Nava sah, wie die Agentin Caine angriff, aber da sie ihn mit Sicherheit nicht töten wollte, konzentrierte sich Nava auf Mr. Schnauzbart, denn der wollte sie töten. Er stürmte heran, griff nach seinem Holster, drängte sich zwischen den Fahrgästen hindurch. Nava sah in seinen Augen einen Blick, den sie von sich selbst nur allzu gut kannte. Das war ein Profi. Der machte erst Schluss, wenn mit ihm Schluss war. Nava zeigte auf seine Pistole und schrie, so laut sie konnte:
«OMEINGOTTERHATEINEPISTOLE!!!»
Sie brauchte es nicht zweimal zu sagen. Es war ein Satz, den in einer Großstadt jeder erwartete und keiner hören wollte. Die Leute drehten sofort komplett durch. Jeder war jedem im Weg, zu viele Menschen drängten auf einmal zu den Doppeltüren, zur Rolltreppe.
Wie der Zufall wollte, beschlossen die beiden sportlichen Typen, die Helden zu markieren, und stürzten sich auf Mr. Schnauzbart, hielten ihn an den Armen fest. Sie waren aber keine Gegner für den trainierten Agenten. Er rammte dem einen seinen Ellbogen in den Bauch und boxte dem anderen ins Gesicht, brach ihm die Nase. Beide wären zu Boden gegangen, hätte der Platz dafür gereicht. Stattdessen trug die wogende Menge ihre schlaffen Körper mit sich.
Unbeeindruckt schob sich Nava auf den Agenten zu. Er sah sie kommen und machte sich bereit. Er streckte den Waffenarm vor, und sofort bildete sich ein leerer Kreis um ihn, als die Leute zwischen ihm und den Türen noch kräftiger nach vorn drängten, während die hinter ihm auf die Gleise sprangen und dem Tageslicht entgegenliefen.
«Runter auf den Boden! FBI!», bellte er.
Nava ließ sich nicht aufhalten, aber damit hatte er wahrscheinlich gerechnet. Er drückte ab. Sie sah es, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und weiterzurennen. Erstaunlicherweise fiel kein Schuss. Verwirrung stand in seinem Gesicht, dann begriff er, dass die Waffe Ladehemmung hatte. Aber es war zu spät, Nava war schon bei ihm.
Sie packte seine Waffenhand und drückte sie Richtung Decke. Er machte die Bewegung mit und schoss einen linken Haken auf sie ab. Sie sah den Ansatz im Augenwinkel und machte daher etwas, das der gesunde Menschenverstand verbot.
Aber Nava gehorchte nicht mehr dem gesunden Menschenverstand, sondern ihren Kampfreflexen, die im Training mit den besten Zweikampfexperten des KGB geschärft worden waren. Ehe sein linker Haken traf, drehte sie sich mit gesenktem Kopf in den Schlag. Seine Faust krachte ihr voll auf die Schädeldecke, den härtesten Knochen des menschlichen Körpers. Es fühlte sich an wie ein Schlag mit einem Holzhammer, aber das Knacken seiner Hand beim Aufprall verriet Nava, dass es ihm noch viel mehr wehtat als ihr.
Der Agent ächzte, und Nava ließ den Arm vorschießen wie eine Schlange und packte seine verletzte Hand. Sie drehte sie kräftig herum, brach ihm das Handgelenk wie einen Zweig und drückte gleichzeitig seine gebrochenen Finger zusammen. Bevor er kontern konnte, riss sie ihm die Pistole aus der anderen Hand und hieb sie ihm über den Nasenrücken. Der Agent ging zu Boden, knallte mit dem Kopf auf den Beton. Er hatte genug.
Sofort suchte sie die Menge nach weiteren Angreifern ab, konnte aber keine entdecken. Jetzt, da Nava die Pistole hatte, blieb immer ein bisschen freier Raum um sie, weil die panischen Menschen verzweifelt versuchten, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie entdeckte Caine; er lag auf dem Boden und hielt die Agentin fest, die ihm eine Waffe an den Bauch presste.
Nava überblickte die Lage sofort. Ohne zu zögern, drückte sie ab.
Als Caine den Schuss hörte, erstarrte die Welt.
