Kapitel // 17 //

Caine fühlte sich schwerer an, nachdem er erschlafft war, doch Nava lief weiter. Sie wusste, dass nur der Adrenalinschub sie am Laufen hielt; wenn sie stehen blieb, kippte sie womöglich um. Sie musste sie beide in Sicherheit bringen.

Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, riss Nava den winzigen GPS-Sender von Caines Schulter, den sie erst vor einer Stunde dort angebracht hatte, und warf ihn ins Feuer. Nun hatte Grimes keine Möglichkeit mehr, sie aufzuspüren. Die Frage war bloß, wo sie sich verstecken sollten.

In ihre Wohnung konnte sie nicht zurück, und Caines war auch keine Option. Einen Wagen kurzzuschließen, kam auch nicht in Frage, denn Caine blutete schlimm. Sie musste einen Ort finden, an dem sie seine Wunden versorgen konnte. Als sie zu dem grünen Straßenschild hochsah, kam ihr eine Idee.

Die Wohnung, in der sie Tae-Woo getroffen hatte, war nur ein paar Blocks entfernt. Sie wusste nicht, ob die RDEI sie regelmäßig nutzte oder nur jenes eine Mal. Falls sie dort auf mehr als zwei Agenten traf, war es Selbstmord. Caine stöhnte auf ihrer Schulter. Sie hatte keine Wahl – sie musste es riskieren.

Sie ging weiter. Nur noch drei Blocks. Auf der Straße waren nur wenige Fußgänger unterwegs, aber diejenigen, an denen sie vorbeiging, waren waschechte New Yorker und wussten, dass man sich besser um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Daher stellte sich niemand der schönen Brünetten in den Weg, die auf der Schulter einen Mann mit blutendem Bein trug. Dafür gab es bestimmt eine gute Erklärung, und wenn nicht, wollte niemand etwas damit zu tun haben.

Als sie das Gebäude erreichte, war sie erschöpft. Ihr Rücken und ihre Schulter pochten unter Caines Gewicht, während sie die fünf Treppen hochstieg. Die letzten Stufen schaffte sie nur durch reine Willensanstrengung.

Nava legte Caine im Hausflur ab und näherte sich leise der Wohnung. Ihre Sig-Sauer 9mm mit beiden Händen haltend, ging sie einen Schritt zurück und trat die Tür auf. Sie schwenkte die Waffe durch das dunkle Zimmer, wie sie es auch ein paar Nächte zuvor getan hatte, doch diesmal war es menschenleer. Nava seufzte erleichtert und zerrte Caine hinein.

Nachdem die Tür hinter ihnen verschlossen war, tastete sie an der Wand nach dem Lichtschalter. Als die nackte Glühbirne, die von der Decke hing, aufleuchtete, sah sie, dass das Zimmer im gleichen Zustand war, wie sie es verlassen hatte. Kahle Wände, schmutziger Holzfußboden, eine winzige Küche mit gelbem Kühlschrank. Alles war in Ordnung. Sie atmete die Luft aus, die sie angehalten hatte, und leerte ihren Rucksack auf dem Boden.

Ihre erste Sorge galt der Sicherheit. Sie stopfte etwas Kitt in die obere und untere Türritze. Es wieder zu entfernen, wenn sie die Wohnung verließen, würde eine Drecksarbeit sein, aber im Moment würde es jeden daran hindern, die Tür einzutreten. Als Nächstes begann sie, Caine zu untersuchen. Er sah schrecklich aus.

Sein Gesicht war fahlweiß, und das durchgeschwitzte Hemd klebte ihm auf der Brust. Beide Hände waren rot und aufgeschürft, nach einer kurzen Untersuchung schätzte sie jedoch, dass es nur Fleischwunden waren, nichts Ernstes. Das wirkliche Problem war sein linkes Bein, das fürchterlich blutete. Mit ihrem Dolch schnitt sie seine Jeans entlang der Naht auf.

Obwohl seine Wade blutverschmiert war, schien sie außer ein paar Kratzern und Schwellungen heil zu sein. Das Blut kam aus seinem Knie. Sie fühlte behutsam mit den Händen, um zu bestätigen, was sie vermutete: Seine gesamte Kniescheibe war zertrümmert. Sie konnte den weißlich gelben Knorpel unter der aufgerissenen Haut erkennen.

