XXXV

In Inneren der Kirche war es genauso kalt wie draußen. Elisabeths Atem vermischte sich mit dem Dunst aus Weihrauch und Kerzenruß, der in der Luft lag. Langsam ging sie die Reihen der Kirchenbänke ab.

Nichts.

Sie war am Altar angekommen. Außer der fein gewobenen Schmuckdecke, einem schweren Kerzenleuchter und der Marienstatue befand sich nichts auf dem steinernen Aufbau, und auch dahinter konnte sie bis auf einen Holzschemel nichts finden. Verzweifelt blickte sie sich um: Sie war sich so sicher gewesen, dass sie mit ihrer Intuition richtig lag. Aber hier gab es nichts, die Kirche war genauso leer wie –

Elisabeth stutzte.

Die Sakristei. Sie hatte sie noch nie betreten, der Raum war allein dem Pfarrer vorbehalten.

Zaghaft ging Elisabeth auf die Tür zu, aus der ein großer, schmiedeeiserner Griff und ein Schloss ragten. Sie hielt einen Moment lang inne und lauschte.

Niemand zu hören.

Ihr Herz schlug schneller. Die Tür vor ihr strahlte etwas Verbotenes aus. Elisabeth hatte das Gefühl, dass sich bei der kleinsten Berührung unter ihr die Erde auftun und sie verschlucken würde, um ihr das letzte Geleit ins Purgatorium zu geben.

Sie hielt den Atem an, tippte dann kurz an die Tür.

Nichts geschah.

Sie fasste sich ein Herz und drückte die Klinke. Nach einem schier endlos langen Quietschen passierte – nichts.

Die Tür war versperrt.

„Herkommen! Schnell!“ Albrechts Stimme schnitt durch den Nebel, die Männer liefen in seine Richtung.

Bis sie unwillkürlich erstarrten, sahen, was er gesehen hatte.

Ihre Warnung.

Es war Albin, besser gesagt, das, was sie zurückgelassen hatten. Sie hatten ihn zwischen zwei Baumstämmen aufgespannt, wie ein Fell zum Trocknen. Grobe Seile streckten seine Gelenke, die Kleidung war mit Blut vollgesogen und in Fetzen gerissen. Der Kopf hing leblos herab, der Hinterkopf war stark eingedrückt. Seine Haut hatte jegliche Farbe verloren, unter Nase und Kinn hingen Eiszapfen.

Er war also noch eine Zeit lang am Leben gewesen, nachdem man ihn aufgeknüpft hatte.

Und dann unter unsäglichen Schmerzen erfroren.

Johann war geschockt, ebenso die Dorfbewohner. Aber auch die Soldaten waren von dem grausamen Bild nicht unberührt.

Der Kommandant schnappte sich Benedikt Riegler und zerrte ihn vor Albin. „Was zum Teufel ist das da?“ Er drehte seine Faust, die den Kragen von Riegler fasste. Dem wurde die Kehle eng, er begann zu wimmern.

„Wessen Teufelei ist das?“, brüllte ihn der Kommandant erneut an. Die Dorfbewohner blickten betroffen zu Boden, keiner wagte, einen Mucks von sich zu geben.

Kajetan Bichter umklammerte sein Eisenkreuz. „Es ist ein Zeichen vom Herrgott.“

Der Kommandant ließ Riegler fallen und schritt auf den Pfarrer zu. „Habt Ihr mir was zu sagen, Hochwürden?“

„Es ist Sein Zeichen. Wir sollten hier umkehren.“

„Wollt Ihr damit sagen, dass der Allmächtige selbst diesen armen Tölpel hier aufgeknüpft hat? Als Warnung für uns?“

„Nun, bestimmt nicht höchstpersönlich, aber –“

„Jetzt hab ich aber die Schnauze voll von Eurer Geheimnistuerei! Wir gehen jetzt den Berg rauf und werden uns wem oder was auch immer stellen! Und wenn wir nichts vorfinden sollten, dann werdet Ihr, Herr Pfarrer, der Erste sein, der seinem Schöpfer höchstpersönlich gegenübertritt, und alle eure Schäfchen werden euch folgen! Verstanden?“ Das Gesicht des Kommandanten war krebsrot vor Zorn, seine Halsschlagadern traten pochend hervor.

„Zuerst holen wir den Albin da runter.“

Johanns Worte waren leise, aber bestimmt. Und gleichzeitig der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

„Nichts dergleichen werden wir tun!“, fuhr Albrecht Johann an, während sich der Kommandant Johann langsam zuwendete und die Hand auf den Griff seines Säbels legte.