…
Caine ist sofort voller Blut. Das Gesicht der Agentin zerstiebt, wird ein klaffendes Loch mit einem blutigen grauen Omelett darin. Jeder Muskel ihres Körpers erschlafft, ihre Waffe fällt zwischen ihnen zu Boden. Und –
(Schleife)
Sie lebt, und die Kugel zerfetzt ihren Hals. Ihre Drosselvene pumpt Blut in die Luft wie ein Geysir. Und –
(Schleife)
Wieder und wieder stirbt sie, als würde er sich in einer Endlosschleife den Zapruder-Film über die Ermordung Kennedys ansehen. Während er voller Entsetzen zusieht, verlangsamt die Zeit noch mehr. Nun kann er sehen, wie die Kugel in ihr Fleisch eindringt. Meist fährt sie ihr durch die Augenhöhle, aber manchmal zerfetzt sie ihr auch den Unterkiefer und überschüttet Caine mit zersplitterten Zähnen.
Ein paar Mal spürt er sengenden Schmerz, als die Kugel ihm selbst in den Schädel kracht, aber diese Sinneseindrücke enden zum Glück schnell – wenn das Bleigeschoss sein Hirn erreicht, wirft es ihn zurück an den Anfang der Filmrolle. Und endlich ändert sich das Drehbuch, als Caine begreift, was er zu tun hat. Mit aller Kraft zwingt er ihren Unterarm hoch und –
…
– die Kugel krachte ihr durchs Handgelenk, veränderte die Flugbahn um 12,3 Grad nach links, und das Bleigeschoss bohrte sich in die Wand. Ehe Caine reagieren konnte, kam ein Schatten herabgestürzt und knallte der Agentin den Kopf auf den Boden, und sie blieb bewusstlos liegen.
«Gehn wir», sagte Nava und zog ihn hoch. «Uns bleibt nicht viel Zeit.»
Der Bahnsteig war fast leer, bot ihnen keinerlei Deckung. Die Schüsse hatten einen Teil der Menge auf die Gleise getrieben, die Menschen rannten durch den Tunnel auf das diffuse Tageslicht zu. Nava warf die Waffe der Agentin weg und beugte sich vor.
«Rauf mit Ihnen!»
Bevor Caine wusste, was geschah, hob sie ihn hoch, warf ihn sich über die Schulter und sprang auf die Gleise hinab. Sie landeten hart, aber irgendwie gelang es Nava, nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren. Vielmehr nutzte sie den Schwung, um Caine wieder von der Schulter zu schwingen und auf den Boden zu stellen.
Binnen Sekunden tauchten sie zwischen den verängstigten Menschen unter, die auf das Licht am Ende des Tunnels zu hinkten.
«Schusswechsel! Ich wiederhole, wir haben einen Schusswechsel!», kreischte es in Crowes Kopfhörer.
«Was ist los? Irgendjemand getroffen?» Die Mission ging den Bach runter, und er war immer noch einen Kilometer entfernt. «Team eins, antworten, verdammt!»
«Hier Team eins. Keine Antwort von Agenten auf Bahnsteig.»
«Dann gehen Sie dort runter!»
«Unmöglich, Sir. Eine Horde Menschen kommt die Rolltreppe rauf. Auch Verletzte. Wir können erst runter, wenn die weg sind. Wir gehen davon aus, dass die Zielperson sich immer noch auf dem Bahnsteig befindet.»
Wenn die beiden Agenten nicht antworteten, waren sie entweder nicht mehr in der Lage dazu oder tot. Crowe hatte unter seinem Kommando noch nie einen Agenten verloren. Der Gedanke, dass es vielleicht gerade passiert war, war wie ein Faustschlag in die Magengrube. Er hätte gern Zeit zum Nachdenken gehabt, aber ihm war klar, dass jedes Zögern weitere Menschenleben kosten konnte. Er war der Leitende hier. Er musste leiten.
