Caine hatte TLE – Temporallappenepilepsie. Wie ihm sein Arzt mitteilte, waren olfaktorische und visuelle Halluzinationen vor einem Anfall ganz normal, ebenso das Hören von Stimmen und Déjà-vu-Erlebnisse. Die Gesamtheit dieser Gerüche, Bilder, Laute und Empfindungen wurde als «Aura» bezeichnet, das Vorgefühl beim Herannahen eines epileptischen Anfalls. Caine dachte, es würde ihm besser gehen, da er nun wusste, dass solche Auren ein typisches Vorkommnis bei TLE-Kranken waren, aber das Gegenteil war der Fall.
Das folgende Jahr war ein einziger Albtraum. Caine musste immer wieder ins Krankenhaus, und die Anfälle wurden schlimmer.
«David, davon wusste ich ja gar nichts», sagte Jasper, als Caine seine Geschichte schließlich zu Ende erzählt hatte. «Das tut mir Leid.»
Caine zuckte mit den Achseln. «Auch wenn du davon gewusst hättest, hättest du trotzdem nichts daran ändern können.»
«Ich weiß, aber dennoch wünschte ich, du hättest mir davon erzählt.» Jasper zuckte mit den Schultern. «Weiß man, wodurch diese Anfälle ausgelöst werden?»
«Mein Arzt sagt, es sei idiopathisch, und das bedeutet, sie haben keinen blassen Schimmer.»
«Und sie können es nicht behandeln?»
Caine schüttelte den Kopf. «Im Laufe des vergangenen Jahres haben sie sechs verschiedene Antiepileptika an mir ausprobiert, aber die Wirkung war einzig und allein die, dass ich jedes Mal gekotzt habe wie ein Weltmeister.»
«O Gott», sagte Jasper. «Und ich dachte, Epilepsie wäre heilbar.»
«In etwa sechzig Prozent der Fälle wirken diese Medikamente ja auch. Aber ich zähle zu den glücklichen vierzig Prozent.»
Ehe Jasper etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür. «Darf ich hereinkommen?», fragte Dr. Kumar der Form halber und huschte dann, ohne eine Antwort abzuwarten, in Caines Zimmer.
«Aber sicher doch», sagte Caine, obwohl der Mann den Raum längst betreten hatte. Dr. Kumar nahm Caines Krankenakte zur Hand und blätterte sie durch, wobei er energisch nickte, so als wäre er in ein Gespräch mit sich selbst vertieft und pflichte allem bei, was er sagte. Schließlich legte er die Akte weg, leuchtete Caine mit einer Stifttaschenlampe in beide Augen und trat dann einen Schritt zurück.
«Wie fühlen Sie sich?»
«Erschöpft, aber ganz okay.»
«Wie lange haben Sie die Aura wahrgenommen, bevor es zu dem Anfall kam?»
«Nur ein paar Minuten.»
«Hm. Und das war die kürzeste Aura seit der VNS?»
«Ja.» Caine rieb sich unwillkürlich die Operationsnarbe. Drei Monate zuvor hatte ihm Dr. Kumar unter einem Nerv im Hals ein batteriebetriebenes Gerät implantiert. Dieses Verfahren, das als Vagus-Nerv-Stimulation bezeichnet wurde, zeigte bei nur etwa einem Viertel aller Patienten eine positive Wirkung. Dennoch hatte Caine, verzweifelt, wie er war, es ausprobiert. Er zählte jedoch nicht zu den Glücklichen, bei denen es wirkte.
Dr. Kumar seufzte. «Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, David. Weitere Verfahren gibt es nicht, und keins der auf dem Markt erhältlichen Pharmazeutika hat bei Ihnen angeschlagen. Offen gesagt, fürchte ich, Ihnen bleiben keine Möglichkeiten mehr», sagte Dr. Kumar und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: «Es sei denn, Sie haben es sich mit meiner Studie noch einmal überlegt.»
Dr. Kumar hatte Caine zum ersten Mal neun Monate zuvor gefragt, ob er an der Erprobung eines experimentellen neuen Medikaments teilnehmen wolle. Damals hatte er eingewilligt. Caine hatte die Bluttests und die ganzen Formalitäten absolviert, hatte aber, als ihm Dr. Kumar im letzten Moment die möglichen Nebenwirkungen aufgezählt hatte, doch noch einen Rückzieher gemacht.