Johann beachtete die beiden nicht, er blickte die Bauern und Knechte an. „Er war mein Freund.“ Johann machte eine kurze Pause. „Er war euer Freund. Ein redlicher Knecht. Er hat sich so ein Ende nicht verdient. Holen wir ihn herunter und bestatten wir ihn, wie es der Herrgott von uns verlangt.“

Ein zustimmendes Gemurmel ging durch die Bauern, die Soldaten wurden unruhig. Der Kommandant, dem es endgültig reichte, zückte seinen Säbel und drückte ihn gegen Johanns ledernen Kehlschutz. „Schmied – das vorhin war ein Befehl! Und glaub ja nicht, dass ich deine Lederhaut nicht durchstoßen könnt!“

Johann wusste, dass jeder weitere Widerspruch die Situation kippen würde.

Es war also wieder einmal so weit.

Kein Zurück.

Blitzschnell schoss er am Säbel vorbei, drehte sich geschmeidig hinter den Kommandanten, packte diesen am Schopf und drückte ihm seine Axt gegen den Hals.

Die Männer erstarrten, die Soldaten legten nach einem Moment des Schreckens ihre Gewehre auf Johann und den Kommandanten an.

„Diese Axt ist so scharf geschliffen, dass sie Euch den halben Schädel abtrennt, wenn ihr nur stark hustet!“, knurrte Johann.

„Und danach machst du was, Schmied?“

„Das Danach ist mir vielleicht gleichgültig, habt Ihr daran schon gedacht?“

„Dir vielleicht. Aber was wird sie machen? Ohne Vater? Ohne dich?“ Der Kommandant grinste. „Dein Fehler, Schmied. Wenn du in den Kampf ziehst, lass niemanden zurück, der dir etwas bedeutet. Denn dann wirst du verwundbar.“

Kein Zurück. Oder doch?

Johann zögerte – dann ließ er die Axt genauso schnell verschwinden, wie er sie hervorgezogen hatte, und trat einen Schritt zurück.

Klack!

Der Hahn eines Vorderladers war zugeschnappt, der junge Soldat hielt die Waffe immer noch im Anschlag. Ein Blindgänger. Der Soldat schluckte und senkte zitternd die Waffe.

„Geht dem seine Waffe nicht los! Das wird ja immer besser“, ereiferte sich Albrecht. „Den nächsten, dem so ein Missgeschick passiert, werd ich eigenhändig vierteilen!“

Der Kommandant ließ seinen Säbel in die Scheide zurückgleiten. Er blickte in die Runde: verdutzte Soldaten, verängstigte Bauern, und alle müde von den Strapazen des Aufstiegs. Ein wahrlich prächtiges Kommando, das er da zusammengestellt hatte.

Er blickte zu Johann. „Ich hab jetzt keine Zeit, mich mit dir und deinem Verhalten zu beschäftigen, aber glaub ja nicht, dass ich deine Insubordination vergesse. Du scheinst der Einzige in dem Haufen zu sein, der Mut hat – dich können wir da oben vielleicht noch brauchen. Und wenn nicht –“ Sein Mund verzog sich spöttisch.

Johann nickte. „Mein Wort drauf.“

Der Kommandant blickte zu Albin hinauf. „Und deinen Freund kannst du dann ja auf dem Rückweg beerdigen.“ Er nickte Albrecht zu, der drehte sich zu den Männern um. „Abmarsch! Bewegt euch!“

Der Trupp setzte sich in Bewegung. Johann wartete, bis der Pfarrer zu ihm aufgeschlossen hatte, und ging einige Schritte mit ihm. Kajetan Bichter murmelte ein Gebet.

„Für den Albin wirst bezahlen, das schwör ich dir!“ Johann spuckte zu Boden und ließ sich an den Reihen der vorüberziehenden Bauern vorbei nach hinten fallen.

Kajetan Bichter schien Johanns Worte nicht verstanden zu haben. Oder sie waren ihm einerlei. Er blickte starr nach vorne, betete weiter.

Albrecht und der Kommandant gingen gemeinsam an der Spitze. Beide wussten, dass die gesamte Aktion auf des Messers Schneide stand. Der Kommandant blickte zurück auf den Haufen, der ihnen folgte. „Als wir ins Dorf gekommen sind, hätten wir sie alle erschießen sollen.“

Albrecht nickte, dann führten sie den Trupp in das unbekannte Grau hinein, das vor ihnen lag.

Elisabeth schlug verärgert mit der Hand gegen die Tür. Da sich das in einem Gotteshaus nicht ziemte, wandte sie sich, erschrocken über sich selbst, zum Altar und bekreuzigte sich. Dabei fiel ihr Blick auf den schweren Kerzenständer.

Genau das richtige.

Sie ging zum Altar, griff sich den schweren Ständer und eilte wieder zur Tür zurück. Schnell drückte sie den Standfuß zwischen Rahmen und Türblatt, dann zog sie an dem so entstandenen Hebel.

Mit einem lauten Knarren sprang das Schloss aus seiner Arretierung, die Tür ging auf. Elisabeth stürzte nach hinten, der Kerzenständer fiel ihr hart auf den rechten Unterarm. Tränen schossen ihr in die Augen, aber es war nicht die Zeit für Wehleidigkeiten. Sie stellte den Kerzenständer wieder auf seinen Platz, bekreuzigte sich abermals und lief zu der nun offenen Sakristei.