Crowe vergegenwärtigte sich die Lage. Vaner würde auf gar keinen Fall auf diesem Scheißbahnsteig bleiben und abwarten, während sich von überall her weitere Agenten ihrer Position näherten. Sie hatten den Fahrstuhl außer Betrieb gesetzt und die Treppen versperrt, sodass als Ausgang nur die Rolltreppe blieb. Er bezweifelte, dass Vaner die riskieren würde, und wenn da noch so ein panisches Gedränge war. Der einzige andere Weg nach draußen war …
«Der Tunnel! Sie versuchen, über die Gleise rauszukommen!», brüllte er, während er eine weitere rote Ampel überfuhr und einen weißen BMW schnitt, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. «Die beiden Tunnelausgänge abriegeln!»
«Wir können nicht gleichzeitig den Bahnhof und den Tunnel adäquat abdecken!»
«Erzählen Sie mir keinen Scheiß von wegen adäquat abdecken! Lassen Sie ein Zweierteam bei der Rolltreppe. Alle anderen auf die Gleise. Sofort!»
«Verstanden.»
«Noch eins», sagte Crowe, kurz innehaltend. «Erledigen Sie Vaner. Ich gehe kein weiteres Risiko mehr ein. Bei Identifikation … töten.»
Ein paar Ratten machten sich fiepend davon, als Vaner und Caine versuchten, mit der Menschenmenge Schritt zu halten. Caine beachtete die Tiere nicht, konzentrierte sich vielmehr voll darauf, nicht hinzufallen. Als sie sich dem Ende des Tunnels näherten, verlangsamten Nava und Caine ihre Schritte und blieben stehen. Obwohl es mitten am Tag war, war das Licht trübe, der Himmel schwarz von Sturmwolken. Nava sah sich um, aber der Regen fiel in Strömen und erschwerte die Sicht.
Draußen kamen sie noch langsamer voran. Da es links und rechts eine steile Böschung hinaufging, waren sie gezwungen, die rutschigen Gleise und das aufgeweichte Gleisbett zu benutzen. Immer wieder glitten Leute aus und schlugen hin. Manche blieben liegen, riefen um Hilfe oder hielten sich die Hände über den Kopf und zuckten unter hysterischen Schluchzern. Andere kämpften sich wieder hoch und stolperten weiter, schlammverschmiert wie Zombies in einem billigen Film.
Auf einmal blieben weiter vorn die Leute vor einer improvisierten Absperrung der Polizei stehen. Caine und Nava blieben im hinteren Teil der Menge. Nava löste ihren Pferdeschwanz und ließ sich die langen, nassen Haare ins Gesicht fallen, damit niemand sie vom Bahnsteig her erkannte. Glücklicherweise blieben sie in dem ganzen Chaos unbeachtet.
«Herrschaften, bitte beruhigen Sie sich und hören Sie zu», rief ein untersetzter Cop durch ein Megaphon. «Alles wird gut. Wir müssen nur kurz Ihre Personalien überprüfen.»
Dann wurden sie angewiesen, sich in drei Reihen anzustellen. Es standen Polizisten bereit, um jedem, der überprüft worden war, die rutschige Böschung hinaufzuhelfen. Zwar beschwerten sich ein paar Meckerköpfe darüber, dass man sie dazu zwang, im strömenden Regen herumzustehen, aber die meisten Menschen standen viel zu sehr unter Schock, um irgendetwas anderes zu tun, als den Anweisungen zu folgen.
Caine warf Nava einen Blick zu; sie hatte eine Hand in der Jackentasche. Da ihre Jacke durchnässt war, konnte er den Umriss einer Schusswaffe erkennen. Er wusste, dass das alles in Wirklichkeit gar nicht passierte, dass es sich nur um eine Wahnvorstellung handelte, aber – wenn er sich nun irrte? Er musste Nava aufhalten.
Seine Gedanken rasten. Er schloss die Augen, und auf einmal wusste er, was er zu tun hatte.
«Bevor Sie wieder auf jemanden schießen», sagte Caine. «Ich habe einen Plan.»
«Sie haben dreißig Sekunden», sagte sie. «Ich höre.»
«Als Erstes», sagte Caine, «brauche ich eine Waffe.»
Sie hielten sich zwar am hinteren Ende der Menge auf, aber nach ihnen kamen noch einmal fünfzig Fahrgäste, und weitere dreißig drückten sich im Tunnel herum, weil sie nicht nass werden wollten. Langsam bewegten Caine und Nava sich weiter nach hinten und suchten die Gesichter der Leute ab. Caine hoffte, dass er das Richtige tat. Aber eigentlich war alles besser, als Nava erneut mitten zwischen den Leuten drauflosballern zu lassen.
