises Stöhnen. Er starrte ihr ins Gesicht, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass sie wieder zu sich kam, sah aber nur ihre schlaffen Kiefer.

Neun Minuten.

Einen Moment lang erstarrte er. Ihm war klar, dass es kein Zurück mehr gab, wenn er das jetzt tat. Und dann stöhnte sie wieder. Es war ein leises, entsetzliches Geräusch. Tversky hätte es nicht für möglich gehalten, dass irgendein Laut so traurig klingen konnte. Es hörte sich an wie das Wimmern eines sterbenden Tiers.

Acht Minuten.

Er ertrug es nicht. Er würde wahnsinnig werden, wenn er sich diesen Laut noch länger anhören musste. Mit aller Kraft wuchtete er den Körper aus dem Fenster. Einen Augenblick später hörte er einen lauten, klatschenden Aufprall. Dann war wieder alles still. Tversky seufzte erleichtert.

Das Labor aufzuräumen und die Daten auf CD zu brennen würde nur ein paar Minuten dauern. Er würde hier raus sein, ehe die Putzkolonne kam, und eine halbe Stunde später bereits zu Hause. Er konnte es gar nicht erwarten, sich das Video anzusehen. Sie hatte so viel gesagt, dass er gar nicht alles verstanden hatte, aber eines hörte er immer wieder im Geiste.

«Töte ihn», hatte Julia geflüstert. «Töte David Caine.»