XXVII

Fast das ganze Dorf hatte sich auf dem Kirchplatz versammelt. Die nicht gekommen waren, blickten neugierig, aber ängstlich aus ihren kleinen Fenstern.

Zwei Gruppen standen sich auf dem Platz gegenüber. Auf der einen Seite die Dorfbewohner mit Benedikt Riegler und Franz Karrer an der Spitze, auf der anderen die bayerischen Soldaten, voran ihr Kommandant.

Dazwischen lag der tote Soldat im Schnee.

Bis auf ein Murmeln unter den Dorfbewohnern war es still, nur das Rauschen des kalten Windes war zu hören, der von den Bergen herabfegte.

Das Gesicht des Kommandanten war starr, als er Riegler ansah. „Was war hier los? Sprich!“

Bevor Riegler etwas sagen konnte, kam ihm Franz zuvor. Wütend rief er „Eure Leut haben die Gottesgeißel! Schaut sie Euch an, bald werdet ihr alle so aussehen wie der da!“ Er zeigte auf den toten Soldaten und die Verästelungen auf dessen Brust.

„Er hat Recht, euch kann nur mehr der Herr retten!“, sagte Josias Welter.

„Schweigt! Schweigt, ihr abergläubisches Gesindel! Alles was ich seh, ist mein erschlagener Soldat!“ Die Stimme des Kommandanten dröhnte über den Platz.

Alle verstummten erschrocken.

„Erlöst hat er ihn!“, flüsterte die alte Salzmüller trotzig.

Der Kommandant fuhr herum. „Was hast du gesagt, alte Vettel?“

Sie erwiderte seinen Blick, küsste zwei ihrer Finger und machte das Zeichen gegen das Böse. Dann spuckte sie ihm vor die Füße.

Der Kommandant wurde weiß im Gesicht, seine Hand fuhr zum Säbel. „Dir alten Hex werd ich gleich –“

„Beruhigt euch. Beruhigt euch alle!“ Kajetan Bichter hatte diese Worte gesprochen, er eilte zum Kommandanten hin. „Bitte. Ihr wisst ja nicht, wovon Ihr redet. Wer sich einmal mit der Gottesgeißel ansteckt, der wird wie die da oben.“ Er zeigte mit zitterndem Finger in die Wälder oberhalb des Dorfes. „Schaut Euch doch den Toten näher an. Seht Ihr die schwarzen Verästelungen? Dies sind die untrüglichen Vorzeichen der Geißel.“

Jetzt wandte sich Benedikt Riegler an den Kommandanten. „Seid ihr kurz vor unserem Dorf jemandem begegnet?“

Der Kommandant nickte. „Ja, nach Einbruch der Dämmerung, auf eine vermummte Gestalt – wir wollten nur fragen, ob er sich hier auskennt. Gesagt hat er nichts, stattdessen hat er uns attackiert.“ Er machte eine kurze Pause. „Das Letzte, was er getan hat.“

Kajetan Bichter schüttelte den Kopf. „Dazu hattet Ihr kein Recht.“

Der Kommandant trat ganz nahe zu ihm hin. „Hört gut zu, Pfarrer, niemand greift meine Soldaten straffrei an. Und niemand stellt meine Entscheidungen in Frage! Wenn ich so etwas zuließe, würden meine Männer, für die ich die Verantwortung trag, auf dem Schlachtfeld keine Stunde überleben.“ Er trat zurück, seine Stimme hallte über den Platz. „Als wir in euer Dorf gekommen sind, hab ich da nicht eindeutig klargestellt, wie wir uns gegenseitig verhalten sollen?“ Er sah die Dorfbewohner an. „Wir haben uns daran gehalten, ihr nicht.“

Dann stellte er sich neben den toten Soldaten. „Wer von euch war’s? Wer hat meinen Soldaten erschlagen?“

Schweigen.

Der Kommandant drehte sich um und blickte zu dem Soldaten, der die Tat gemeldet hatte. Dieser zeigte wortlos auf Franz Karrer. Als sich der Kommandant Franz zuwandte, machten die anderen Dorfbewohner unwillkürlich einen Schritt von ihm weg.