Aber das war vor der VNS gewesen, als es noch Hoffnung gegeben hatte. Jetzt blieben Caine, wie Dr. Kumar es so feinfühlig ausgedrückt hatte, keine Möglichkeiten mehr. Wenn die Anfälle so weitergingen, würde er binnen weniger Jahre nur noch vor sich hin vegetieren. Und bis dahin wäre sein Leben eine einzige Hölle, denn er konnte nie wissen, wann er plötzlich ohnmächtig werden und wie ein Fisch, der aus dem Wasser springt, zu Boden stürzen würde.
«Ist in Ihrer Studie denn noch Platz für mich?»
«Bis gestern hatten wir keinen Platz mehr frei, aber heute Morgen ist eine meiner Patientinnen abgesprungen, also –»
«Und warum ist sie abgesprungen?», unterbrach ihn Caine.
«Was? Ach, sie klagte darüber, dass sie von dem Medikament schreckliche Albträume bekäme. Ich persönlich glaube da eher an psychosomatische Ursachen.» Der Arzt verstummte und atmete tief durch. «Jedenfalls ist momentan ein Platz frei. Aber Sie müssen sich jetzt sofort entscheiden.»
«Also gut», sagte Caine und nickte resigniert.
«Sie erinnern sich an die möglichen Nebenwirkungen?»
«Wie könnte ich die vergessen?»
«Ach ja – es hat in Ihrer Familie Fälle von Schizophrenie gegeben, nicht wahr?»
Jasper hob eine Hand. Dr. Kumar wandte sich ihm zu, so als würde er Caines Bruder jetzt erst bemerken.
«Ah, Sie müssen der Zwillingsbruder sein. David hat mir erzählt, dass Sie kürzlich einen Zusammenbruch erlitten haben.»
Jasper sah zu Caine hinüber, der nickte, wie um zu sagen: Beantworte einfach nur die Fragen, ich erkläre dir das später. Jasper wandte sich wieder dem Arzt zu. «Ja.»
«Wann wurden Sie entlassen?»
«Vor fünf Wochen.»
«Welche Medikation haben Sie bekommen?»
«Momentan nehme ich Zyprexa, aber ich habe auch schon Seroquel und für kurze Zeit Risperdal genommen.»
«Interessant. Und Ihre Symptome sind gegenwärtig unter Kontrolle?»
«Die Stimmen reden mir nicht mehr ein, die Regierung sei hinter meinem Gehirn her, wenn es das ist, was Sie meinen-deinen-keinen-reinen», sagte Jasper mit schmerzerfülltem Grinsen.
Caine beobachtete, wie Dr. Kumar Jasper in Augenschein nahm, und versuchte sich in den Arzt hineinzuversetzen, versuchte zu sehen, was er sah. Die Schizophrenie hatte sich verheerend auf Jaspers Äußeres ausgewirkt; er sah aus wie jemand, dessentwegen man die Straßenseite wechseln würde, wenn er einem entgegenkäme. Wenig später wandte sich Dr. Kumar wieder an Caine.
«Also, wie entscheiden Sie sich?», fragte der Arzt.
«Bleibt mir denn eine andere Wahl?» Caine seufzte. «Ich bin dabei.»
«Gut», sagte Dr. Kumar mit dem Anflug eines Lächelns. «Mein Assistent wird sich um die Formalitäten kümmern. Sie werden morgen aus dem Krankenhaus entlassen, müssen aber jeden dritten Tag für einen Bluttest wieder hier erscheinen. Ich möchte, dass Sie Zeitpunkt und Dauer Ihrer Auren und Anfälle schriftlich festhalten. Und falls Sie irgendwelche Schizophreniesymptome bekommen, wie Wahnvorstellungen, chaotische Sprechmuster oder Halluzinationen, die nicht mit einem Anfall in Zusammenhang stehen, dann –»
«Moment mal.» Jasper stand auf und streckte die Hände aus, um Dr. Kumars Litanei zu unterbrechen. «Warum sollte er Schizophreniesymptome bekommen?»
Dr. Kumar wandte sich zu Caines Zwillingsbruder um, als wäre er ein bockiges Kind, doch als er sah, wie grimmig Jasper guckte, beschloss er, die Frage zu beantworten.
