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Vor dem Getreidekasten ragte bereits ein kleiner Kegel des kostbaren Inhalts aus dem Schnee. Darüber war das Holz der Verschalung aufgerissen und wies tiefe Kratzer auf. Albin maß den Riss mit den Augen, nahm ein Stück Holz und begann es zurechtzuhacken.

„Schaut nicht aus, als ob der aufgeborsten wäre. Mehr wie von Hand aufgerissen“, sagte Johann, als er die Bruchstelle untersuchte. „Ein Tier geht doch nicht ans Getreide.“

„Da hast Recht“, antwortete ihm Albin. Er nahm das behauene Stück Holz und passte es in die Öffnung. Es saß fast perfekt.

„Halt das.“

Während Johann das Holzstück hielt, trieb Albin mit dem Axtrücken einen Eisennagel in die Seite des Kastens und schloss die Öffnung. Das kleine Getreiderinnsal versiegte.

„Am besten, du machst ein paar Eisenschellen, die wir drannageln, dann ist ein für alle Mal Schluss.“

„Was ist denn nun wirklich mit dem Kasten hier passiert?“, bohrte Johann nach.

„Wir sammeln das ausgeronnene Getreide auf und gut ist es.“ Mehr hatte Albin dazu nicht zu sagen.

Als Johann mit Albin vom Stall zurückkam, bemerkte er eine Gestalt, die am oberen Fenster des Hauses stand und ihn beobachtete. Verdutzt blieb er stehen und versuchte zu erkennen, wer es war. Einen Augenblick später war die Gestalt verschwunden.

Sophie. Johann musste unwillkürlich grinsen – so war ihm schon lange keine Frau mehr nachgestiegen.

Elisabeth schreckte mit klopfendem Herzen vom Fenster zurück. Hatte er sie gesehen? Was würde Johann nun von ihr denken? Nur weil sie ihn gesund gepflegt hatte, hieß das noch lange nichts, immerhin war sie die Tochter eines Bauern und er nur ein Knecht.

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, als sie sich bei diesem Gedanken ertappte. Zeitlebens hatte sie nie etwas auf derlei Ständedenken gegeben, zumindest innerlich.

Aber was sollte sie tun?

Der Herr wird den Seinen den Weg weisen.

Der Herr – oder zumindest sein Stellvertreter, dachte Elisabeth und huschte aus der Kammer.

Im Haus war es still. Vorsichtig schlich Elisabeth die knarrende Treppe hinunter, bedacht darauf, nicht die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich zu lenken. Irgendeine Arbeit würde ihm bestimmt für sie einfallen, und wäre es nur das wiederholte Fegen der Stube.

Am Treppenende angekommen spähte sie um die Ecke: Jakob Karrer war am Stubentisch eingeschlafen, die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt. Immer wieder ließ ein Schnarchen den massigen Leib erbeben.

Wenn man ihn da so schlafen sah, wirkte ihr Vater wie ein harmloser Tölpel.

Elisabeth zog sich die Joppe über und verließ das Haus.

Elisabeth war allein in der Kirche und kniete vor der großen, prachtvoll bemalten Marienstatute. Sie betete den Rosenkranz und ließ dabei die Gebetskette – eines der wenigen Dinge, die ihr von ihrer Mutter geblieben waren – langsam durch ihre Finger gleiten.

Elisabeth genoss diese stillen Momente im Hause Gottes außerhalb der Kontrolle ihres Vaters. Hier konnte sie sein, wie sie war, ohne dass sie jemand maß oder sie etwas hieß. Und hier konnte sie am besten nachdenken.

„Heilige Mutter Gottes, behüte uns vor der Bedrängnis und beschütze uns vor ihnen. Amen“, beschloss Elisabeth ihr Gebet. Sie küsste den Rosenkranz in ihren Händen, dann bekreuzigte sie sich und stand auf, um die heruntergebrannten Kerzen für die Abendmesse auszutauschen.

Mit einem Ruck wurde die Tür der Sakristei geöffnet, Kajetan Bichter erschien. Er wirkte nicht erstaunt, Elisabeth zu sehen.

Elisabeth begrüßte ihn mit einem Knicks.

„Grüß Gott, Elisabeth“, sprach der Pfarrer, während er die Tür zur Sakristei mit einem schweren Schlüssel absperrte. „Bist so fleißig wie immer.“

„Ach, das würd ja jeder tun“, antwortete sie bescheiden.

„Das Herz am rechten Fleck, das sieht der Herrgott.“ Der Pfarrer fasste Elisabeth anerkennend an der Schulter, dann nahm er den Besen, der auf einer der Holzbänke lag, und begann zu kehren.

„Das sieht der liebe Gott wohl bei jedem Menschen, oder?“, fragte Elisabeth unsicher.

„Freilich, mein Kind, freilich“, murmelte Bichter abwesend.

„Egal ob Mann oder Frau, ob Bauer oder Knecht?“, wagte sie sich weiter vor.

„Das ist dem Herrgott einerlei, da bin ich mir sicher, denn vor Gott sind alle Menschen gleich.“ Kajetan Bichter merkte, dass er nicht in der Stimmung war, lange Rede und Antwort zu stehen. Eigentlich waren ihm solche Fragen, wie sie Elisabeth stellte, nicht unangenehm, aber die letzte Nacht steckte ihm in den Gliedern. Eine Nacht, in der er weit zu gehen und viel zu wenig Schlaf bekommen hatte.

Elisabeth zögerte, dann fasste sie sich ein Herz. „Aber wenn vor Gott die Menschen gleich sind, dann sollten sie das untereinander doch erst recht sein, oder?“

Der Pfarrer schmunzelte. „So einfach ist das nicht, mein Kind.“ Dann fuhr er belehrend fort: „Wer soll denn kämpfen, wenn alle Bauer sind? Wer soll ernten, wenn alle Landvogt sind? Wer soll regieren, wenn alle König sind?“

Elisabeth blickte ihn enttäuscht an, aber Bichter sprach unbeirrt weiter. „Ein jeder hat seine Bestimmung, und davon abzuweichen ist weder der Wille des Herrn noch der Weg zur Erlösung.“

„Und das gilt auch für –“ Elisabeths Stimme wurde leise, „für – “

Kajetan Bichter hörte auf zu kehren und stützte sich auf den Besen. „Das gilt für alle und alles“, unterbrach er sie schroff. „Ohne Ausnahme.“

Ein paar Augenblicke herrschte Stille. „Ihr habt sicher Recht“, sagte Elisabeth kleinlaut.

Bichter taten seine harten Worte leid. „Elisabeth“ – er machte eine entschuldigende Handbewegung – „Elisabeth, es –“

„Nein, nein, es ist schon so, wie Ihr es gesagt habt.“ Sie straffte sich sichtbar. „Für alle und alles. Ohne Ausnahme.“ Elisabeth bekreuzigte sich und lief mit einem leisen Grüß Gott aus der Kirche, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Nachdenklich blickte ihr Bichter nach. Das Mädchen tat ihm leid, aber ihr Vater war nun einmal einer der größten Bauern seiner Gemeinde, und sein Wort hatte Gewicht.

Außerdem musste er selbst sich um Wichtigeres kümmern, nämlich um die Menschen, die wirklich seiner Hilfe bedurften. Kajetan Bichter dachte an die letzte Nacht.

Allmächtiger, steh ihnen bei.

Der Pfarrer seufzte, dann fuhr er fort, den Boden des Gotteshauses zu kehren.