Dann erblickte Caine ihn. Der Mann war perfekt. Caine machte Nava auf ihn aufmerksam, und sie nickte und bahnte sich einen Weg zu ihm. Als sie vor dem dunkelhaarigen Mann stand, lächelte sie ihn an. Der Mann warf einen Blick auf Navas durchweichtes T-Shirt, das den Umriss ihrer Brüste erkennen ließ, und erwiderte ihr Lächeln.
Als Caine ihm eine Waffe in die Rippen drückte, verging ihm das Lächeln. Entsetzt sah er wieder zu Nava, suchte ihren Beistand, aber sie zog ebenfalls ihre Waffe und hielt sie ihm an den Bauch.
«Mitkommen», sagte Nava. «Langsam.» Sie ging neben dem Mann her, hielt ihn beim Arm, ohne die Waffe zurückzuziehen, die von seinem Sportsakko verdeckt wurde. Caine folgte ihnen. Als sie die beruhigende Dunkelheit des Tunnels erreichten, nahmen sie ihn in die Zange.
«Geben Sie mir Ihre Brieftasche», wies Caine ihn an.
«Scheiße, ihr raubt mich aus?», fragte der Mann ungläubig. «Ich fass es nicht! Erst dreht jemand durch und fängt an rumzuballern, und dann werd ich auch noch ausgeraubt?»
Nava stieß ihm die Pistole in die Rippen. «Die Brieftasche», befahl sie.
«Schon gut, schon gut.» Der Mann wühlte in seiner Manteltasche, zog eine schwarze Brieftasche von Gucci hervor und gab sie Caine.
Caine zog seinen Führerschein heraus. «Richard Burrows. Werden Sie Rick oder Rich genannt?»
«Rick», sagte er wütend.
«Gut, Rick. Ist das Ihre Familie?», fragte Caine und hielt ihm ein Foto hin, auf dem Rick mit einer hübschen Blondine zu sehen war, die ein Baby auf dem Arm hielt. Rick starrte Caine giftig an und nickte. Nava klappte ihr Handy auf und tippte eine Nummer ein.
Nach ein paar Sekunden sagte sie: «Ich bin’s. Fahrt in die –», sie hielt inne und sah auf Ricks Führerschein, «Pine Street 4000. Brecht in das Haus ein. Greift euch die Blonde und das Kind und bringt sie in den Unterschlupf. Wenn ihr in der nächsten Stunde nichts von mir hört, umbringen.»
Nava klappte das Handy zu, und Caine beobachtete Ricks Reaktion. Sein Gesicht nahm einen bizarren Ausdruck an, irgendetwas zwischen Angst und Wut, wenngleich darunter auch eine stille Resignation zu spüren war.
«Was wollen Sie?», flehte Rick. Ehe Nava antworten konnte, übernahm Caine. Er konnte dem armen Kerl, den er sich als Opfer auserkoren hatte, besser gut zureden.
«Ich sag Ihnen mal, was wir nicht wollen», sagte Caine. «Wir wollen nicht, dass Ihrer Familie etwas zustößt. Glauben Sie mir das?»
Rick nickte langsam; seine Lippen zitterten. Er sah so aus, als ob er Caines Worten keinen Glauben schenkte, und das war auch gut so. Caine hasste sich selbst dafür, aber ihm war klar, dass Rick alles tun würde, was sie wollten, solange er glaubte, dass seine Familie in Gefahr war.
«Wenn Sie genau das tun, was ich Ihnen sage, wird Ihrer Familie nichts passieren.» Caine machte eine Pause und starrte Rick in die Augen, wohl wissend, dass er gerade dabei war, eine Grenze zu überschreiten. «Wenn nicht, werden Sie derjenige sein, der sie getötet hat, nicht ich. Ist das klar?»
Rick nickte erneut. Auf einmal wollte Caine am liebsten alles zurücknehmen und dem Mann sagen, dass niemand in seinem Haus war, dass seine Frau und sein Kind in Sicherheit waren. Aber das konnte er nicht. Es gab kein Zurück. Er versuchte, sich damit zu trösten, dass nichts von alldem wirklich geschah, aber irgendwie gelang es ihm nicht. Anscheinend trat gerade der gesunde Teil von ihm in den Hintergrund, während der Wahn seine eigenen Regeln aufstellte.
