VII

Johann erwachte.

Langsam öffnete er seine Augen, nur einen Spaltbreit. Das dämmrige Licht verursachte einen grellen Schmerz, der sich wellenförmig über seinen ganzen Körper ausbreitete. Fast hätte Johann aufgeschrien, aber er biss die Zähne zusammen und schloss rasch die Augen.

In der Dunkelheit klang das Pochen in seinem Kopf langsam ab. Der Schmerz verging zwar nicht, aber nun konnte Johann wenigstens einigermaßen klar denken.

Und auf die Stimme in seinem Inneren hören. Die Stimme von Abt Bernardin.

Leben und Ruhe schließen einander aus.

Nur eine der vielen Weisheiten des Abtes, die er als Junge wie ein Schwamm aufgesogen hatte. Wenn er diese Ratschläge befolgen würde, so könnte er ein rechtschaffenes Leben führen, war er belehrt worden. Leider musste er nur allzu früh erkennen, dass sich die wenigsten seiner Mitmenschen an solche Weisheiten hielten, und deshalb hatte er sie tief in seinem Inneren begraben, um sie nur dann hervorzuholen, wenn er sie brauchte.

Und wie oft hatten sie ihm schon geholfen, vor allem damals, in den dunkelsten Zeiten, als er …

Nicht jetzt!

Johann würgte den Gedanken ab. Vergangenheit war Vergangenheit, und man ließ sie besser ruhen. Im Augenblick hatte er Wichtigeres zu tun. Er musste unter die Lebenden zurückzukehren und herausfinden, was geschehen war.

Er erinnerte sich an den Kampf mit dem Bauern, an den Schneesturm, an das verlassene Tal, durch das er sich geschleppt hatte. Waren da nicht Lichter im Dunkeln gewesen, ein Dorf? Johann war sich nicht mehr sicher.

Aber er vermutete, dass er Wundfieber gehabt hatte. Johann kannte das schwarze Fieber und die Gluthitze, die den Körper fast ausbrannte. Er schätzte, dass er auch diesmal tagelang außer Gefecht gewesen war. Er spürte die Nachwirkungen, fühlte sich zerschlagen, als hätte er in einem finsteren, kalten Stollen Grubenhunte eine Ewigkeit lang eigenhändig mit Fels befüllt.

Die Schwere in seinen Gliedern drückte ihn auf das strohbefüllte Bett.

Verschaffe dir einen Überblick.

Seine Augen konnte Johann nicht öffnen. Er atmete tief ein und versuchte auf diese Weise, seine Umgebung wahrzunehmen.

Es roch nach altem Holz, nach Tuchent und Stroh, und ganz schwach nach Kräutern und einer bitteren Tinktur, die sich nicht weit entfernt von seinem Kopf befinden konnte, auf der linken Seite. Insgesamt roch es wohltuend, beruhigend, denn Johann kannte die Orte, wo der Tod wohnte, und kannte auch ihren Geruch nach Blut, Metall und Verzweiflung. Aber hier war es anders, hier roch es nach – Sicherheit.

Mittlerweile waren die Kopfschmerzen fast abgeklungen.

Öffne die Augen.

Johann atmete tief ein und hielt die Luft an. Er konzentrierte sich ganz auf die kleine Bewegung, die nun folgen würde.

Das Hochziehen der Lider.

Grelles Weiß.

Schmerz.

Dann: Das Weiß verklang, verschwommene Formen wurden sichtbar, flossen zusammen, der Blick schärfte sich.

Geschafft!

Langsam nahm Johann die Umgebung in sich auf. Über ihm: dunkelbraunes, fast schwarzes Fichtenholz, schräg geneigt, die Decke einer Kammer. Verblasste Muster zeugten von einer einst farbenprächtigen Bauernmalerei, die den Raum geschmückt hatte. Nicht weit von ihm, auf der rechten Seite: eine alte Truhe, die an einer Wand aus rohen, geschwärzten Holzbohlen stand. Auf der Truhe lagen eine Hose und ein Hemd, ordentlich zusammengelegt. Über der Truhe: ein kleines Fenster mit einer dicken Scheibe aus Glasstücken, die von Zinnstreifen an ihrem Platz gehalten wurden und von Eisblumen überwachsen waren. Gedämpftes rötliches Licht fiel durch die Scheibe, offenbar die Abend- oder Morgendämmerung.

Und in der Mitte der Kammer: das Bett, in dem er lag, einfach gezimmert, bequem.

Alles vermittelte denselben Eindruck: karg, aber ordentlich. Rechtschaffen. In Johann stieg ein fast schon vergessenes Gefühl der Geborgenheit auf.