«Das Antiepileptikum, das ich gerade erprobe, hat die Nebenwirkung, dass es die Dopaminproduktion des Gehirns anregt. Ihnen ist ja sicherlich bekannt, dass man einen hohen Dopaminspiegel mit Schizophrenie in Zusammenhang gebracht hat. Da das Antiepileptikum zu einer vermehrten Dopaminausschüttung führt, ist es möglich, dass David einen schizophrenen Schub erleidet.»
Als Dr. Kumar sah, dass Caine und Jasper bange Blicke tauschten, fügte er schnell hinzu: «Ich sage nicht, dass es dazu kommen wird, ich sage nur, dass ein geringes Risiko besteht.»
«Wie gering?», fragte Jasper.
«Geringer als zwei Prozent», antwortete Dr. Kumar.
«Und wenn das passiert, setze ich das Medikament ab, nicht wahr?», fragte Caine.
Dr. Kumar schüttelte den Kopf. «O nein, das könnte sehr gefährlich sein. Selbst wenn das Antiepileptikum nicht anzuschlagen scheint, könnte es dennoch eine Wirkung haben. Wenn Sie die Medikation plötzlich absetzen, kommt es wahrscheinlich zu sehr schweren Anfällen.»
«Und was genau soll ich tun, wenn ich anfange, verrückt zu werden?»
«Die Selbstdiagnose einer Geisteskrankheit ist eine sehr schwierige Angelegenheit, und deshalb schlage ich vor, dass Sie sich einmal pro Woche mit meinem Assistenten zu einer psychologischen Auswertung treffen.»
Caine ließ sich in seine Kissen sacken. Dem Gesicht seines Bruders sah er an, dass ausgerechnet Jasper Mitleid mit ihm hatte. O Gott. Caine schloss die Augen und versuchte die ganze Welt auszublenden. Dr. Kumars Worte hallten ihm noch im Kopf wider – schizophrener Schub. Caine konnte es nicht fassen, dass er sich freiwillig einer solchen Gefahr aussetzte. Aber die Anfälle … Wenn sie unvermindert so weitergingen, wäre er bald schlimmer dran als Jasper. Er hatte keine andere Wahl.
«Okay», sagte Caine. Er war erleichtert und hatte gleichzeitig schreckliche Angst.
«Gut.» Dr. Kumar ging zur Tür, blieb dann noch einmal stehen und drehte sich um. «Da fällt mir ein, Sie müssen mir noch eine Erklärung unterschreiben, die es mir ermöglicht, Sie nötigenfalls in eine Nervenklinik einzuweisen.» Ehe Caine etwas darauf erwidern konnte, war der Arzt verschwunden.
«Netter Kerl», meinte Jasper trocken.
«O ja. Er ist der Größte.»
Schweigen. Dann fragte Jasper: «Du willst das also wirklich durchziehen?»
«Ich muss.»
«Hast du denn gar keine Angst, dass du endest wie dein großer Bruder? Verrückt und mit Schaum vorm Mund wie ein tollwütiger Hund-Bund-Pfund-rund?»
Caine stockte der Atem. «Jasper, ist alles in Ordnung mit dir? Ist dieses Gereime nicht ein Anzeichen für –»
«Das ist nichts», sagte Jasper, Caine das Wort abschneidend. Jaspers Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. «Ich reime einfach nur gerne. Ich mag es, wie das klingt.» Er schnalzte ein paarmal mit der Zunge, wie um seine Sätze zu interpunktieren. «Aber zurück zu dir. Bist du sicher, dass du das machen willst?»
«Ich habe keine andere Wahl. Ich kann nicht so weiterleben. Und wenn es mit den Anfällen so weitergeht, na ja …» Caine verstummte.
«Möchtest du, dass ich bei dir bleibe? Ich kann ein paar Tage lang auf deiner Couch pennen, wenn du willst.»
Caine schüttelte den Kopf. «Nein, ich komme schon zurecht. Ich will das alleine schaffen. Das verstehst du doch.»
«Ja», sagte Jasper und rieb sich das stoppelige Kinn. «Ja, das verstehe ich.»
«Aber darf ich dich mal was fragen?»
«Klar.»
«Wie ist das so? Schizophrenie, meine ich», fragte Caine verlegen, weil ihm bewusst wurde, dass er diese Frage seinem Bruder noch nie gestellt hatte. «Was ist das für ein Gefühl?»
