Die nächsten Tage vergingen friedlich, während Dr. Lukin sich um Navas Verletzungen kümmerte und sie mit Schmerzmitteln versorgte. Obwohl Caine, Jasper und Nava gemeinsam in der kleinen Wohnung blieben, redeten sie nicht viel; es gab nicht viel zu besprechen. Die drei fühlten sich mit der Stille wohl, die normalerweise zwischen Menschen herrscht, die sich schon seit Jahren kennen.
Caine gab sich alle Mühe, dem Immer fernzubleiben. Er tauchte nur einmal ein, um zu sehen, wie sich Bill Donelly jr. machte – 3700 Gramm und blonde Haare, wie sein Vater sie hatte. Von diesem einen kurzen Blick abgesehen, konzentrierte Caine sich allein aufs Jetzt. Er gestattete sich nicht einmal, die Vergangenheit zu besuchen, trotz seines unbändigen Wunsches zu erfahren, wie Doc ihn hintergangen hatte – und warum. Er wusste, dass sich durch solches Wissen nichts gewinnen ließ. Also lehnte er es ab, in das Immer einzutauchen.
Indem er ihm auswich, geschahen schreckliche Dinge, die er hätte verhindern können, die jedoch zu erfreulichen Ereignissen führen konnten. Aber ihn traf keine Schuld. Er wusste, dass das eine nicht ohne das andere existieren konnte. Also ließ er der Welt ihren Lauf und gestattete ihren Bewohnern, selbst über ihre Zukunft zu bestimmen, ohne dass er sich einmischte.
Vorläufig interessierten ihn allein Nava, Jasper und das Versprechen, das er Martin Crowe gegeben hatte. Er war immer noch unsicher, wie er es halten könnte, aber er wusste, dass die Lösung nicht mehr lange auf sich warten ließ. In der Zwischenzeit konzentrierte er sich auf seinen Bruder. Im Immer erfuhr er, was mit Jasper nicht stimmte und warum die Psychopharmaka seine Dämonen nicht beruhigen konnten, ohne gleichzeitig seinen Geist zu betäuben.
Ja, Jasper war schizophren, aber das war nicht sein eigentliches Leiden – es war nur eine Begleiterscheinung dessen, was ihn quälte. Seine Ärzte hatten nur zum Teil Recht gehabt, als sie sagten, dass sein Bruder Schwierigkeiten hätte, die Wirklichkeit zu erkennen. In Wahrheit war Jaspers Wahrnehmung der Wirklichkeit weit größer als die der meisten anderen Menschen, die man als «normal» bezeichnete. Sein Problem war, dass er nicht nur eine Realität wahrnahm, sondern oft mehrere zugleich.
Wenn man eine Münze in die Luft warf und sie Kopf zeigte, sah Jasper zugleich auch Zahl, weil er die Zukunft in ihrer Vielfalt wahrnahm. Folglich sah Jasper neben seiner eigenen Realität ständig unendlich viele parallele, potenzielle Realitäten, die durch sein Bewusstsein geisterten wie Reflexionen durch ein Spiegellabyrinth. Caine wusste, dass für seinen Bruder das Heil nicht in der Biochemie lag, sondern in umfassendem Wissen, Meditation und, kurioserweise, im Schach.
Kaum entdeckte Caine das verstaubte alte Brett unter dem Couchtisch, da wusste er es. Also stellte er die Figuren auf, und die beiden begannen zu spielen. Es war das perfekte Spiel für Jasper, um zu lernen, wie man all seine Konzentration auf die Gegenwart richtete, denn der Sinn des Spiels lag darin, die Züge des Gegners im Voraus zu erkennen, ihnen etwas entgegenzusetzen und sie in die gewünschte Richtung zu lenken. Um das zu schaffen, musste man sehr genau wahrnehmen, was gerade auf dem Spielbrett, im Hier und Jetzt, geschah.
Die Zwillinge spielten den ganzen Tag lang, eine Partie nach der anderen. Caine erinnerte sich daran, wie er als Kind immer mit seinem Vater gespielt hatte. Aber das Schachspiel machte ihn jetzt nicht mehr traurig über den Verlust seines Vaters, sondern erfüllte ihn mit einem wehmütigen Glücksgefühl. Solange er sich an seinen Dad erinnerte, das wurde ihm klar, würde er auch immer bei ihm sein.