Franz blieb bleich, aber gefasst stehen.

Der Kommandant nickte, zwei Soldaten packten Franz links und rechts grob bei den Armen und hielten ihn fest.

Der Kommandant blickte Franz an und sprach so, dass es alle hören konnten. „Ich sprech Dich für den Totschlag an meinem Soldaten schuldig. Dieses Urteil wird standrechtlich vollstreckt. Albrecht!“ Er gab dem alten Kämpfer ein Zeichen, dieser zückte ein Messer.

Jetzt begann sich Franz Karrer panisch zu wehren, aber vergeblich, die Soldaten hielten ihn eisern fest. Ein Raunen ging durch die Menge.

„Was fällt Euch ein, Euch als Richter in meinem Dorf aufzuspielen?“, rief Benedikt Riegler dem Kommandanten zu.

Kajetan Bichter wandte sich ebenso an den Kommandanten. „Ich bitt Euch, zeigt Gnade in Gottes Namen!“

Der Kommandant spuckte verächtlich auf den Boden. „So viel Gnade, wie ihr meinem Mann habt zukommen lassen, Pfarrer?“ Der Kommandant grinste kalt. „Da Ihr von Gott sprecht, heißt es nicht Aug um Aug, Zahn um Zahn?“

Er nickte seinem Adjutanten zu. Der ging schnellen Schrittes auf Franz zu, stach ihm ohne zu Zögern das Messer links in den Hals und riss es in einem Halbkreis herum. Dann packte er Franz am Schopf und zog seinen Kopf nach hinten. Blut schoss wie in einer Fontäne aus dem Hals, Franz riss die Augen auf und quiekte aus der Wunde wie ein abgestochenes Schwein.

Die Dorfbewohner waren wie versteinert, selbst manche der Soldaten wendeten den Blick ab.

Franz Karrer sank langsam auf die Knie und fiel mit dem Gesicht vornüber in den Schnee. Seine Beine zuckten noch ein paar Mal, dann war er tot.

Allmählich begann jeder zu realisieren, was geschehen war, die Frauen brachen in Tränen aus, die Männer senkten den Kopf und bekreuzigten sich.

Dann hörten sie den Wutschrei, der über den Dorfplatz dröhnte. Jakob Karrer war aufgetaucht, die Fäuste geballt, hinter ihm standen Johann, Elisabeth und Sophie. Langsam ging Karrer jetzt nach vorne, die Menge teilte sich vor ihm. Er beugte sich über den Leichnam seines Bruders und strich ihm kurz über die Haare.

„Franz …“, flüsterte er leise.

Dann stand er auf und blickte zum Kommandanten. „Dafür,“ er holte tief Luft, „dafür wirst du mir bezahlen, du Saukerl!“

Der Kommandant sah ihn interessiert an. „Ach ja? Dann doch am besten gleich jetzt.“

„Vater, nicht!“, rief Elisabeth, „sie werden –“

In diesem Moment ging ein Schrei durch die Menge. Jakob Karrer hatte einen Holzprügel aufgehoben und sprang auf den Kommandanten zu. Der blieb ungerührt stehen, denn er wusste, dass er sich auf seinen Adjutanten verlassen konnte. Und wirklich trat Albrecht blitzschnell vor seinen Kommandanten und schlug Karrer so gekonnt in den Magen, dass dem die Luft wegblieb. Karrer klappte zusammen, das ganze hatte höchstens ein, zwei Augenblicke gedauert.

„Vater! Vater!“ Elisabeth wollte nach vorne stürmen, aber Johann hielt sie zurück.

„Lasst Euch das eine Lehre sein! Wenn hier einer Recht spricht, dann ich!“, sagte der Kommandant.

„Recht sprechen kann nur der Herrgott!“, murmelte Kajetan Bichter und bekreuzigte sich.