Caine schüttelte den Gedanken ab und wandte sich wieder an Rick, erläuterte ihm sorgfältig seinen Plan. Rick protestierte, aber Caine versicherte ihm, dass alles prima klappen würde, solange er nur tat, was Caine sagte.
«Strecken Sie Ihre Hand aus», sagte Caine. Rick befolgte die Anweisung, und Caine drückte ihm die Pistole in die zitternde Hand. Rick starrte auf die Waffe hinab, als handelte es sich um eine scharfe Handgranate. «Stecken Sie sie in die Tasche.» Rick versuchte es, aber seine Hand zitterte so sehr, dass er es erst beim dritten Versuch schaffte.
Caine zeigte auf die kürzeste der drei Schlangen. Rick sah dorthin, dann wieder zu Nava. Sie senkte ihre Waffe. Er trottete los, langsam, wie ein Mann auf dem Weg zur Hinrichtung. Sobald er außer Hörweite war, sah Nava Caine beeindruckt an.
«Das haben Sie gut hingekriegt.»
«Ja – so gut, dass er fast einen Herzinfarkt bekommen hat.»
«Sie hatten keine andere Wahl.»
Caine starrte sie an. «Man hat immer eine andere Wahl.» Aber schon als ihm die Worte über die Lippen kamen, wurde Caine klar, wie scheinheilig das war. Er fragte sich, wann ihm seine Menschlichkeit abhanden gekommen war.
Schweigend warteten sie fünf Meter hinter Rick in der Schlange. Zehn Minuten vergingen. Nava hatte den Eindruck, dass es für Rick die längsten zehn Minuten seines Lebens waren. Alles, was er tat, offenbarte dem geübten Auge sein langsam anwachsendes Grauen. Ständig trat er von einem Fuß auf den anderen, nestelte an sich herum. Aber seine nackte Angst bereitete Nava keine Sorgen.
Wohl aber, dass er alle halbe Minute einen flehenden, furchtsamen Blick zurück zu seinen vermeintlichen Verfolgern warf. Bei diesem Blick gefror ihr das Blut in den Adern. Wenn die Agenten vorn bei der Absperrung etwas von ihrem Job verstanden, wussten sie Burrows Verhalten sofort zu deuten, und das Spiel war aus.
In Anbetracht der äußeren Umstände bot Caines Plan ihnen wahrscheinlich die größte Chance zu entkommen. Im Großen und Ganzen hielt sie ihn auch für gut; viel entscheidender aber war, dass ihr Vertrauen in Caine immer stärker wurde, dass sie mit immer größerer Sicherheit wusste, dass alles, was Caine plante, auch genau so eintrat.
«Der Nächste.» Agent Sands blieb auf Draht. Gerade hatte er über Funk erfahren, dass Hauser und Kelleher auf dem Weg ins Krankenhaus waren. Wer die zwei außer Gefecht setzen konnte, hatte was drauf.
Sands konnte nicht fassen, was Caine und Vaner mit ihnen angestellt hatten. Er betete zu Gott, dass Caine in seiner Schlange stand und dass er ihn festnehmen durfte. Und wer weiß, vielleicht krachte Caines Gesicht auf dem Weg in die Zentrale ein paar Mal versehentlich gegen Sands Faust. Sands lächelte bei der Vorstellung. Wenn er Caine schnappte, dann würde das Schwein erfahren, was es hieß, Reue zu empfinden, noch bevor er in Untersuchungshaft kam.
«Der Nächste!», brüllte Sands erneut. Sicher, in dem strömenden Regen konnte man kaum etwas hören, aber der Mann, der jetzt dran war, musste doch sehen, dass die Frau vor ihm längst durchgewunken worden war. Der Mann warf einen nervösen Blick hinter sich.