Aber viel wichtiger war, dass das Spielen seinen Bruder lehrte, Kontrolle auszuüben. Langsam lernte Jasper, seine Energie auf die Gegenwart zu konzentrieren, auf die Wirklichkeit, die allein vor seinen Augen existierte, in den 32 Figuren auf den 64 Feldern, und zugleich lernte er, die Reflektionen in den unendlich vielen Spiegeln in seinem Geist auf Abstand zu halten.
Jeden Tag zeigte Jasper Fortschritte. David Caine war klar, dass sein Bruder nie «normal» sein würde, aber Jasper würde mit der Zeit einen Grad des Wohlgefühls erreichen, der ihm bisher verschlossen geblieben war. Caine hatte sich zwar bereits im Immer die gesündere Zukunft seines Bruders angesehen, aber eigentlich brauchte er ihm nur in die Augen zu schauen, um zu wissen, dass es mit seinem Zwilling schon werden würde.
Am fünften Tag erst wurde Nava unruhig. Sie wachte bei Sonnenaufgang auf, hellwach und in klarer geistiger Verfassung. Jasper und David schliefen noch. Keiner von ihnen hatte die Wohnung seit ihrer Ankunft verlassen. Zwar sprachen sie es nicht aus, aber Nava wusste, dass die beiden das Gefühl hatten, über sie wachen zu müssen, solange sie hilflos war – wie sie auch über die beiden gewacht hatte, als diese hilflos waren.
Sie hatte so viele Fragen an David, aber wann immer Nava sie zu stellen versuchte, hatte er nur den Kopf geschüttelt.
«Wir haben alle Zeit der Welt, was Antworten angeht, Nava. Jetzt erholen Sie sich erst einmal. In den nächsten paar Tagen wird uns nichts passieren – versprochen.»
Hätte jemand anders so etwas zu ihr gesagt, sie hätte ihm nicht geglaubt. Aber die Erfahrung hatte Nava gelehrt, David zu vertrauen; also tat sie, was er sagte. Und als sie ihn nun anstarrte, hob er den Kopf und lächelte.
«Hey», sagte Caine und rieb sich die Augen. «Schon lange wach?»
«Erst ein paar Minuten», sagte sie.
Er stand auf, streckte sich und kam zu dem Sofa herüber. Er setzte sich auf den Couchtisch und fuhr mit einer Hand durch ihr Haar.
«Sagst du es mir jetzt?», fragte sie.
«Klar», sagte Caine, als hätte er nur auf ihre Frage gewartet.
«Als ich Julia gefunden habe …» Der Gedanke an die nackte, zerschmetterte junge Frau in dem Müllcontainer ließ Nava verstummen. Es schien tausend Jahre her. Nava schüttelte das Bild ab und kehrte mühsam in die Gegenwart zurück. «Sie hat mir gesagt, dass ich dich retten muss und du mir dann sagen wirst, warum ich überlebt habe, während meine Mutter sterben musste. Aber ich glaube, ich weiß es schon. Die Träume … die Albträume, die ich als kleines Kind bekommen habe … die mir Angst vor dem Fliegen gemacht haben … die mir das Leben gerettet haben … die kamen von dir, nicht wahr?»
Caine lächelte und schüttelte den Kopf. «Nein.»
«Woher dann?»
Caine zeigte mit dem Finger auf ihre Brust. «Du hast sie dem kollektiven Unbewussten entnommen. Du musst eine deiner möglichen Zukünfte gesehen haben, und dann hast du sie vermieden.»
«Wie?», fragte Nava.
«Willst du wirklich, dass ich nochmal Jaspers Physikvorlesung repetiere?»
«Glaube nicht», lachte Nava, aber dann umwölkte sich ihr Gesicht erneut. «Aber warum? Warum habe ich sehen können und meine Mutter nicht?»