Der Kommandant trat sehr nahe an den Pfarrer heran, seine Lippen waren aufeinander gepresst. „Pfarrer,“ stieß er leise hervor, „Pfarrer, ich warne Euch. Haltet Eure Schäfchen unter Kontrolle, oder es wird noch mehr Blut fließen.“

Dann wandte er sich an Benedikt Riegler. „Du da! Du hast vorhin gesagt, dass zwei meiner Männer diese, hm, Gottesgeißel hätten. Wer ist der andere?“

Riegler zeigte auf den Soldaten, der in der Schenke gewesen war. Der Kommandant nickte dem Mann zu. „Oberkörper freimachen!“

„Aber Kommandant –“

„Wird’s bald?“

Der Soldat tat eingeschüchtert, wie ihm befohlen. Er zog sein Hemd aus, und alle konnten die schwarzen Verästelungen sehen, die sich über die Brust zogen. Nicht so stark wie bei seinem toten Kameraden, aber unverkennbar.

„Ich hab gedacht, das wär vielleicht eine Blutvergiftung, oder so …“, murmelte der Soldat kleinlaut.

Der Kommandant wandte sich an Albrecht. „Sperrt diesen da,“ er zeigte auf Jakob Karrer, „und den da“, er zeigte auf den Soldaten, der seinen Kommandanten überrascht ansah, „in einen Stadl ein und bewacht sie! Ich werde morgen entscheiden, was geschehen soll.“

Die Soldaten, einer davon war Gottfried, führten den Befehl unverzüglich aus und zerrten Karrer und den Soldaten schnell zu einem nahe gelegenen Stadl. Beide wehrten sich, jedoch ohne Erfolg, dann wurden sie in das Innere des alten Holzbaus gestoßen.

Sophie sah entsetzt zu. Wie konnte Gottfried nur?

In diesem Moment drehte dieser sich um, sah Sophie und warf ihr einen hilflosen Blick zu.

Die Tür wurde mit einem dicken Brett verriegelt, zwei Soldaten blieben als Wachposten stehen.

„Das könnt ihr nicht machen, der Soldat wird den Vater anstecken, ich bitt Euch!“, rief Elisabeth verzweifelt.

„Sie hat Recht. Ihr habt das Todesurteil über beide gesprochen!“, warf Kajetan Bichter ein.

Der Kommandant seufzte. „Pfarrer, ich sage es nicht noch einmal: Euer Aberglaube interessiert mich nicht! Kümmert Euch lieber um das Wohlergehen derer, die sich noch nicht schuldig gemacht haben. Und – sorgt für ein anständiges Begräbnis der beiden Toten!“

Er drehte sich um und verließ mit seinen Soldaten den Hauptplatz.

Die Dorfbewohner nahmen, noch immer geschockt, die beiden Leichen auf.

„Bringt sie in den kleineren Getreidespeicher hinter meinem Hof“, befahl Benedikt Riegler. „Der ist leer. Lange müssen sie eh nicht drin bleiben, wir werden sie morgen beisetzen.“ Er sah Bichter fragend an.

Der Pfarrer nickte geistesabwesend.

Von Riegler angeführt, trugen die Dorfbewohner die Leichen vom Platz weg. Kajetan Bichter schien etwas zu Elisabeth sagen zu wollen, schüttelte dann aber den Kopf und ging in seine Kirche.

Auch Sophie verließ den Platz. Sie wusste, dass Gottfried nicht gegen die Befehle seines Kommandanten handeln konnte. Sie seufzte – nun würde alles noch viel schwieriger werden. Aber vielleicht spielte das keine Rolle mehr, wenn sie nur sich hatten.

Johann und Elisabeth blieben allein auf dem Dorfplatz zurück. Elisabeth blickte zum Stadl, vor dem die Wachen standen, dann auf den großen Blutfleck, der in der Mitte des Platzes zu sehen war. Sie brach in Tränen aus.

Johann umarmte sie erst zögerlich, dann drückte er sie fest an sich. „Es wird alles gut, Elisabeth. Ich versprech’s dir.“

Dann blickte er nach oben. Schneeflocken fielen vom Himmel, immer dichter …

Johann erinnerte sich an Ignaz’ Worte, an einen bestimmten, unheilvollen Satz, den der Knecht damals in den Wäldern ausgesprochen hatte.

Es geschieht nur in den besonders kalten Wintern.

So wie es aussah, waren die Soldaten ihre geringste Sorge.

Er drückte Elisabeth fester.