Jasper zuckte die Achseln. «Man spürt gar nichts davon. Die Wahnvorstellungen kommen einem real vor. Ganz natürlich, geradezu nahe liegend. So als wäre es die normalste Sache der Welt, dass die Regierung ausspionieren lässt, was du denkst, oder dass dein bester Freund dich umbringen will.» Er schwieg einen Moment lang. «Das ist ja gerade das Unheimliche daran.»
Jasper schluckte und fuhr dann fort: «Wichtig ist: Was auch immer geschieht – oder was auch immer du dir einbildest, dass es geschieht: Du musst die Kontrolle behalten. Versuch dran zu denken, dass du immer noch du selbst bist. Lass es vorübergehen. Such dir einen Halt, Orte oder Menschen, bei denen du in Sicherheit bist. Und gib dir Mühe, in der Welt, die du da geschaffen hast, kluge Entscheidungen zu treffen. Irgendwann findest du dann auch wieder zurück in die Realität.»
Caine nickte und hoffte inständig, dass er Jaspers Ratschläge nie würde befolgen müssen.
«Also», sagte Caine und versuchte, dem Gespräch zumindest wieder den Anschein von Normalität zu geben. «Wo wohnst du denn jetzt?»
«In meiner alten Wohnung in Philly, nur ein paar Blocks vom Campus entfernt.»
«Cool.» Eine Weile schwiegen die Brüder, beide in Gedanken verloren und besorgt darüber, was die Zukunft bringen mochte. Schließlich sah Jasper auf seine Armbanduhr und stand auf. «Wenn du nicht willst, dass ich bleibe, muss ich jetzt los, damit ich noch den Bus nach Hause kriege.»
Caine war erstaunt, wie enttäuscht er war, dass Jasper gehen wollte. Es war ihm offenbar anzusehen, denn Jasper ruderte sofort zurück.
«Wenn du willst, kann ich mich natürlich auch krank melden und ein paar Tage bleiben.»
«Nein, es wird schon gehen. Ich will nicht, dass du Schwierigkeiten kriegst. Es ist ja bestimmt nicht einfach, einen Job zu finden, wenn man –» Caine sprach den Satz nicht zu Ende, aber es war offensichtlich, was er sagen wollte.
«Wenn man verrückt ist, meinst du?», fragte Jasper.
«Komm schon, Mann», sagte Caine erschöpft. «Du weißt, was ich meine.»
«Ja. Entschuldige. Ich bin in letzter Zeit ziemlich leicht reizbar.»
«Macht nichts. Ich auch.» Caine hielt seinem Zwillingsbruder, der beinahe ein Fremder für ihn war, die Hand hin und fragte sich, wie es zu diesem ganzen Schlamassel hatte kommen können. «Danke für deinen Besuch. Ich weiß das wirklich zu schätzen, zumal ich mich bei dir in letzter Zeit so rar gemacht habe.»
Jasper tat Caines Worte mit einer Handbewegung ab. «Wozu hat man denn einen Zwillingsbruder?» Er wandte sich ab und ging in Richtung Korridor, blieb aber in der Tür noch einmal stehen. «Wenn du irgendwas brauchst, hast du ja meine Nummer-Brummer-Hummer-Kummer.»
«Danke», sagte Caine ein wenig beklommen. «Das bedeutet mir viel.» Und als Jasper gegangen war, stellte Caine erstaunt fest, dass dem tatsächlich so war.
Julia wusste, sie war verliebt.
Sie merkte es daran, wie ihr das Herz wehtat, wenn sie getrennt waren, und wie ihr die Hände zitterten, wenn sie zusammen waren. Daran, wie es ihr den Atem verschlug, wenn sie miteinander schliefen, und wie sie sich nach dem Höhepunkt fühlte, ganz warm und aufgekratzt und als wären ihre Knochen aus Gummi. Und mehr noch fühlte sie sich immer absolut sicher. In Peteys Armen konnte ihr nichts und niemand etwas anhaben.
Petey. Er liebte diesen Kosenamen, den sie ihm gegeben hatte. Sie konnte es gar nicht glauben, wie Petey ihr Leben umgekrempelt hatte. Als sie ihn kennen lernte, war sie ein Mädchen gewesen, und nun war sie eine Frau.