«Kinder sehen oft Dinge, die Erwachsene nicht in der Lage sind zu sehen. Wenn wir jung sind, ist unser Bewusstsein dem kollektiven Unbewussten viel näher. Aber, was noch viel wichtiger ist, Kinder glauben, was sie dort sehen. Aus diesem Grund können sie sich vorstellen, Feuerwehrleute, Astronauten und Helden zu sein. Erst wenn wir älter sind, wird uns beigebracht, dass wir unsere ‹irrationalen› Zukunftsbilder besser ignorieren.
Vielleicht hat deine Mutter kurz ihren Tod sehen können. Vielleicht auch nicht. Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, Nava. Ich kann dir nur sagen, dass du als kleines Mädchen in dem Moment, in dem du dich geweigert hast, dieses Flugzeug zu betreten, deine mögliche Zukunft gesehen und eine Entscheidung getroffen hast.
Und deine Entscheidung war richtig. Du hast mehr Gutes in deinem Leben vollbracht, als dir wahrscheinlich bewusst ist. Ich weiß, es tut weh, dass du ausgerechnet die eine Person, die dir am meisten bedeutet hat, verloren hast, aber daran wirst du nichts mehr ändern können.
Weine um deine Mutter und deine Schwester, Nava. Aber weine nicht um dein Leben.»
Caine nahm Navas Hand. «Du hast eine unglaubliche Begabung, den richtigen Pfad zu wählen – sie ist viel stärker, als dir bewusst ist. Hab Vertrauen in dich selbst, Nava, und du wirst in der Lage sein, dein Schicksal selbst zu bestimmen.»
«Aber ich kann nicht so auswählen wie du», sagte Nava. «Ich kann mir nie sicher sein.»
Caine schüttelte den Kopf. «Ich mir auch nicht. Ich habe zwar eine besondere Gabe, aber sie ist nicht unfehlbar. Sicher, sie gestattet mir, einen Blick in die Zukunft zu werfen, ob es nun eine Sekunde oder tausend Jahre sind, sodass ich den Pfad mit der höchsten Erfolgswahrscheinlichkeit auswählen kann, aber hundertprozentig sicher kann ich mir nie sein. Nicht einmal ich weiß alles, was geschehen wird. Wie deine Zukunft hängt auch meine von den Entscheidungen aller anderen Menschen ab, denn ihre Entscheidungen formen die kollektive Wirklichkeit, die wir alle miteinander teilen.»
Nava drehte sich der Kopf, aber sie glaubte zu verstehen. Irgendwie. Schließlich brach sie das Schweigen. «Und jetzt? Du kennst die Zukunft – du kannst tun, was du willst.»
Caine schüttelte den Kopf. «Ich kenne nicht die Zukunft, Nava. Ich kenne alle Zukünfte – was, weil es unendlich viele gibt, fast bedeutet, gar nichts zu wissen.»
«Aber die vielen Ereignisse, die du angestoßen hast … sie sind alle so gekommen, wie du es vorhergesagt hast.»
«Ich habe nur das jeweils wahrscheinlichste Ereignis vorhergesagt. Ich wusste nicht, ob es genau so kommen würde. Hättest du dich nicht dafür entschieden, mich zu retten, wäre ich noch immer in diesem Labor gefangen.»
Nava überlief ein Schaudern. «Aber damit hast du meine Frage noch nicht beantwortet: Was wirst du jetzt tun? Und was ist mit Tversky und Forsythe? Wo sind sie? Werden sie erneut hinter dir her sein?»
Caine zuckte die Schultern. «Das weiß ich nicht genau. Aber ich bin mir sicher, dass ich es herausfinden werde.»
Auf einmal krampfte sich Navas Herz zusammen. «Die RDEI. Sie ist immer noch hinter mir her. Ich muss –»
«Keine Sorge», unterbrach sie Caine. «Ich habe ihr einige Informationen zukommen lassen, die etliche Menschenleben retten werden – und im Gegenzug hat man sich damit einverstanden erklärt, das Kopfgeld auf dich zu widerrufen.»