Sie löste die Stoffstreifen von ihren Händen und breitete die Reste ihres Mantels auf dem Fußboden aus. Nicht die sterilste Umgebung, aber es musste genügen. Sie nahm diverse Skalpelle und Spritzen aus ihrem Arzneikasten. Gerade wollte sie Caine hundert Milligramm Demerol injizieren, als ihr Forsythes Worte in den Sinn kamen: Gehen Sie bei diesem Einsatz davon aus, dass nichts unmöglich und alles wahrscheinlich ist.

Die Wahrscheinlichkeit war gering, aber trotzdem … Sie fluchte leise. Sie durfte es nicht dem Zufall überlassen. Sie legte die Spritze beiseite, brach ein Fläschchen Riechsalz auf und schwenkte es unter Caines Nase. Ein paar Augenblicke, ehe seine Augen aufflogen, wehrte er es unbewusst ab. Zum ersten Mal sah sie ihn von Angesicht zu Angesicht.

Trotz seines geschwächten Zustands schauten seine Augen feurig und herausfordernd, ein tiefes Smaragdgrün. Er drehte seinen Kopf schnell nach links und rechts, um sich zu orientieren, ehe er den Blick wieder auf Nava richtete.

«Wer sind Sie?», hustete er.

«Mein Name ist Nava. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen –»

«Wie helfen?» Caine versuchte sich aufzusetzen, doch Nava drückte seine Schultern nach unten. Seine Beine schabten über den Boden, er zuckte zusammen. «Mein Knie …»

Nava nickte. «Sind Sie allergisch gegen Demerol?»

«Darf ich nicht nehmen», keuchte er.

«Was ist mit –»

«Nein», sagte er, schwer atmend. «Ich darf nichts nehmen. An mir …» Seine Augen flatterten, er biss die Zähne zusammen. «An mir wird ein neues experimentelles Medikament erprobt. Ich darf keine anderen Medikamente nehmen wegen … wegen möglicher Wechselwirkungen.»

«Mist», murmelte sie, «ich muss die Blutung stoppen und Ihr Bein richten. Das wird wehtun.»

Caine nickte. «Tun Sie, was Sie tun müssen. Nur keine Medikamente.»

«Okay», sagte sie zögernd. Sie wollte gerade beginnen, als sie von ihrer eigenen Erschöpfung übermannt wurde. Sie nahm eine andere Spritze aus ihrem Arzneikasten und stieß sie sich in den Oberschenkel. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als die Amphetamine durch ihr Blut strömten. Plötzlich hellwach, nahm sie ein Skalpell von ihrem improvisierten Tischtuch und machte den ersten Einschnitt.

 

«Wo ist er?» Forsythe war wütend.

«Wir suchen überall, aber wie gesagt, er ist von der Bildfläche verschwunden», berichtete ihm Grimes zum fünfzigsten Mal.

«Erzählen Sie mir noch einmal, was geschehen ist.»

«Nachdem mir klar geworden war, dass Agent Vaner das Einsatzkommando ausgetrickst hatte, habe ich all ihre GPS-Sender verfolgt, da ich dachte, dass sie bestimmt einen weiteren benutzt hat, um das tatsächliche Zielobjekt zu markieren. Dann habe ich mir das Satellitenbild angesehen.»

Grimes spielte erneut das Überwachungsvideo eines NSA-Satelliten 240 Kilometer über der Erdoberfläche ab, dessen Timecode bei 18 : 01 : 03 stand.

«Okay, das hier ist David Caine», sagte Grimes und deutete auf dem Monitor auf den Kopf eines Mannes. «Man kann hier sehen, wie ihm der andere Typ einen Aktenkoffer übergibt.»

«Wissen wir, wer er ist oder weshalb sich die beiden getroffen haben?», fragte Forsythe.

«Er könnte ein Pizzabote sein. Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Das alles ist erst vor einer Stunde passiert.»