Als sie zwei Jahre zuvor an der Graduate School angefangen hatte, glaubte Julia schon nicht mehr, dass sie jemals einen Freund finden würde. Ihr war bewusst, dass sie wahrscheinlich noch zu jung war, um der Liebe gänzlich abzuschwören, aber sie war noch nie mit jemandem ausgegangen. Kein einziger Junge auf der Highschool und dem College hatte auch nur das leiseste Interesse an ihr gezeigt. Allmählich glaubte sie schon, dass etwas Grundlegendes mit ihr nicht in Ordnung sei, etwas, das ihr jedermann ansehen könne. Und sie war es leid, Hoffnungen zu hegen, war es leid, enttäuscht zu werden. Und deshalb ließ sie niemanden mehr an sich heran. Bis sie dann Petey kennen lernte.
Dass ausgerechnet er ihr die Unschuld rauben würde, hätte sie nie gedacht. Ihr Doktorvater, der über zwanzig Jahre älter war als sie, war ein stark behaarter kleiner Mann mit buschigen Augenbrauen, dem graue Haarbüschel aus den Ohren wuchsen. Sie wusste, dass die anderen jungen Frauen im Institut fanden, er sehe bescheuert aus, aber das kümmerte Julia nicht. Sie hatte sich nicht seines Aussehens wegen in ihn verliebt, sondern seines Verstandes wegen. Petey war einfach der brillanteste Mensch, dem sie je begegnet war. Und seine Arbeit war bahnbrechend. Sie war sich sicher, dass er sich einen großen Namen machen würde, wenn er seine Theorie erst einmal bewies. Und das war nur noch eine Frage der Zeit.
Er würde nicht nur den Nobelpreis bekommen, nein, auch die Talkshow-Produzenten würden alles daransetzen, dass der große Wissenschaftler in der Sendung erklärte, wie das menschliche Leben aufgebaut war und sich in Form eines riesigen, wogenden Gobelins aus Energie, Raum und Zeit darstellen ließ. Wenn ihn bloß die Uni nicht finanziell immer an der ganz kurzen Leine halten würde, wäre er längst fertig damit.
Mit einem Schaudern dachte sie an ihr letztes Gespräch über dieses Thema.
«Glaubst du wirklich, dass sie dir diesmal die Fördermittel gewähren?», fragte Julia und fuhr ihm mit der Hand durch das dichte, graumelierte Haar.
Petey erstarrte; der schöne Augenblick war verdorben.
«Es tut mir Leid», sagte Julia und bereute die Frage sofort. «Ich wollte nicht –»
«Nein, schon gut. Ich muss mich den Tatsachen stellen. Wenn diese letzte Testreihe nicht die Ergebnisse bringt, die ich brauche, haben diese engstirnigen Bürokraten gewonnen.»
Petey hatte Recht: Sie waren wirklich alle nur Bürokraten. Wenn es ihnen um die Wissenschaft gegangen wäre, hätten sie sich nicht aus der Forschung zurückgezogen, um nurmehr bessere Verwalter zu sein. Doch stattdessen hatten sie es alle auf ihn abgesehen, weil sie ihn um seine Brillanz beneideten, und legten ihm jedes Mal, wenn er an der Schwelle zu einer großen Entdeckung stand, Steine in den Weg. Aber sie konnten ihn nicht aufhalten. Julia war sich sicher, dass seine jüngsten Experimente seine Theorie beweisen würden. Und dann würden sie sich förmlich überschlagen, ihn mit Geldmitteln auszustatten, und alle würden die Genialität seiner Ideen anerkennen.
Sie konnte es gar nicht mehr erwarten. Wenn es so weit war, das hatte er ihr versprochen, würden sie an die Öffentlichkeit gehen. Dann könnten sie die Experimente beenden. Sie seufzte im Vorgefühl der Erleichterung, die sie verspüren würde, wenn klar war, dass sie nie mehr an diesen … diesen Ort zurück musste. Es überlief sie kalt, panische Angst, gemischt mit einem grotesken Eifer. Sie schloss die Augen und konnte es beinahe sehen, doch dann war es wieder fort.
Es fiel ihr schwer, sich im wachen Zustand an diesen Ort zu erinnern, aber jede Nacht war sie in ihren Träumen dort. Und in letzter Zeit träumte sie viel. In ihren Träumen ergaben all diese seltsamen Dinge einen Sinn, aber sobald sie erwachte, geriet alles durcheinander. Ein paar Wochen lang träumte sie von Ziffern, die in riesigen Kugeln eingeschlossen waren und so hell pulsierend weiß und rot leuchteten, dass ihre Augen pochten.