Nava seufzte erleichtert. Sie wollte gerade nachhaken, was denn nun als Nächstes geschehen würde, da verkündete Caine, dass er unter die Dusche wolle. Er sprach es zwar nicht aus, aber sie wusste, dass er ihr keine weiteren Fragen beantworten würde. Jedenfalls nicht heute. Nachdem er ins Badezimmer getappt war, ging Nava zum Esstisch und holte ihre Zigaretten. Das Gespräch über ihre Mutter hatte ihr Verlangen nach einer Zigarette geweckt.
Sie steckte sich eine zwischen die Lippen und entzündete ein Streichholz, freute sich schon auf den Nikotinflash. Aber gerade als Nava das Streichholz hob, tat sie etwas Merkwürdiges: Sie schloss die Augen. Für einen kurzen Moment hatte sie den Eindruck, etwas sehen zu können, das fremd und vertraut zugleich war. Sie öffnete die Augen, und ein leichtes Déjà-vu wogte über sie hinweg, während sie in die Flamme starrte.
Ohne nachzudenken, blies sie das Streichholz wieder aus. Langsam schob sie die unangezündete Zigarette in die Schachtel zurück und warf die Packung weg. Als sie den Deckel des Mülleimers schloss, wurde ihr klar, dass sie gerade endgültig mit dem Rauchen aufgehört hatte.
Nava hatte eine Entscheidung getroffen.
An diesem Abend fühlte Caine, dass es Zeit war zurückzukehren. Er hatte es lange genug vor sich hergeschoben. Zwar war das Immer zeitlos, aber im Jetzt verging die Zeit – ob sie nun ein künstliches Konstrukt war oder nicht –, und er hatte noch etwas zu erledigen. Als er die Augen öffnete, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
«Was hast du gesehen?», fragte Jasper.
«Woher weißt du, dass ich etwas gesehen habe?»
«Ich habe meine Mittel und Wege», sagte Jasper. «Und nun beantworte meine Frage.»
«Ich habe gesehen, wie alles ausgeht. Und ich war nicht allein.»
«Was soll das heißen? War da noch jemand anders?»
«Glaube schon», sagte Caine und rieb sich das Kinn.
«Und du konntest nicht sehen, wer es war?»
«Hätte ich wahrscheinlich schon gekonnt», sagte Caine, «aber ich weiß, dass ich die Antwort bald erfahren werde. Also habe ich beschlossen abzuwarten.»
«Wieso das denn?», fragte Jasper.
Caine grinste. «Selbst Dämonen lassen sich gern mal überraschen.»
In dieser Nacht schlief Caine tief und traumlos, aber als er erwachte, stand fest, dass es Zeit zum Anrufen war. Er wählte und hörte volle zwei Minuten lang zu, ohne ein Wort zu sagen, dann legte er auf. Der zweite Anruf ging viel schneller als der erste. Anschließend zog Caine seinen Mantel an und ging zur Tür.
«Wo willst du hin?», fragte Jasper.
«Zu meinem Anwalt», antwortete Caine und schloss die Tür hinter sich.
Die Fahrt mit der Linie D von Lukins Wohnung in Coney Island nach Manhattan dauerte über eine Stunde. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder draußen zu sein, nachdem er sich fast eine ganze Woche lang in geschlossenen Räumen aufgehalten hatte. Als Caine den Bahnsteig entlanghinkte, achtete er sehr darauf, im Jetzt zu bleiben; wenn er in dieser Situation ins Immer eintauchte und die Auswirkungen sah, die jeder seiner Schritte auf die vielen Menschen um ihn herum haben würde, verließ ihn womöglich der Mut.
Als er im zwölften Stock des Chrysler Building ankam, trat ihm ein schlanker Mann entgegen, der eine konservativ gemusterte dunkelrote Krawatte trug.
«Mr. Caine?»
«Ja», sagte Caine.
«Hallo, ich bin Marcus Gavin», sagte der Rechtsanwalt und streckte die Hand aus. «Vielen Dank, dass Sie heute gekommen sind. Wenn Sie mir bitte folgen würden; ich habe aufregende Neuigkeiten für Sie.»
