XLIII

Jakob Karrer schleuderte Elisabeth in eine Ecke, sie blieb regungslos liegen. Er beugte sich über sie und packte sie am Hals.

Dein Platz ist bei mir! Und wird es immer sein.

„Lass sie los!“, brüllte eine Stimme hinter ihm.

Karrer richtete sich auf und drehte sich langsam um. Johann stand an der Tür, in seiner Rechten ein Beil.

„Du!“, schnaubte Karrer, dann stürzte er sich blitzschnell auf Johann.

Der letzte Kampf hatte begonnen …

Wie besessen schlug Karrer auf Johann ein, der den Axthieben auszuweichen und sie zu parieren versuchte. Die Wandvertäfelung splitterte unter Karrers wuchtigen Hieben.

Johann wusste, dass er entscheidend im Nachteil war: Zwar war er seinem Gegner an Technik und Erfahrung überlegen, aber das nützte ihm hier auf engem Raum nichts. Außerdem litt er unter etwas, das sich tödlich auswirken konnte.

Erschöpfung.

Er war müde, er war verletzt und hatte sich durch das halbe Dorf gekämpft, um hierher zu gelangen. Lange würde er den mörderischen Kampf nicht mehr durchhalten.

Immer und immer wieder prasselten die Hiebe auf Johann herab. Der Kampf trieb die beiden quer durch den Raum.

Johann und Karrer kämpften wie zwei Tiere, beide warteten auf die entscheidende Gelegenheit. Plötzlich deutete Karrer einen Hieb an, zog aber stattdessen seine Axt von unten her durch und verletzte Johann am Bauch.

Wieder eine Narbe mehr, vielleicht die letzte, dachte Johann.

Er taumelte zurück und stürzte zu Boden. Das Beil fiel ihm aus der Hand, instinktiv tastete er danach, bekam es aber nicht zu fassen.

Dann sah er verschwommen, wie etwas auf ihn zukam. Er vermeinte, ein Zischen zu hören –

Jetzt sah er wieder klar, warf sich blitzschnell nach rechts. Die Axt von Jakob Karrer fuhr donnernd in den Holzboden. Johann rollte sich auf den Rücken, als plötzlich Karrer auf ihm kniete. Johann fiel das Atmen schwer, er kam sich vor wie in einem Schraubstock.

Karrer sah höhnisch auf ihn herab.

„Ich werd dich töten, Schmied, so wie ich dich an dem verfluchten Tag hätt töten sollen, als du wie ein Hund vor meiner Tür gelegen hast.“

„Das haben schon mehr versucht“, keuchte Johann.

Karrer grinste hässlich, dann beugte er sich hinunter und drückte Johanns Hals mit mörderischer Gewalt zu. „Stirb, du verfluchter Hund. Stirb endlich!“

Pfeifend fuhr die Luft aus Johanns Lungen, Sterne tanzten vor seinen Augen. Dann fiel sein Kopf auf die Seite, er sah sein Beil, das außer Reichweite war.

Johanns Kräfte schwanden.

War es das? Würde es so enden?

Hinter dem Beil sah er Elisabeth reglos am Boden liegen.

Nicht so. Nicht heut.

Verschwommen hörte er das triumphierende Lachen seines Gegners über sich. Etwas in seinem Hals begann leise zu knacken. Bilder blitzten vor seinen Augen auf. Elisabeth, wie sie im Kampfgetümmel verschwand. Das kleine Mädchen. Der Ansturm der Ausgestoßenen, das Beil in der Hand, das Messer eingesteckt, damit er beide Hände –

Sein Messer.

Hatte er es noch? Verzweifelt tastete er mit der Hand an seiner rechten Körperseite hinab, dann fühlte er die lederne Scheide.

Und das Messer darin.

Er bekam den Griff zu fassen, zog das Messer aus der Scheide – und wollte es Jakob Karrer mit letzter Kraft ins Gesicht rammen.