In der vergangenen Nacht war es in ihrem Traum um Poker gegangen, was seltsam war, denn sie kannte nicht einmal die Regeln dieses Spiels. Dennoch war sie in ihrem Traum eine meisterhafte Spielerin gewesen und hatte im Nu sämtliche Chancen berechnen können, und das trotz des Gestanks verwesender Fische, der über ihr Hirn hereingebrochen war.
Petey sagte, diese Träume hätten nichts zu bedeuten, aber Julia vermutete, dass sie von den Experimenten herrührten. So sehr es sie begeisterte, ein Teil von Peteys Studie zu sein, wusste sie doch auch, dass es so nicht in Ordnung war und dass an dem Tag, an dem die Tests abgeschlossen waren, eine neue Phase ihrer Beziehung beginnen würde. Keine Treffen mehr in schmierigen Kneipen irgendwo in der Stadt, kein Sex mehr nachts im Labor. Sie drehte sich im Bett um und sah an die Decke, streckte die Arme aus und stellte sich vor, er läge neben ihr.
Wie wäre es, in seinen Armen zu erwachen? Sie konnten es morgens miteinander treiben, und dann würde sie ihm das Frühstück im Bett servieren. Wenn er dann seinen Morgenkaffee getrunken hatte (mit Milch, ohne Zucker), würden sie es noch einmal tun. Sie streichelte sich die Innenseite der Schenkel, und eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus.
Zum ersten Mal im Leben war Julia glücklich. Als sie sich mit den Fingern über den nackten Bauch fuhr, fing ihre Armbanduhr an zu piepen. Ohne zu zögern sprang sie aus dem Bett und lief ins Badezimmer, wo sie ihre Tabletten aufbewahrte. Der durchsichtige Behälter trug kein Etikett; Petey wollte nicht, dass man die Pillen mit seinem Labor in Verbindung bringen konnte.
«Pille-Grille-Stille-Wille», sagte sie und lachte über den Nonsensreim, als sie zwei der Fünfzig-Milligramm-Tabletten nahm. Sie ertappte sich in letzter Zeit oft dabei, dass sie Reime bildete. Sie konnte sich nicht so ganz erklären, woran es lag, aber aus irgendeinem Grund fand sie es wahnsinnig komisch. Dummerweise fand Petey kein Vergnügen daran. Als sie das erste Mal nach dem Sex angefangen hatte zu reimen, hatte sie gespürt, wie sich sein ganzer Körper versteift hatte – und zwar auf ungute Weise. Wenn es ihn störte, würde sie damit aufhören. Das spielte alles keine Rolle, solange er nur glücklich war.
Sie legte den Kopf in den Nacken und schluckte die beiden Tabletten, spülte sie dann mit einem Glas Wasser hinunter. Sie hinterließen immer einen bitteren, kalkigen Nachgeschmack. Der war aber längst nicht so schlimm wie der Gestank. Dieser Gestank hatte ihr zunächst einen Schrecken eingejagt, aber Petey hatte gesagt, es sei nur eine kleine neurologische Nebenwirkung, nichts, weshalb man sich Sorgen machen müsse. Also dachte sie nicht mehr daran.
Denn Petey würde sie ja schließlich niemals belügen.
Am nächsten Morgen sahen die Dinge nicht besser aus. Als Nava den schrillenden Wecker abstellte, wurde ihr klar, dass sie so nicht weitermachen konnte. Seit über sechs Jahren verkaufte sie nun schon gänzlich ungestört amerikanische Geheimnisse an ausländische Regierungen, aber die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten sie aufgerüttelt. Irgendwann würde man sie entweder einbuchten oder umbringen – es war nur noch eine Frage der Zeit.
Wäre sie bereit gewesen, ihre CIA-Kollegen zu verraten oder Waffengeheimnisse zu verkaufen, dann hätte sie längst schon auf einer tropischen Insel leben können, aber vor diesen beiden Dingen scheute sie zurück. Nava verkaufte nur Informationen, von denen sie glaubte, man könne damit entweder Leben retten oder für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen. Ob es um Aufenthaltsorte palästinensischer Terroristen für den israelischen Mossad ging oder um Satellitenfotos der Tschechischen Republik für die österreichische Spionageabwehr, spielte keine Rolle. Sie schuldete keinem Vaterland Loyalität.