Gavin hatte kaum die Tür seines Büros geschlossen, da zog er ein dünnes Stück Papier aus einer Mappe hervor, das er so vorsichtig behandelte, als könnte es jede Sekunde zu Staub zerfallen. Zunächst schien er es Caine reichen zu wollen, dann jedoch überlegte er es sich anders und legte das Schriftstück vorsichtig wieder hin.
«Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen lassen oder vielleicht eine Tasse Kaffee?» Der Rechtsanwalt schien Zeit schinden zu wollen.
«Sehr freundlich, aber danke, nein.»
«Äh, ja», sagte Gavin und räusperte sich. «Sie möchten sicher erfahren, worum es geht.»
«Ja», log Caine. Er wusste bereits Bescheid, hielt es aber für unkomplizierter, Unwissenheit vorzutäuschen.
«Nun … es kommt mir alles sehr unwirklich vor.» Gavin tippte nervös mit einem Kugelschreiber auf die Tischplatte. «Mr. Caine, ich darf wohl davon ausgehen, dass Thomas DaSouza und Sie gute Freunde waren?»
«Ja», antwortete Caine, «wenngleich wir uns in den letzten Jahren nur selten gesehen haben.»
«Im Ernst? Nun, dann ist alles noch merkwürdiger, als ich gedacht habe.» Gavin nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Als er wieder zu reden begann, klang seine Stimme weicher. «Ich bin mir nicht sicher, ob Sie wissen, dass Mr. DaSouza vor ungefähr einer Woche bei einem Unfall schwer verletzt worden ist. Er befindet sich gegenwärtig im Albert Einstein Medical Center. Obwohl die Ärzte alles getan haben, was in ihrer Macht stand, sieht es mehr als schlecht für ihn aus. Mr. DaSouza ist hirntot und hat keine Genesungschancen mehr. Es tut mir Leid.»
Caine schloss einen Moment lang die Augen. Die Tatsache, dass er über Tommy schon Bescheid gewusst hatte, machte es nicht einfacher.
«Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Sie hierher gebeten habe», fuhr Gavin fort. Er klang jetzt nicht mehr nervös; seine Stimme vibrierte vor Erregung. Offensichtlich waren die schlechten Neuigkeiten abgehakt, und nun war es Zeit zum Feiern. «Was ich hier habe» – Gavin nahm vorsichtig das heilige Stück Papier hoch –, «ist Mr. DaSouzas letzter Wille. Der Zettel wurde an seiner Kühlschranktür gefunden.»
Er händigte Caine das Testament aus. Caine überflog es kurz und gab es dann Gavin zurück.
«Mr. DaSouza ernennt Sie darin zu seinem Nachlassverwalter und Erben», fuhr Gavin fort und starrte Caine an, «seinen Lottogewinn in Höhe von über 240 Millionen Dollar eingeschlossen. Das Geld wird in einer Stiftung bleiben, solange Sie nicht beschließen …» – Gavin senkte die Stimme –, «Mr. DaSouzas Maschinen abschalten zu lassen.»
Er wartete einen Moment, um das Gesagte sacken zu lassen, dann fuhr er fort: «Da er keinerlei lebende Angehörige hat, steht das Recht auf diese Entscheidung allein Ihnen zu.»
«Und wenn ich nicht will?», fragte Caine.
«Wenn Sie was nicht wollen? Diese Entscheidung treffen?»
«Nein. Wenn ich nicht will, dass die lebenserhaltenden Maßnahmen beendet werden – was dann?»
«Nun … wenn Sie das nicht wollen … dann werden die Zinserträge aus seiner Stiftung seine medizinische Versorgung bis auf weiteres sicherstellen … bis in alle Ewigkeit vermutlich. Ja, und Sie erhalten ein Jahresgehalt in Höhe von 100 000 Dollar für die Beaufsichtigung der Stiftungstätigkeit.»
«Beaufsichtigung?», fragte Caine.