Forsythe schwieg mit finsterem Blick, bis Grimes fortfuhr. «Wie auch immer, zwanzig Sekunden nach der Übergabe explodiert dieser Wagen. Aber wenn man sich das Ganze mit Infrarot anschaut …», Grimes hielt das Video an, spulte dann ein paar Frames zurück und zoomte auf ein kleines Viereck neben Caines Füßen, «… kann man erkennen, dass nicht der Wagen explodiert, sondern diese Box. Als ich das sah, habe ich den Bildausschnitt vergrößert.» Der Zoom wurde wieder aufgezogen. Dann fokussierte Grimes eine dunkle Gestalt auf dem Dach eines Gebäudes. «Auch wenn ich nicht hundertprozentig sicher sein kann, sieht es für mich so aus, als hätte dieser Kerl eine Art Fernbedienung.»

«Wollen Sie damit sagen …?»

«Dass jemand versucht hat, David Caine in die Luft zu jagen. Ja, genau das will ich damit sagen.»

«O Gott.» Forsythe verlor für einen Augenblick die Fassung. «War es Vaner?»

«Nein, aber sie könnte dort gewesen sein.» Grimes zeigte wieder auf den Monitor, auf dem das Video in Zeitlupe weiterlief. «Die eigentliche Explosion scheint diese Rube-Goldberg-Kettenreaktion ausgelöst zu haben. Wegen der ganzen Baustellen standen jede Menge Laster auf der Straße herum, dazu ein paar Benzinfässer zum Nachtanken. Unschön, wenn so etwas da rumsteht, wo gerade ein Feuer ausbricht.»

Lautlos explodierten auf dem Monitor der Reihe nach die Laster.

«In dem Moment taucht sie auf.» Grimes hielt das Bild bei einer Obersichtaufnahme einer Frau an. «Leider haben wir keine deutliche Aufnahme von ihrem Gesicht erhalten. Es könnte Vaner sein, es könnte aber auch meine Mutter sein. Es ist nicht festzustellen.» Er drückte auf einen anderen Kopf, und das Video lief weiter.

«Sehen Sie? Sie rennt wie vom Teufel gejagt um die Ecke.»

«Vielleicht ist sie vor dem Feuer davongelaufen», meinte Forsythe.

Grimes schüttelte den Kopf. «Auf keinen Fall. Sie läuft zum Feuer. Vorausgesetzt, die Tussi ist keine totale Pyromanin, würde ich sagen, sie sucht nach unserem Mann.» Grimes berührte den Monitor und zog eine unsichtbare Linie von der Frau zu Caine, der einen halben Block weiter an einer Wand lehnte.

«Und dann?»

Grimes zuckte mit den Achseln. «Keine Ahnung. Auf dem letzten Bild, das wir haben, läuft die Frau zu dieser Reihe brennender Laster. Danach gab es zu viel Qualm, um etwas zu erkennen.»

«Was ist mit Infrarot?»

Grimes drehte sich auf seinem Stuhl und sah Dr. Jimmy an, als wollte er sagen: Erzählen Sie mir bloß nicht, wie ich meinen Job zu machen habe! «Himmel, warum habe ich daran nicht gedacht? Ach, stimmt, ich habe es ja bereits getan. Bei der Hitze des Feuers ist Infrarot zwecklos. Und als sich der Rauch verzogen hatte, waren die beiden verschwunden.»

«Was ist mit dem GPS-Sender, den Vaner benutzt hat?»

«Der war ein paar Minuten nach der Explosion tot.»

Forsythe schwieg einen Augenblick und kam dann zu dem Entschluss, dass alles irgendwie Grimes’ Schuld war. «Niemand, ich wiederhole: Niemand geht nach Hause, ehe wir nicht unseren Mann gefunden haben. Verstanden?»

«Wie Sie wollen», seufzte Grimes.

Forsythe marschierte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Grimes schaute ihm hinterher. «Arschloch.»

 

«Tommy», keuchte Caine. «Er ist tot, nicht wahr?», fragte er die Frau.

«Ich weiß es nicht», sagte sie, aber er wusste, dass sie log. Seinem Blick ausweichend, fuhr sie fort, sein Knie zu verarzten. Das war beinahe eine Erleichterung; die nackte Körperlichkeit des Schmerzes half, den Schock angesichts von Tommys Tod zu betäuben. Er fühlte eine immense Schuld. Wenn Caine ihn nicht angerufen hätte, wäre Tommy niemals dort gewesen. Er hätte einfach sein Leben weitergeführt. Und nun … nun war er tot.