Links neben dem Bett standen ein niederer grobkantiger Schemel, darauf ein Krug und ein gefüllter Becher aus Ton. Johann nahm ihn und roch vorsichtig daran. Der Kräuterduft des Gebräus war stark, aber nicht unangenehm, es musste sich um irgendeine Medizin handeln. Erst jetzt merkte Johann, wie durstig er war, das Fieber hatte ihn völlig ausgetrocknet. Gierig begann er zu trinken, es schmeckte bitter.

In wenigen Augenblicken war der Becher leer.

Johann stellte ihn auf den Schemel zurück und griff nach dem Krug, der offenbar mit Wasser gefüllt war. Köstliches kaltes Wasser! Johann setzte das Gefäß an seine rissigen Lippen und begann ihn mit großen Zügen zu leeren, als plötzlich ein reißender Schmerz durch seinen Magen tobte. Er hielt inne, ließ den Krug fallen und hielt sich den Bauch.

Er hatte schnell getrunken, viel zu schnell, sein geschwächter Körper rebellierte dagegen.

Ruhig. Kontrolliere deinen Körper.

Langsam atmete Johann ein und aus, bis der Schmerz abgeklungen war. Das Wasser blieb unten.

Gut.

Johann fühlte sich zwar immer noch erschöpft, aber das Wasser hatte ihm gut getan. Nun wollte er versuchen aufzustehen. Er drehte sich auf die Seite, um sich aufzurichten, da durchfuhr ihn ein heftiger Stich. Vorsichtig betastete er seine linke Seite und spürte einen Verband über der Wunde.

Johann zog die Decke weg und bemerkte erst jetzt, dass er splitternackt war. Der Verband war sauber und straff, er musste erst vor kurzem gewechselt worden sein. Johann zog ihn einen Spaltbreit auf. Es war keine Blutung mehr zu erkennen, keine Anzeichen einer Infektion. Aber wer hatte ihn gepflegt? Und ausgezogen?

Erinnerungen blitzten auf: der schreckliche Sturm, der Schnee in seinen Stiefeln, im Mund, in den Augen, überall. Dann Lichter in der Dunkelheit, ein lächelndes, schönes Gesicht, das sich über ihn beugte, einem Engel gleich …

Johann ließ den Kopf auf das dicke Kissen zurücksinken und starrte die Holzdecke an. Bevor er aufstand, würde er noch einen Moment ruhen.

Während er die Decke betrachtete, fiel ihm zum ersten Mal die Stille auf. Kein Laut war zu hören, weder aus dem Haus noch von draußen. Keine Stimme, keine Geräusche, bis auf das knarrende Atmen des Hauses.

Seltsam.

Irgendjemand musste doch hier sein.

Das Licht der Dämmerung erzeugte an der hölzernen Decke einen Schatten, der sich mit der Zeit langsam veränderte. Johann folgte der Bahn, stutzte plötzlich, sah genauer hin: fremdartige Symbole waren auf die Decke gemalt, die Farben schon fast verblasst. So ähnliche Zeichen hatte er schon einmal gesehen, sie glichen dem Kruzifix beim Heustadl, in dem er übernachtet hatte.

Plötzlich verschwammen die Symbole vor seinen Augen, begannen sich zu bewegen, zu tanzen. Die anfangs zufällig wirkenden Bewegungen ordneten sich einem Rhythmus unter, ein beunruhigender Reigen setzte ein. Langsam verschmolzen die Zeichen miteinander, formten sich zu einem höheren Ganzen. Ein neues Symbol entstand, groß und bedrohlich, mit diffusen Schattenmustern und einem monströsen Widderkopf im Zentrum. In Johann stieg das Gefühl einer Vorahnung auf, überwältigend und unheilvoll, untermalt vom Pochen seines Herzens. Sein Atem stockte, reflexartig schloss er die Augen, öffnete sie wieder.

Die Symbole sahen aus wie zuvor. Kein Muster, keine Schatten, nur eine paar alte Schnitzereien.

Das Gefühl der Geborgenheit, das Johann gerade noch verspürt hatte, war verschwunden. Mühsam stand er auf, wobei er sich mit der Hand auf dem Bett abstützen musste. Nachdem sich der erste Schwindel gelegt hatte, ging er zu der Truhe und nahm das Gewand. Es war das seine, gewaschen und geflickt.

Langsam zog er sich an und verließ die Kammer.

Die Türen im dunklen Söller waren alle geschlossen. Leise ging Johann das enge Stiegenhaus hinunter, die abgetretenen Stufen knarrten bei jedem Schritt. Dann erreichte er den großen Gang im Erdgeschoß, die Labe. Links am Fuß der Treppe lag eine Tür, über ihr zeugten die große, geschwärzte Rauchluke in der Wand und der darüber liegende Rauchschlot von jahrzehntelangem Fleisch- und Wurstselchen.