«Nun, sein Testament legt fest, dass sein Geld im Fall seiner Geschäftsunfähigkeit in eine wohltätige Stiftung fließen soll mit dem Ziel … ich zitiere, ‹das Leben der Menschen zu verbessern›. Als Verwalter wird Ihnen die Entscheidung obliegen, wie die jährlichen Erlöse aus dieser Stiftung zu verteilen sind. Da jedoch keine Hoffnung auf Mr. DaSouzas Genesung besteht, können Sie nach seinem … Hinscheiden die Stiftung auch auflösen und mit dem Geld tun und lassen, was Sie wollen.» Gavin schenkte ihm ein breites Lächeln. «Sie sind Millionär, Mr. Caine.»
Caine schüttelte den Kopf. «Nein, bin ich nicht.» Er hielt inne. «Und ich werde auch nie einer sein.»
«Aber …» Gavin sah verwirrt aus. «Sie sind sich doch darüber im Klaren, dass Mr. DaSouza hirntot ist …»
«Ja.»
«Und die Ärzte sagen, dass er unmöglich wiederhergestellt werden kann», sagte Gavin sichtlich aufgewühlt.
«Nichts ist unmöglich, Mr. Gavin. Manches ist nur sehr unwahrscheinlich.» Caine stand auf. «Ich nehme an, ich werde einiges zu unterschreiben haben, bevor ich zum Krankenhaus fahren kann?»
«Ja, selbstverständlich», sagte Gavin und zog ein paar Schriftstücke hervor.
Als Caine fertig war, gab er Gavin die Hand und ging zur Tür.
«Mr. Caine», sagte Gavin, «wenn ich Sie noch etwas fragen dürfte?»
«Ja, natürlich», antwortete Caine und wandte sich um.
«Wenn Sie die …» – er senkte die Stimme zu einem Flüstern – «lebenserhaltenden Maßnahmen nicht aussetzen lassen wollen …» Er hielt inne. «Warum fahren Sie dann ins Krankenhaus?»
«Um ein paar Tests durchführen zu lassen.»
Als Caine aus der Tür trat, konnte er Gavins Verwirrung fast mit Händen greifen, aber er verspürte nicht den Wunsch, sie ihm zu nehmen.
Nachdem Caine eine Phiole mit Tommys Blut erhalten hatte, beauftragte er ein privates Labor, einige Tests durchzuführen. 24 Stunden später teilte die technische Assistentin ihm die guten Neuigkeiten telefonisch mit. Die Frau am anderen Ende der Leitung war von den Ergebnissen überrascht, Caine war es nicht. Als sie ihn fragte, woher er das gewusst hatte, wünschte er ihr nur einen angenehmen Tag.
Caine holte die Unterlagen ab, kaufte einen kleinen regenbogenfarbenen Teddybären und fuhr erneut zum Krankenhaus. Als er diesmal den fünfzehnten Stock betrat, wusste er warum.
«Caine!», rief Elizabeth, als er ihr Zimmer betrat. «Du kommst ja wirklich nochmal!»
«Natürlich», sagte er. «Und ich habe einen Freund mitgebracht.» Er zog das Stofftier hinter seinem Rücken hervor. Ihr Gesicht leuchtete auf.
«Entschuldigung», fragte eine besorgte Stimme hinter ihm. «Wer sind Sie eigentlich?»
Caine drehte sich zu der Frau herum. Ihre Augen waren rot und geschwollen, als hätte sie die vergangene Woche nur geweint. Obwohl Caine sie noch nie gesehen hatte, kam sie ihm bekannt vor, wie aus einem Traum.
«Guten Tag», sagte er und streckte die Hand vor. «Ich bin David Caine. Ich war ein Freund Ihres Mannes.»
«Oh», erwiderte sie mit einem leichten Schniefen. «Ich bin Sandy.» Sie schüttelte sanft seine Hand. «Sehr nett von Ihnen, dass Sie vorbeischauen. Wir bekommen nicht viel Besuch.»
«Ich weiß», sagte Caine. «Ähm, könnte ich kurz draußen mit Ihnen sprechen?»
«Sicher», antwortete Sandy. «Schatz, wir sind gleich wieder da, ja?»
«Ist gut, Mami», sagte Elizabeth.
Sobald sie draußen auf dem Gang waren, begann Caine. «Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber ich habe gute Neuigkeiten für Sie.»