Elisabeth zögerte nur kurz, dann betrat sie den düsteren Raum …

Der Nebel begann sich zu lichten.

Vor dem Trupp zeichneten sich die Konturen der alten Ruine ab. Der Kommandant wendete sich an Benedikt Riegler. „Das da?“ Der Dorfvorsteher nickte.

Plötzlich huschte ein Schatten hinter einem Baum hervor und rannte zur Ruine.

„Packt ihn!“ Albrecht war bereits losgelaufen.

Nun kam Bewegung in die Männer. Alle stürmten den Hang hinauf, in die Richtung, in die sie den Schatten hatten entkommen sehen.

Im vierkantigen Innenhof der Ruine sammelten sie sich wieder. Sie blickten sich um, immer noch außer Atem vom schnellen Lauf. Der verfallene Turm ragte in den Himmel, ein stummer Zeuge der Vergangenheit, sein Tor von einer Steinlawine verschüttet.

Vor dem nebligen Himmel sah er unendlich kalt und tot aus.

„Und was sollen wir hier nun finden?“ Albrecht sah sich verärgert um, aber nichts deutete auf Leben in den kalten Mauern hin. „Hier ist nichts!“

„Aber sie leben hier“, antwortete Riegler.

„Wer? Wer lebt hier, verdammt noch einmal!“ Albrecht war fuchsteufelswild geworden, sinnlose Vergeudung von Mensch, Material und Zeit war ihm immer schon gegen den Strich gegangen.

„Die Ausgestoßenen! Ich schwör’s bei der Heiligen Jungfrau Maria!“ Benedikt Riegler bekreuzigte sich. „Sie haben schon immer hier gelebt.“

„Und wo sind sie dann? Keine Behausung, kein Lebenszeichen, nichts! Nicht mal eine Feuerstelle! Hier oben war schon dutzende von Jahren keine Menschenseele mehr, schaut euch doch um!“

„Aber –“ Riegler rang nach Worten.

Albrecht ging auf ihn zu und schlug ihm die gestreckte Faust ins Gesicht. Riegler fiel zu Boden und wimmerte, Albrecht baute sich über ihm auf, bereit, ihm eine gehörige Tracht Prügel zu verpassen.

„Herr Adjutant!“ Die Worte des Kommandanten waren scharf und ließen nichts an Deutlichkeit vermissen.

Albrecht hielt inne, dann trat er einen Schritt zurück und beruhigte sich etwas.

Keiner der Männer bewegte sich, nur das Rauschen des Windes, der über die Wipfel der Bäume strich, war zu hören.

Sie leben hier –“, beteuerte Riegler, der schluchzend am Boden lag.

„Genau wie eure Einbildung“, entgegnete der Kommandant. „Wir haben euch gewarnt gehabt, und jetzt …“

Die Bauern wurden unruhig. Johann sah sich um: Die einzige Fluchtmöglichkeit war der Mauereinbruch, durch den sie gekommen waren, und das war ein Nadelöhr. Wenn die Soldaten ernst machen würden, hätten sie keine Chance. Andererseits konnte er ihnen wohl kaum den geheimen Eingang verraten, dann würden sie alle da unten sterben.

Plötzlich schälte sich eine Gestalt in einer Kutte aus einer dunklen Ecke heraus und schlüpfte blitzschnell hinter einem riesigen Rosenstrauch in Deckung. Es war so schnell vor sich gegangen, dass keiner reagieren konnte.

Der Kommandant fasste sich als Erster. „Hackt mir das verdammte Gebüsch weg!“

Zwei der Bauern begannen, den jahrzehntealten Rosenbusch, der wild über die Turmmauer hochwuchs, umzuhacken. Mit jedem Hieb mehr legten sie eine Öffnung frei, ein Mauerloch, das in den alten Turm hinabführte.

Ein Soldat entzündete eine Ölfunzel und reichte sie dem Kommandanten. „Vielleicht ist an eurer Räuberpistole ja doch etwas Wahres dran. Wir steigen da hinab, ich brauch zwei Freiwillige, die vorangehen.“ Der Kommandant deutete auf zwei Knechte. „Ihr beide. Bewegt euch, na los!“ Die beiden erstarrten augenblicklich. Der Kommandant griff wütend zu seinem Säbel. „Wollt ihr wohl –“

„Ich geh voran.“ Johann nahm die Ölfunzel.

„Der Schmied natürlich, wer sonst?“ Der Kommandant rollte mit den Augen, zeigte auf Josias Welter, der neben Johann stand. „Dann geh du mit ihm. Und keine Widerrede!“

Josias umfasste seinen mit Nägel gespickten Dreschflegel fester und folgte Johann mit grimmiger Miene in das schwarze Loch hinab.