Vorsichtig öffnete Johann die Tür und betrat den Raum. Die offene Feuerstelle und der damit verbundene Ofen links von ihm strahlten noch eine wohlige Wärme aus. Johann wischte mit dem Zeigefinger über den baldachinartigen Funkenhut oberhalb der Feuerstelle. Der dicke, frische Ruß ließ erkennen, dass dies ein dauerhaft bewohntes Haus sein musste. Johann sah sich genauer um: Die Bänke mit den grob gewebten Sitzdecken waren an den wuchtigen Holztisch vor ihm herangeschoben. In einer Steige unter der Sitzbank schliefen zwei Hühner. Das Licht schnitt sich in Bahnen durch die kleinen Fenster und die dunstige Luft, erhellte das geschnitzte Kruzifix im so genannten „Herrgottswinkel“, das über den Raum zu wachen schien. Darunter warteten einige Holzteller und -löffel auf ihren Gebrauch. Der Boden schien vor kurzem gekehrt worden zu sein.

Die Küche war wie der Rest des Hauses: alt, aber in guter Ordnung gehalten. Und menschenleer …

Dennoch spürte Johann, dass sich noch jemand im Raum befand.

Da war etwas bei der Feuerstelle.

Dann sah er plötzlich einen Schatten, der sich ihm näherte. Der Schatten kreuzte eine der Lichtstrahlen, die durch das Fenster hereinfielen, Johann sah braunes, dichtes Fell, eine geöffnete Schnauze, kräftige Zähne – ein Schäferhund.

Der Hund blieb einen halben Meter vor ihm stehen, ließ ein kehliges Knurren hören. Sein Fell glänzte, das Tier sah sauber aus, machte aber durch seine Größe und sein Gehabe einen bedrohlichen Eindruck.

Langsam ging Johann in die Knie, der Hund legte die Ohren an und begann zu bellen.

Johann senkte seinen Kopf, verharrte ruhig in knieender Position. Dann streckte er seine Hand aus.

Der Hund stutzte, schnüffelte an der Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Er merkte, dass dieser Mensch für ihn keine Bedrohung darstellte und schleckte kurz an Johanns Hand. Dieser blickte auf und kraulte ihn hinter den Ohren. Der Hund verzog sein Maul, schien fast zu grinsen. Dann drehte er sich um und trottete hinter die Feuerstelle zurück, um seine Wachposition neben dem noch warmen Ofen wieder einzunehmen. Ein echtes Hundeleben, dachte Johann neidisch.

Sein Blick fiel auf den gemauerten Rand der Feuerstelle, darauf lag in einer Holzschale ein Stück Brot. Johann merkte erst jetzt, wie hungrig er war. Er schätzte, dass er in den letzten Tagen oder Wochen großteils von Suppe ernährt worden war, und gierte nach fester Nahrung. Ohne zu zögern nahm er das Brot in die Hand und biss herzhaft davon ab, genoss den Geschmack von Gewürzen und die rauchige, knusprige Rinde.

Ihm war, als hätte er nie etwas Besseres gegessen.

Die Bewohner des Hauses werden es verschmerzen, rechtfertigte er sich, sie würden den Bissen Brot ohnehin nicht so zu würdigen wissen wie er.

Die Bewohner des Hauses …

Wieder stiegen Erinnerungsfetzen in ihm hoch, aber sie wollten sich noch nicht zu einem Ganzen zusammenfügen: ein alter Mann, ein Streit, eine junge Frau, das Gesicht angstverzerrt, der Geruch von Pfeifentabak, eine kühlende Hand auf seiner heißen Stirn –

Ein Winseln riss Johann aus seinen Gedanken. Der Hund lugte hinter der Feuerstelle hervor, sah ihn Mitleid heischend an und leckte sich erwartungsvoll über die Schnauze. Johann konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, er nahm noch einen Bissen, dann hielt er den Rest des Brotes dem Vierbeiner hin. Der schnappte es und schlang es in einem Stück schmatzend hinunter. Johann tätschelte ihm den Kopf, dann ging er hinaus und schloss die knarrende Tür hinter sich.

Er freute sich darauf, die Bewohner des Hauses ausfindig zu machen. Sie konnten keine Unmenschen sein. Sie hatten ihn gesund gepflegt, hielten ihr Haus in Ordnung und waren offenbar gut zu ihrem Wachhund, wenn man das freundliche Tier in der Küche so nennen konnte.

Johann ging durch die dunkle Labe nach vorne zur Haustür und öffnete sie. Eisige Kälte umgab ihn plötzlich, und jede Müdigkeit, die in ihm gewesen war, fiel schlagartig von ihm ab. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Helligkeit der Umgebung anzupassen.

Er machte einen Schritt nach draußen.