«Ich habe einen Knochenmarkspender für Ihre Tochter gefunden. Die Übereinstimmung beträgt 99 Prozent, und er ist zu der Transplantation bereit, sobald Elizabeths Zustand die Operation zulässt.»
Die verschiedensten Gefühle spiegelten sich in ihrem Gesicht – Fassungslosigkeit, Freude und schließlich Traurigkeit. Bevor sie noch etwas sagen konnte, fuhr Caine fort.
«Keine Sorgen wegen des Geldes. Ich vertrete eine große Stiftung, die eigens dafür gegründet wurde, Menschen wie Ihrer Tochter zu helfen. Sämtliche medizinischen Kosten werden übernommen.»
«Soll das ein Witz sein?», fragte Sandy und sah plötzlich sehr grimmig aus. «Falls ja, dann lassen Sie sich gesagt sein, dass man mit so etwas nicht scherzt, Mr. Caine.»
Caine zog Tommys medizinisches Gutachten hervor und zeigte ihr, dass er als Spender geeignet war.
«Dann ist es wirklich wahr?», fragte Sandy, nachdem sie die Akte durchgeblättert hatte. «Sie meinen es ernst?»
«Ich habe noch nie zuvor etwas so ernst gemeint», antwortete Caine.
«Oh, mein Gott!» Sandy erdrückte Caine fast, so fest umarmte sie ihn. Tränen überströmten ihr Gesicht. «Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich meine … O Gott … Wie kann ich Ihnen je danken?»
«Dass Sie mir danken, ist gar nicht nötig», sagte Caine. «Sagen wir einfach, wir sind quitt.»
Sandy sah verwirrt aus, nickte jedoch nur. Dann griff Caine in seine Tasche und zog Gavins Visitenkarte hervor.
«Das ist mein Anwalt. Rufen Sie ihn an, sobald Sie mit Elizabeths Ärzten geredet haben. Er wird alles Nötige in die Wege leiten.»
«Danke, Mr. Caine.» Sie drückte seine Hand.
«Wenn Sie mich ‹Mr. Caine› nennen, dann muss ich ‹Mrs. Crowe› zu Ihnen sagen. ‹David› tut es auch.»
«Ja, gut. Danke … David.» Sandy Crowe wischte sich die Nase. «Ich werde Betsy die guten Neuigkeiten erzählen.» Als sie gerade wieder zurück ins Krankenzimmer gehen wollte, drehte sie sich noch einmal um. «Sie haben mir gar nicht erzählt, woher Sie Marty kennen.»
«Ach», sagte Caine und kratzte sich am Kopf. «Wir hatten mal beruflich miteinander zu tun.»
Als Caine das Krankenhaus verließ, fühlte er sich so wohl wie seit Wochen nicht. Zwar bestand immer noch die Möglichkeit, dass die Transplantation nicht erfolgreich verlief, aber mit einer Wahrscheinlichkeit von 93,726 Prozent kam Elizabeth wieder vollständig in Ordnung.
Er hatte gerade beschlossen, ein paar Blocks zu Fuß zu gehen, als ihm auf einmal der Gestank entgegenschlug. Bevor sein Körper auf den Gehweg fiel, war sein Bewusstsein bereits ins Immer geglitten.
…
Die Frau – Sie – ist bei ihm. Aber Sie sieht anders aus. Kleiner irgendwie, vertrauter. Er kann sehen, dass Sie glücklich und traurig zugleich ist. Caine empfindet Mitleid mit Ihr.
Sie – Danke, Caine.
Caine – Wofür?
Noch während Caine die Frage stellt, weiß er es plötzlich.
Er begreift.
Sie ist in der Vergangenheit des Jetzt und hilft Tanja, ihre Zukunft zu sehen, damit sie nicht in dieses Flugzeug steigt.
Sie ist in Tommys Träumen und hilft ihm dabei, Zahlen zu sehen.
Sie ist die Stimme in Jaspers Kopf, die ihm erklärt, wie er seinem Bruder helfen soll.
Sie versucht Caine das Immer zu zeigen, indem Sie seine Anfälle auslöst.