Der gestrige Zahltag war ihr bisher größter gewesen, das Ergebnis von über acht Monaten Arbeit. Sie hatte nun insgesamt anderthalb Millionen Dollar auf ihrem Konto auf den Cayman-Inseln. Das reichte noch nicht, um wie eine Königin zu leben, aber es war genug für eine Flucht. Sie konnte jederzeit aufbrechen, konnte sich die Papiere einer ihrer sechs Identitäten schnappen und den nächsten Flieger nach irgendwo nehmen. Binnen 48 Stunden konnte sie von der Bildfläche verschwinden.
Der Gedanke war verlockend, aber sie wusste, dass es so nicht machbar war. Die CIA wäre zwar nicht erfreut darüber, eine Killerin zu verlieren, aber sie glaubte kaum, dass der amerikanische Geheimdienst ihr nachstellen würde. Von der Speznaz der RDEI konnte sie das leider nicht behaupten. Die Nordkoreaner würden sie auf keinen Fall entkommen lassen. Es würde vielleicht Jahre dauern, aber schließlich würden sie sie zur Strecke bringen.
Nein, wegzulaufen war nicht möglich. Sie musste die Informationen über die islamistische Terrorzelle erneut aus den Datenbanken der CIA entwenden und der RDEI übergeben. Erst dann konnte sie verschwinden. Sobald sie mit den Nordkoreanern fertig war, würde sie aus New York verschwinden und ein neues Leben beginnen. Diesen Entschluss hatte sie gerade gefasst, als ihr drahtloser Kommunikator vom Typ Blackberry zu vibrieren begann.
Die Nachrichten glichen einander: Es waren immer nur die Angaben, wann und wo sie die DVD mit den Einzelheiten ihres nächsten Einsatzes erhalten würde. Es war zwar altmodisch, Informationen über bevorstehende Missionen auf gegenständlichem Weg zu transportieren, aber es war immer noch die einzige Methode, bei der die CIA sichergehen konnte, dass niemand mithörte. Nur die Medien hatten sich geändert.
Während die Agenten zwanzig Jahre zuvor ihre Missionsbriefings als Nadeldruckerausdrucke erhalten hatten, bekamen sie heutzutage spezielle DVDs, die nach zwanzig Minuten Lichteinwirkung automatisch unlesbar wurden. Die DVDs ließen sich nur mit speziell konfigurierten Laptops lesen, wie Nava einen im Nebenzimmer hatte, die mit einer winzigen Kamera ausgestattet waren. Diese diente einzig und allein dazu, die Netzhaut desjenigen zu scannen, der den Bildschirm betrachtete, um so dafür zu sorgen, dass die Informationen nur dem beabsichtigten Empfänger zugänglich wurden.
Nava ging ins Bad und klatschte sich einige Hände voll Wasser ins Gesicht, ehe sie die Nachricht mit ihrem Blackberry abrief. Als sie den Text las, stockte ihr das Herz. Statt einer verschlüsselten Adresse und Uhrzeit stand dort lediglich:

Der einzige Mensch, der sie einbestellen konnte, war der Direktor. Wusste er davon? Unmöglich – sie war sich sicher, dass ihr in der vergangenen Nacht niemand zu der Wohnung gefolgt war. Aber warum sonst wollte er sich persönlich mit ihr treffen? Nein, das war doch lächerlich. Wenn der Direktor gewusst hätte, dass sie Staatsgeheimnisse verkaufte, hätte er sie nicht aufgefordert, ins Büro zu kommen; nein, dann stünde längst eine bewaffnete Eskorte vor ihrer Tür.
Aber vielleicht wollten sie gerade, dass Nava das glaubte. Wenn sie versuchten, sie zu überwältigen, bestand die Möglichkeit, dass sie entkam, doch aus der New Yorker CIA-Dienststelle gab es kein Entkommen. Wenn sie fliehen wollte, musste sie es jetzt tun – es sei denn, es war schon zu spät. Wenn sie bereits ihre Wohnung überwachten, würden sie auf keinen Fall zulassen, dass sie die Stadt verließ.