Karrer ließ blitzschnell Johanns Hals los und fing dessen Arm ab. Die Messerspitze blieb nur wenige Zentimeter vor Karrers Auge stehen. Er grinste teuflisch, die schwarzen Adern, die sich über seinen Kopf zogen, pulsierten.

„Das war es, List.“ Karrer drückte mit aller Kraft sein Knie auf Johanns Brustkorb.

„Deine letzte Chance. Hast sie vergeben.“

Jetzt!

Johann suchte die Vertiefung im Griff des Messers, fand sie und drückte hinein. Die verlängerte Klinge schoss heraus, bohrte sich durch Karrers Auge und schnitt sich tief in seinen Schädel.

Karrer öffnete zuckend den Mund. Ein tiefes Grollen schwoll heraus, wie Johann es noch nie gehört hatte. Blut strömte aus der Nase, dann hörten die Adern auf Karrers Gesicht auf zu pulsieren. Das Auge brach, der Körper versteifte sich, fiel zur Seite.

Jakob Karrer war tot.

Johann rollte sich weg, blieb keuchend liegen.

Er hatte überlebt. Wieder einmal. Aber er spürte keine Euphorie, sie war einer allumfassenden Leere gewichen, alles war anders, heute war dieses Überleben nichts wert, wenn –

Er setzte sich auf, blickte zu ihrem reglosen Körper hinüber. „Elisabeth!“ Sein Hals brannte wie Feuer, er brachte nur ein Flüstern hervor. „Elisabeth, hörst mich?“ Sie reagierte nicht. Johann stand mühsam auf und hastete zu ihr, er beugte sich hinab und rüttelte sie. „Elisabeth, es ist vorbei … Elisabeth, bitte … lass mich nicht im Stich … sonst ist alles umsonst gewesen!“

Bitte Herr. Bitte lass sie leben!

Ein leises Seufzen, dann öffnete Elisabeth stöhnend die Augen. Johann umarmte sie, küsste sie auf die Stirn. „Elisabeth. Gott sei Dank!“

„Johann“, murmelte sie benommen, „was –“ Ihr Blick fiel auf Jakob Karrer. „Vater?“

„Schau nicht hin … das war nicht mehr dein Vater.“

„Oh doch“, flüsterte sie traurig. „Das war mein Vater. Bis zuletzt.“

Dann sah sie ihren Großvater, wollte etwas sagen, aber Johann schüttelte den Kopf. „Wir können hier nichts mehr tun, Elisabeth. Wir müssen fliehen, sofort!“ Er half ihr auf und zog sie zur Tür, aber Elisabeth hielt ihn am Arm fest.

„Wart, ich möchte mich noch vom Großvater verabschieden.“

„Elisabeth, wir –“

Tränen schossen ihr in die Augen, aber Elisabeth presste entschlossen den Mund zusammen. Johann ließ sie los. Was würde schon dieser eine Moment mehr ausmachen?

Elisabeth ging zitternd zu der Gestalt in der Ecke, kniete sich hin. Liebevoll strich sie ihrem Großvater über die dünnen Haare, über das gütige, zerfurchte Gesicht, das jetzt ruhig, fast friedlich wirkte. Tränen rannen unaufhörlich über ihre Wangen, aber sie holte mehrmals tief Luft und riss sich zusammen. Dafür war jetzt keine Zeit.

Dank dir, Großvater. Für alles. Sie beugte sich hinab und küsste ihn auf die Stirn.

Ein Stöhnen kam über die Lippen des alten Mannes.

Elisabeth erstarrte. Dann hörte sie es wieder, leise zwar, aber unverkennbar: ein fast lautloses Atmen. „Johann, schnell! Der Großvater – er lebt!“ Elisabeth blickte ihn freudestrahlend an.

Johann eilte hin, fasste den alten Mann am Hals, wie er es auf den Schlachtfeldern gelernt hatte. Er fühlte das Schlagen des Herzens. Elisabeth hatte Recht, Martin Karrer lebte!

