XIV

Sophie hockte auf ihrem Melkschemel und weinte hemmungslos. Ausgerechnet das Stanzerl. Sie hatte sie von Geburt an aufgezogen, sich für sie verantwortlich gefühlt. Jeden Abend hatte sie noch einen Blick in den Stall geworfen, ob alles in Ordnung war, aber gestern hatte sie sich nicht wohl gefühlt und war deshalb vorzeitig zu Bett gegangen.

Dass dies keinen Unterschied gemacht hätte, konnte sie nicht wissen. Ebenso wenig, dass Johann und Albin die Kuh bereits gefunden hatten.

Eines der Kätzchen kam angetappst und schmiegte sich um ihre Füße. Sophie nahm es und drückte es an sich. Das schnurrende Fellbündel tröstete sie ein wenig.

Plötzlich schaute Elisabeth durch die Stalltür. „Sophie?“

Sophie wischte sich hastig die Tränen ab und stand auf. „Kann ich Euch was helfen?“

„Ach, Sophie.“ Elisabeth ging zu ihr hin und nahm sie in die Arme. „Vielleicht finden sie das Stanzerl ja doch.“

Sophie schüttelte den Kopf. „Ihr wisst, dass das nicht passieren wird. Wen sie holen, der bleibt auch fort.“

Dem konnte Elisabeth nicht widersprechen. Aber sie konnte zumindest versuchen, ihre Magd aufzuheitern. „Dann ist sie bestimmt schon im Milchhimmel.“

Sophie stieß ein gepresstes Lachen hervor. „Ich dank Euch.“

Elisabeth löste sich von ihr und ging zur Stalltür. „Komm dann hinüber, wir müssen das Essen zubereiten.“ Sie drehte sich in der Tür noch einmal um. „Sophie?“

Diese blickte auf.

„Der Johann …“ Elisabeth haderte mit den Worten.

Sophie verstand. „Kenn mich schon aus, keine Sorge.“

„Danke, Sophie.“ Elisabeth verließ den Stall.

Am Abend wusste jeder im Dorf von der geschlachteten Kuh, die Johann und Albin vor dem Wald gefunden hatten. In der Dorfschenke saßen Jakob Karrer, sein Bruder Franz, Benedikt Riegler, der Pfarrer Kajetan Bichter und Alois Buchmüller an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes zusammen.

Sie schwiegen, lauschten dem Knistern des Feuers.

Dann ergriff Riegler das Wort. „Bei der Kälte wundert’s mich, dass sie nicht schon früher gekommen sind. Ich sag’s euch – das wird der härteste Winter seit Jahren.“

„Aber ausgerechnet mein Viech!“, stieß Jakob Karrer wütend hervor.

Bichter sah ihn fassungslos an. „In Gottes Namen! Wegen der einen Kuh wirst schon nicht verhungern, Karrer! Wenn ihr das ganze Jahr über nicht so auf euren Vorräten hocken würdet –“

„Soll’n wir diese Teufel vielleicht noch durchfüttern?“, fiel ihm Karrer scharf ins Wort.

„Ein wenig Barmherzigkeit würd euch allen nicht schaden. Immerhin hat der Herrgott uns alle geschaffen!“

Jakob Karrer stand die Verachtung ins Gesicht geschrieben. „Dein Mitleid mit denen hab ich noch nie verstanden, Pfarrer.“

„Und so, wie’s ausschaut, wirst du das auch nie. Wird keiner von euch!“, sagte der Pfarrer laut.

Die anderen am Tisch blickten ihn verständnislos an.

Kajetan Bichter trank seinen Bierkrug in einem Zug aus und stand abrupt auf. Die Runde sah ihn entgeistert an, in Erwartung, was nun kam. Dann sprach der Pfarrer mit gehaltvoller Stimme: „Liebet eure Feinde; tut denen wohl, die euch hassen.“

Er stellte den leeren Krug ab und fuhr nach einer kurzen Pause leiser fort: „Lukas, Kapitel 6, Vers 27. Einen schönen Advent wünsch ich, meine Herren!“ Dann drehte er sich um und verließ schnell die Schenke.