Sands war alarmiert. Alle anderen Leute waren im Laufschritt unter die Plane gekommen, um endlich dem Regen zu entkommen. Aber dieser Typ ging ganz langsam zwischen den Holzabsperrungen hindurch, die Augen auf den Boden gerichtet, als bewegte er sich über ein Minenfeld. Keinem der sechs Polizisten, die hier herumliefen, schien das aufzufallen, aber was war von städtischen Cops auch anderes zu erwarten.
Als der Mann vor ihm stand, konnte Sands sehen, dass er eine Riesenangst hatte; seine Gesichtsfarbe erinnerte an alten Kleister. Er bewegte nervös die Hände – in die Hosentaschen, wieder raus, an die Hüften –, als ob er versuchte, gelassen zu wirken. Wenn es eines gab, das Sands wusste, dann, dass Unschuldige nicht versuchten, gelassen zu wirken. Schon gar nicht Unschuldige, die im Regen angestanden hatten.
Obwohl die Gesichtszüge des Mannes leicht von David Caines Foto abwichen – die Nase ein bisschen zu breit, die Augen schmutzig braun –, gab es keinen Zweifel mehr. Zumal die restliche Beschreibung zutraf – eins achtzig, circa achtzig Kilo. Sands korrigierte seine Haltung, machte sich kampfbereit.
«Von wo sind Sie heute abgefahren, Sir?», fragte er, ohne das Gesicht des Mannes aus den Augen zu lassen.
«Ähm … ich … New York. Ich bin in New York eingestiegen», stammelte der Mann. Er sah auf seine Füße hinab.
«Können Sie sich ausweisen?»
Der Mann nickte und griff nervös in seine Manteltasche. Sands’ Muskeln spannten sich an. Wenn er eine Waffe zieht, knall ich ihn ab, Kopfschuss und fertig. Scheiß drauf, was Crowe sagt. Aber der Mann zog eine dünne schwarze Brieftasche und gab sie ihm mit zitternder Hand.
Sands klappte das Etui auf und warf einen Blick auf den Namen, während er gleichzeitig den Mann vor sich im Auge behielt. Caine, David – Scheiße nochmal. In einer flüssigen Bewegung ließ Sands die Brieftasche fallen, zog seine Waffe und legte mit beiden Händen auf Caines Kopf an.
«Hinknien und Hände hinter den Kopf! RUNTER, DU ARSCHGESICHT, ABER SOFORT!»
Caine war wie gelähmt, ein Hirsch im Lichtkegel der Scheinwerfer. Ein brutaler Tritt ins Knie von Martin Crowe, der plötzlich neben ihm war. Er fiel rückwärts um. Sands holte aus und trat Caine so fest in den Unterleib, wie er konnte. Es fühlte sich an, wie in Pudding zu treten.
Caine hustete einen Blutklumpen aus.
«Das war für Kelleher, du miese Drecksau.»
Sands beugte sich vor und packte ihn bei den Haaren, riss sein verdrecktes Gesicht herum und musterte es erneut. Keine hundertprozentige Übereinstimmung, aber die Leute sahen nicht unbedingt immer so aus wie auf den Fahndungsfotos. Ja, das war Caine. Er tastete ihn rasch ab und fand die Waffe. Die Waffe, mit der er auf Hauser und Kelleher geschossen hatte.
Sands holte mit der Faust aus und schlug so fest zu, wie er konnte. Blut spritzte aus der Nase, die sich mit einem widerwärtigen Knacklaut verflachte. Sands wollte Caine noch eine verpassen, aber eine starke Hand hielt seinen Arm zurück. Er fuhr herum, und da stand Crowe, sah ihn ernst an. Er hatte es zugelassen, dass Caine eine kleine Abreibung bekam, aber jetzt war es genug. Sands nickte und ließ die Faust sinken. Dann bückte er sich und zog Caine an den Haaren, bis er die Augen aufmachte.
«Du hast auf einen Freund von mir geschossen, du Schwein», fauchte Sands ihm in das jämmerliche Gesicht. «Dafür wirst du braten, das ist dir doch wohl klar?» Der Mann kniff nur die Augen zu und begann zu flennen wie ein kleines Kind. Ja, klar. Sie waren alle groß und stark, bis man sie schnappte. Dann heulten die Schlappschwänze bloß noch nach ihrer Mama. Er stieß Caines Kopf in den Dreck und stand auf.
«Er gehört Ihnen, Crowe.»