Alle Ihre Handlungen münden in das Ziel, eine Folge von Ereignissen zu schaffen, die zu Tommys improvisiertem Testament und seinem unwahrscheinlichen Ableben führen, zu Navas Rettung und Caines Erweckung. All das, um ein kleines Mädchen zu retten, das an Leukämie stirbt. Ein Mädchen namens Elizabeth «Betsy» Crowe.
Caine weiß nun, warum Sie ihm bekannt vorkommt. Sie ähnelt ihrer Schwester Sandy und ihrer Nichte – Betsy.
Caine – Du bist es, die das alles geschehen lässt.
Sie – Nein. Wir helfen den Menschen nur zu begreifen. Mehr können Wir nicht tun. Ihr lasst das alles geschehen, du, Nava, Tommy, Jasper, Julia, Forsythe, Tversky und noch Millionen andere Menschen, jeder auf seinem eigenen Pfad, jeder mit seinen eigenen Entscheidungen.
Caine – Das alles … wegen Betsy?
Sie – Nein, Betsy ist nur ein Teil des letzten Ziels. Du verstehst nicht. Aber später im Jetzt verstehst du es.
Caine – Im Jetzt … bist du Julia.
Sie – Nein. Im Jetzt sind Wir keine Einzelwesen. Wir sind viele. Wir sind der Wille des kollektiven Unbewussten. Du jedoch nimmst Uns als Julia wahr, denn sie dient als Unser Sprachrohr, Unsere Stimme. In ihren letzten Momenten erkennt sie in deinem Bewusstsein einen gemeinsamen Wunsch, und darum ziehen Wir sie hinzu, damit sie uns hilft, Unser Ziel erreichen. Du jedoch bist es, der unbewusst ihre Stimme vernimmt, denn sie kann nur zu denen sprechen, die hören möchten.
Caine – Aber Julia ist tot.
Sie – Das Immer liegt außerhalb des Jetzt. Hier lebt Julia. Sie ist ein kleines Mädchen. Sie wird erwachsen. Sie verliebt sich in Petey. Sie ist Betsys Tante Julia. Sie stirbt in einem Müllcontainer.
Caine – Daher der Geruch. Julias Bewusstsein bringt den Geruch zu mir.
Sie – Gerüche sind die stärksten Erinnerungen. Da Julia Unser Sprachrohr ist, begleitet Uns ihre Erinnerung an den Gestank, der sie beim Sterben umgibt.
Caine – Im Jetzt, warum soll Dr. Tversky da versuchen, mich zu töten?
Sie – Weil es der einzige Weg ist, Tommys Unfall zu verursachen.
Caine – Dann stellt Ihr Betsys Leben über Tommys.
Sie – Nein. In deinem Jetzt bringt Tommy sich um. Indem Wir ihm helfen, sich an seine Träume zu erinnern, verlängern Wir sein Leben. Es geht nichts verloren.
Caine – Seid Ihr ewig?
Sie – Das ist … ungewiss.
Caine – Wie das?
Sie – In manchen Zukünften sind Wir ewig. In anderen sind Wir ausgestorben. Unser Schicksal ist mit dem deinen und dem deiner Nächsten verknüpft, denn ihr seid Wir, und Wir sind ihr.
Caine – Warum bin ich hier?
Sie – Du musst begreifen, welche Rolle du spielst. Du sollst das Immer dazu benutzen, Uns allen zu helfen.
Caine – Wie denn helfen? Mit Tommys Geld?
Sie – Das Geld wird schon eine Hilfe sein, aber letztlich wird es wenig verändern.
Caine – Was dann? Wie helfe ich denn dann?
Sie – Darum geht es hier nicht. Darum geht es später im Jetzt.
Caine – Warum nicht gleich hier?
Sie – Du brauchst etwas … Zeit.
…
«Hey, ich glaube, er kommt wieder zu sich», sagte eine Stimme über ihm. «Alles in Ordnung mit Ihnen?»
Caine rieb sich den Hinterkopf, in dem es bereits schmerzhaft zu pochen begann. Er schnupperte vorsichtig. Der Geruch war verschwunden.
«Ja», sagte er. «Ich glaube, es geht mir gut … jedenfalls vorläufig.»