Ihre Gedanken jagten. Sie wusste, dass sie schnell eine Entscheidung treffen musste. Wenn sie eine Nachricht abrief, erfuhr die CIA automatisch über GPS ihren momentanen Aufenthaltsort. Wenn sie in einer halben Stunde nicht im Büro war, wussten sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Nava schloss die Augen, atmete tief durch und war sich dabei schmerzlich bewusst, dass die Zeit verrann.
Bleiben oder fliehen. Das waren ihre Optionen. Einfacher ging es nicht. Erst bei den Auswirkungen wurde es kompliziert. Nach fast einer Minute schlug Nava die Augen wieder auf. Ihr Entschluss stand fest. Mit ihren besten Stücken bewaffnet – einer Sig-Sauer 9 mm im Schulterholster, einer halbautomatischen Glock 9 mm im Wadenholster und einem Dolch im Stiefel – und ausgestattet mit vier falschen Pässen und fünf Ladeclips Reservemunition, lief sie zur Tür.
Ehe sie ging, warf sie noch einen letzten Blick zurück in ihre Wohnung. Sie glaubte nicht, dass sie sie wiedersehen würde. Auf der Straße winkte sie ein Taxi herbei. Sie musste sich jetzt beeilen.
Es war so kalt, dass Jasper seinen Atem sah, aber das störte ihn nicht. Die Kälte fühlte sich phänomenal an, das Brennen in seinen Fingern vergegenwärtigte ihm, wie es war, wieder lebendig zu sein. Er war wieder ganz der Alte. Einige Wochen zuvor hatte er die Antipsychotika abgesetzt. Er fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlauch ans Ohr gesetzt und sein benebeltes Hirn freigespritzt. Wenn es auf den Straßen nicht so von Menschen gewimmelt hätte, wäre er am liebsten losgelaufen, aus schierem Vergnügen daran, die Gebäude an sich vorbeiziehen zu sehen.
Gott, er fühlte sich großartig. «Geil-Beil-Heil-Teil!», rief er aus. Damit erntete Jasper zwar mehr als nur ein paar konsternierte Blicke, aber das kümmerte ihn nicht. Er liebte das Gefühl, das ihm das Reimen vermittelte. Der Laut hallte in seinen Ohren wider, prallte wie eine Kugel hin und her.
Er konnte es gar nicht erwarten, wieder in Philadelphia zu sein. Er –
Du kannst noch nicht zurück.
Jasper blieb so abrupt stehen, dass jemand auf ihn auflief. Die physikalische Welt ignorierend, neigte Jasper den Kopf, so als versuchte er, ein weit entferntes Geräusch zu hören. Es war die Stimme. Die Stimme war fast ein ganzes Jahre lang sein ständiger Begleiter gewesen, bis die Medikamente sie verstummen ließen.
Erst als er die Stimme in seinem Hirn widerhallen hörte, wurde ihm bewusst, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Er liebte die Stimme so sehr, dass er hätte weinen mögen. Er hatte ein leises Summen in den Ohren, es teilte ihm mit, dass ihm die Stimme etwas sagen wollte. Jasper kniff die Augen zu. Mit geschlossenen Augen konnte er die Stimme immer am besten hören.
Du musssst in der Stadt bleiben.
– Warum?
Weeeiiil du deinen Bruuuuder beschützen musst.
– Was wird denn mit ihm geschehen?
Sie kommen bald. Du musssst hier sein, um ihm beizustehen.
– Wer – sie?
Die Regiiiierung.
– Und warum sind sie hinter ihm her?
Weeeiiil er etwas Besonderes ist. Jetzt höööör mir genau zu, ich werde dir sagen, was du tun musst …
Und Jasper hörte zu und stand dabei reglos wie eine Statue mitten auf einem geschäftigen Gehsteig in der Innenstadt, und die Leute strömten an ihm vorbei, als wäre er ein Fels, der aus einem tosenden Fluss ragt. Als die Stimme aufhörte, in seinem Hirn zu summen, schlug Jasper die Augen auf und lächelte. Er drehte sich um und ging los, so schnell er konnte, verjüngt dank des neuen Ziels vor Augen.
Er würde David beistehen. Sein Bruder wusste nicht, dass sie hinter ihm her waren. Aber Jasper wusste es. Und solange er genau so handelte, wie die Stimme es ihm gesagt hatte, würde alles gut werden. Ohne die wütenden Blicke der Passanten zu bemerken, die ihm aus dem Weg springen mussten, rannte Jasper los. Er musste sich beeilen.
Er musste eine Waffe kaufen.