«Die Explosion hat ihn in die entgegengesetzte Richtung geschleudert. Er könnte es überlebt haben. Sie haben es überlebt.» Die Frau sah ihm in die Augen. «Es tut mir Leid um Ihren Freund. Aber wenn Sie diese Sache überstehen wollen, dürfen Sie nicht an ihn denken. Zumindest im Moment nicht.»

Er starrte sie zornig an. Wie kam sie dazu, ihm das Trauern zu verbieten? Plötzlich wurde er von widersprüchlichen Gefühlen übermannt. Schuld, Verwirrung, Dankbarkeit, Kummer, Angst, Zorn. Jede Empfindung brandete über ihn hinweg wie eine Woge, die sich dann zurückzog, um der nächsten Platz zu machen. Er holte tief Luft und putzte sich die Nase.

Die fremde Frau war diskret genug, Caines Würde nicht zu verletzen; sie tat so, als starrte sie aus dem dunklen Fenster, während er mit einem Blinzeln seine Tränen zurückhielt. Nachdem er sich gefasst hatte, widmete sie sich wieder seinem Knie. Aus irgendeinem Grund schien es nicht mehr so schlimm zu schmerzen.

«Was haben Sie gemacht?», fragte er.

«Eine örtliche Betäubung. Das müsste den Schmerz verringern, jedenfalls solange ich die Knorpelschäden versorge.»

Er sah sie zum ersten Mal richtig an. Caine konnte sich nicht erinnern, jemals eine so athletische Frau gesehen zu haben. Ihr figurbetontes schwarzes Tanktop unterstrich die straffen Muskeln ihrer Schultern und Arme. Ihr Bauch war flach, ihre Beine lang und kraftvoll, ohne ein Gramm Fett.

Ihre Haut war makellos und von dunkeloliver Farbe; sie hatte ausgeprägte Züge, ihr langes, walnussbraunes Haar war zu einem zweckmäßigen Pferdeschwanz gebunden und offenbarte ein Gesicht, das wunderschön gewesen wäre, wenn sie gelacht hätte. Doch stattdessen war ihr Mund eine verschlossene, waagerechte Linie, und ihre Augen waren kalt und leer.

«Wer sind Sie?», fragte er schließlich.

«Mein Name ist Nava Vaner.»

«Nein, ich meine … wer sind Sie? Warum haben Sie mich gerettet? Was wollen Sie?»

«Das ist eine schwierigere Frage.» Nava seufzte und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. «Ich weiß nicht einmal, ob ich sie mir selbst beantworten kann.»

Caine schwieg einen Moment lang. Dann sagte er nur: «Versuchen Sie es.»

 

Nava starrte David an und spürte das intensive Verlangen, ihm alles zu erzählen. Sie war so lange allein gewesen und hatte so gut mit der Lüge gelebt, dass sie fast die Wahrheit vergessen hatte. Obwohl es ein Risiko war, kam es ihr wie die sicherste Sache der Welt vor, ihm ihre wirkliche Geschichte zu erzählen. Die Stimme in ihrem Kopf, die Stimme, die sie in all diesen Jahren am Leben gehalten hatte, schrie sie an, sie solle lügen.

Sie spürte aber deutlich, dass es gut wäre, wenn sie es ihm einfach erzählte. Und dann war da Julia. Bisher war alles, was sie gesagt hatte, wahr geworden – und sie hatte Nava erzählt, dass David Caine der eine Mensch war, dem sie vertrauen konnte. Während sie nachdachte, fuhr Nava fort, seine Wunde zu reinigen.

Er schien zu verstehen. Er drängte sie nicht und versuchte nicht, die Stille mit leerem Geschwafel zu füllen. Vielmehr wartete er und biss sich auf die Zähne angesichts der heftigen Schmerzattacken, als sie behutsam Metall- und Glassplitter aus seinem Fleisch zog. Schließlich schaute sie ihn an. Sie war bereit.

«Ich habe Sie angelogen», sagte sie mit fester Stimme. «Mein wirklicher Name ist nicht Nava Vaner, auch wenn ich ihn schon seit über zehn Jahren benutze. Als ich geboren wurde, haben meine Eltern …» Sie hielt inne, überrascht, welche Gefühle hochkamen, wenn sie nur an die beiden dachte. «… meine Mutter nannte mich Tanja Kristina.» Nava holte tief Luft und war endlich so weit, ihre Geschichte zu erzählen.

«Ich war zwölf Jahre alt, als sie starb.»