„Was ist denn mit dem los?“, fragte Benedikt Riegler ungläubig.

„Denn er hatte zu tief ins Glas geschauet. Karrer. Kapitel 1, Vers 99“, platzte es aus Franz Karrer heraus, gefolgt von einem sonoren Rülpser.

Die ganze Runde brach in schallendes Gelächter aus.

„Außerdem wird der vor Weihnachten doch immer ein bisschen seltsam“, kommentierte Buchmüller.

„Ja, aber von Jahr zu Jahr mehr“, fügte Franz Karrer hinzu.

„Irgendwann wird’s mir zu bunt mit unserm Herrn Pfarrer …“, knurrte sein Bruder.

„Beruhig dich, Jakob“, beschwichtigte ihn Benedikt Riegler. „Wenn ihr was braucht, dann sag’s einfach.“

„Genau. Und jetzt trinken wir noch einen. Vielleicht werden wir dann auch erleuchtet.“ Buchmüller machte eine Handbewegung zu seiner Frau, die sogleich mit vier Bierkrügen an den Tisch kam.

„Gesundheit!“ Die Krüge stießen zusammen.

Du Narr, warum erzählst du ihnen nicht gleich die ganze Wahrheit?

Kajetan Bichter stand verzweifelt in seiner Sakristei. Der Streit in der Schenke war zwar nicht der erste dieser Art, aber noch nie zuvor hatte er so offen Stellung bezogen. Und noch nie zuvor hatte er sich so tief in die Karten blicken lassen.

Natürlich lag ihm jeder Einzelne seiner Gemeinde am Herzen, jeder Einzelne darin. Aber wie konnte er mit denen leben, ja von denen leben, die gegen all das standen, wofür sein Herz schlug?

Er sah sich in der Sakristei um. Sie war Refugium und Kerker zugleich. Hier lagerten die alten Schriften, die wenigen, die man hatte retten können. Er konnte sie fast alle auswendig, der riesige Berg aus zerflossenem Kerzenwachs legte Zeugnis ab von seinen nächtelangen Studien. Und von seiner immerwährenden Suche nach Hilfe, oder Erlösung, wenn man so wollte.

„Soll’n wir diese Teufel vielleicht noch durchfüttern?“ Jakob Karrers Worte dröhnten in seinen Ohren. Kajetan Bichter wusste nicht, was er gegen die Starrköpfigkeit seiner Leute tun sollte.

Er öffnete die eisenbeschlagene Truhe zu seiner Linken und nahm ein dreieckig zugehauenes Holzscheit heraus. Bedächtig legte er das Scheit vor den Schreibtisch, auf dem sich die alten Bücher reihenweise stapelten. Die Stirnseite des Holzstücks sah nach oben und war schon etwas eingedrückt.

Dann nahm er ein großes, in schweres Leder gebundenes Buch heraus und schlug es wahllos auf.

Das Buch der Bücher.

Bichter kniete sich nun auf das Holzscheit, sodass sich die Kante hinter seine Kniescheiben drückte. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, um den Schmerz zu überwinden. Dann zog er die Verschnürung seiner Kutte auf und streifte sie sich ab. Andächtig begann er in der heiligen Schrift zu lesen, suchte Trost in den Leiden Christi.

Der Pfarrer wusste, dass ihn etwas mit dem Heiland verband. Wie der Erlöser hatte er aus seinem Geburtsort flüchten müssen, aber die Kraft, offen für seine Anliegen einzutreten, die hatte er nie gefunden. Er hatte immer gehofft, dass seine Gemeinde Einsicht erlangen würde. Bisher vergebens.

Die Leiden Christi.

Kajetan Bichter nahm eine lederne Geißel aus der Truhe. Wenn die Seinen leiden mussten, dann wollte er nicht verschont bleiben.

Mit kräftigem Schwung schlug er sich die Geißel auf den Rücken.

Das Fleisch färbte sich dunkelrot. Die Narben auf dem leidgeprüften Rücken begannen zu bluten …