XXXIX

Der beißende Gestank nach Rauch und verbranntem Fleisch hing in der unterirdischen Halle. Ruhig stieg Anselm über die Leichen der Bauern und Soldaten, die noch am Boden lagen. Ihre eigenen Toten und Verwundeten hatten sie bereits weggeschafft. Als Anselm die schmerzverzerrten Gesichter am Boden sah, fuhr ihm ein Stich ins Herz.

Gerechtigkeit.

Aber um welchen Preis?

Justitia.

Waren sie letztendlich doch zu den Bestien geworden, die man sie so lange geheißen hatte?

Anselm hörte ein leises Lachen. Er sah Jakob Karrer in der Mitte der Halle stehen, groß und blutverschmiert, über den Körper des Anführers der Soldaten gebückt. Karrer hob ein Beil vom Boden auf. Dann visierte er den Hals des Toten an und hob die Axt.

„Karrer! Nicht!“, peitsche Anselms Stimme durch den Raum.

Karrer ließ die Axt sinken, wandte sich Anselm zu. Dieser erschauderte – der Mann hatte überhaupt nichts mehr Menschliches an sich. Anselm hatte dies mehrere Male erlebt: Die Krankheit, an der sie litten, veränderte jeden Menschen auf eine eigene Weise, indem sie seine Eigenschaften, im Guten wie im Schlechten, verstärkte.

Jakob Karrer muss im Leben ein zutiefst böser Mensch gewesen sein, dachte Anselm grimmig.

„Er gehört mir!“, stieß Karrer harsch hervor. Seine Stimme war eher ein Knurren, mehr denn je glich er einem Tier – die blassen Augen, das blutverschmierte Gesicht, die Hände, die sich krallenartig bogen …

„Satis est“, sagte Anselm ruhig. „Die Bayern bezahlen für ihre Sünden. Wie dein Dorf auch.“

„Noch nicht“, erwiderte Karrer und drehte die Axt in seinen Händen. „Der Herrgott will, dass wir sie bestrafen.“

„Quia? Sie haben Männer und Söhne verloren, was könnte eine größere Strafe für die Alten und Weiber sein? Denkt an die Kinder, die sich nicht versündiget haben. Innocentes sunt.“

„Niemand ist unschuldig“, flüsterte Karrer grollend.

„Ich habe gesehen, wie du gegen deine ehemaligen Freunde vorgegangen bist. Hör mir zu –“

„Freunde?“ Karrer stieß ein höhnisches Lachen hervor. „Hier in den Bergen gibt’s keine Freund. Hier gibt’s nur dich und die anderen.“

Anselm trat nahe zu Karrer hin und blickte ihm fest in die Augen. „Das mir tut leid für dich. Du aber wirst hier bei uns tun, was ich sag.“

„Und wie geht’s dann weiter? Deine unschuldigen Kinder da unten werden auch mal erwachsen, und was dann? Sie werden genauso handeln, wie ihr es vor langer Zeit getan habt. Ich sag, wir machen ein für alle Mal Schluss!“ Karrer hatte diese Worte Anselm ins Gesicht geschrien.

„Und ich sage: Justitia ist Genüge getan.“

Karrer schwieg.

Du wirst noch erfahren, was justitia heißt. Und die Hölle wird sich über diesem Tal auftun.

Jakob Karrer grinste unwillkürlich bei diesem Gedanken.

Der junge Heinrich trat mit einigen Männern von hinten an Anselm heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Anselm nickte, flüsterte zurück, im Glauben, dass Karrer ihn nicht hören konnte.

Was ein Irrtum war.

Einer ist entkommen. Ein junger Mann, mit einem zerfetzten Ledermantel.

Wie konnte er –?

Er hat unsere Frauen und Kinder entdeckt, hat sie aber verschont. Da haben sie ihm den Weg gezeiget.

Sie haben recht getan … Mag er entkommen sein, es ändert nichts. Nihil!

Johann.

Entkommen.

Das würde Jakob Karrer zu verhindern wissen.

Anselm sprach leise mit Heinrich. „Gebet Acht auf ihn, er ist zu allem –“

Das Beil fuhr ihm so schnell in den Kopf und wieder heraus, dass er noch einen Augenblick lang stehen blieb. Dann sackte er zu Boden, zu Füßen Jakob Karrers, der mit dämonischem Grinsen über ihm stand.

Heinrich und die anderen sahen ihn entsetzt an. Weitere Männer tauchten auf, die Halle füllte sich.

„Was hat er getan?“

„Er hat Anselm –“

„Seid ruhig, ihr Narren!“, dröhnte Karrers dunkle Stimme durch die Halle. Sofort verstummten alle.

„Wir werden ins Dorf hinuntergehen und sie für ihre Sünden bezahlen lassen!“, befahl Karrer grimmig.

Heinrich fuhr ihn zornig an: „Aber –“

„Wir haben euch fast verhungern lassen. Wenn es nach uns gegangen wär, würde das alte Gemäuer hier euer aller Grab sein! Aber sie waren zu feig, um die Sache in die Hand zu nehmen. Stattdessen wollten sie, dass die verfluchten Bayern die Drecksarbeit für sie übernehmen.“ Karrer spuckte zu Boden. „Ich bin jetzt einer von euch, und ich werd nicht warten, bis sich die Weiber da unten vom ersten Schrecken erholt haben und dann vielleicht um viel Geld ein paar Söldner hier heraufschicken!“

Er deutete auf den toten Anselm. „Er war genauso ein Feigling wie die da unten, nicht wert, euer Anführer zu sein. Ich sag, es wird Zeit, dass dieses verfluchte Dorf vom Erdboden getilgt wird!“

Jakob Karrer funkelte die Männer mit hasserfüllten Augen an, es schien, als ob er direkt in ihre Seelen blickte.

Die Männer sahen die toten Bauern und Soldaten.

Erinnerten sich an die endlosen Winter.

Wie oft sie fast verhungert und erfroren wären, während sie meinten, das Fleisch und die Suppen aus dem Dorf bis hier herauf riechen zu können. Den Duft nach Wärme und Behaglichkeit. Nach Leben.

Während hier in diesen kalten Gewölben ihre Kinder gestorben waren.

Heinrich und seine Männer blickten von Anselms Leichnam zu Jakob Karrer.

Und nickten, einer nach dem anderen.

„Gut. Dann hinab ins Tal, beeilt euch!“, grollte die Stimme von Karrer durch den Raum. Wie in Trance ergriffen die Männer ihre Waffen.

Einer nach dem anderem huschten sie über die Steintreppen nach oben.

Jakob Karrer griff nach seinem Beil, ging zu der Leiche des Kommandanten und enthauptete ihn mit einem einzigen Hieb. Dann folgte er den Seinen …