„Hilf mir, ihn aufzurichten, ich trag ihn.“ Gemeinsam hoben sie den Großvater auf, dann legte Johann ihn sich vorsichtig über die Schulter. Allzu weit würde er ihn nicht tragen können, aber es würde gehen.

Sie verließen die Stube.

Johann und Elisabeth lugten vorsichtig durch die Tür nach draußen. Dichter Rauch umfing die Häuser, herbstlichem Morgennebel gleich, der Schnee war übersät mit den Leichen der Dorfbewohner. Die Ausgestoßenen plünderten die Häuser, huschten schattenhaft durch die gespenstische Szenerie.

Nichts war mehr zu hören außer dem Prasseln der alles verzehrenden Flammen.

Der Kampf war vorbei, die Rache genommen.

Elisabeth stöhnte unwillkürlich auf.

Johann drückte ihre Hand. „Wir müssen zum Stall vom Riegler. Dort ist sicher ein Schlitten, den wir benutzen können.“

Elisabeth nickte wortlos.

Die beginnende Morgenröte tauchte die Bergspitzen in ein weiches Licht, geradezu grausam gegensätzlich zu den Ereignissen, die stattgefunden hatten.

Johann und Elisabeth huschten durch das Dorf, tasteten sich vorsichtig von Hütte zu Hütte zum Stall von Benedikt Riegler. Johann atmete schwer unter seiner zusätzlichen Last, aber zum Glück war es nicht mehr weit.

Dann hatten sie den Stall erreicht. Drinnen waren ein großer Holzschlitten und sogar noch ein Ochse, der sie verängstigt ansah. „Das ist mehr Glück, als uns zusteht“, sagte Johann und tätschelte dem Ochsen den Hals. „Du kannst den Schlitten ziehen.“

Plötzlich hörten sie ein Knurren. Johann und Elisabeth erstarrten.

Das Knurren wandelte sich in ein Winseln. Der Hund, der aus der Dunkelheit schlich, war zwar über und über mit Ruß und Schmutz bedeckt, aber doch unverkennbar.

„Vitus!“, rief Elisabeth freudig aus. Der Hund verzog die Lefzen, schien fast zu grinsen. Er ließ sich genüsslich von Elisabeth hinter den Ohren kraulen. „Du kommst mit uns, du Dreckspatz!“ Vitus bellte einmal kurz und zustimmend.

Johann legte den Großvater, der sich langsam wieder regte, auf den Schlitten. Dann holte er mehrere Hände voll Heu und bettete es über den alten Mann. Elisabeth nahm eine alte Pferdedecke, die über einem morschen Balken hing, und deckte ihren Großvater damit zu.

Johann spannte den Ochsen vor und half Elisabeth aufzusteigen.

Als sie alle im Schlitten saßen, schlug der Großvater die Augen auf, sah sich verwirrt um. „Was –?“

Elisabeth nahm seine Hand. „Ganz ruhig, Großvater – es ist alles in Ordnung.“

„Elisabeth? Was ist denn –“

„Psst, ich erklär dir alles später. Du musst jetzt ganz ruhig sein.“

Der alte Mann sah den Ernst in ihren Augen. Er nickte langsam und legte seinen Kopf wieder auf die Bretter des Schlittens.

Johann drehte sich zu den beiden um. „Betet, dass sie uns nicht sehen.“ Dann blickte er wieder nach vorne, zu dem angeschirrten Ochsen. „Alsdann – bring uns fort“, sagte er leise und bewegte die Zügel.

Der Ochse zog an …

Als Johann, Elisabeth und der Großvater mit dem Schlitten aus dem Dorf entkamen, sahen sie nicht die vermummten Gestalten, die ihnen vom Hügel aus nachblickten.

Eine war sehr klein, fast wie ein Kind.

Sie winkte ihnen nach.