XXX

Die Sonne war untergegangen und ließ ein trübes Zwielicht zurück, aus dem die kleine Kirche in den Himmel ragte. Es war ein seltsames Bild, gerade so, als ob sich das Gotteshaus wie ein belehrender Fingerzeig zu seinem Schöpfer streckte.

In der Sakristei waren die meisten Kerzen kegelförmig zerflossen. Die rußigen Flammen flackerten im Wind, der durch die Ritzen des Fensterrahmens eindrang. Weihrauch verströmte seinen markanten Geruch.

In der Mitte der Sakristei kniete Kajetan Bichter, über seine Bibel gebeugt, auf dem Holzscheit. Hastig blätterte er zwischen einzelnen Passagen hin und her und murmelte die Verse mit. Seine Stirn war in Falten gelegt, er wirkte verängstigt und unschlüssig. Kein Wunder – die Zeit für eine Entscheidung war gekommen, eine Entscheidung, der er ein Leben lang ausgewichen war.

Aber wie sollte man auch eine Tat beurteilen, die rechtens erscheint, aber nicht denen widerfährt, die einen zeitlebens rechtens behandelt hatten? Wenn die Zeit alle Wunden zu heilen vermag, dann war jetzt der Augenblick gekommen, sich diese Wunde zuzufügen.

Ohne Deine Führung, o Herr, sind wir alle verloren und werden in Finsternis darben, ob unserer Taten. In ewiger Finsternis.

In Finsternis darben.

Ewige Finsternis.

Der Pfarrer schloss die schwere Bibel mit einem dumpfen Knall, und für einen Moment entfaltete sich der süßliche Geruch alten Papiers wie ein Feuerpilz.

Bichter atmete tief ein, senkte den Kopf und versuchte in sich hineinzuhören. Die Keilseite des Holzscheits grub sich tief in seine Knie, von denen bereits ein taubes Gefühl ausging.

Wie soll ich entscheiden, Herr? Was wird bleiben, wenn ich den falschen Weg wähle? Bin ich bereits so geblendet, dass ich ihn nicht mehr zu erkennen imstande bin?

Schmerz reinigt den Verstand.

Bichter öffnete seine Kutte und ließ sie zu Boden gleiten. Mit zitternder Hand griff er neben sich und fasste den kalten, ledergeflochtenen Stiel der kurzen Geißel.

Gib mir ein Zeichen, o Herr.

Bichter schlug die Geißel nach hinten, die einzelnen Schwänze klatschten auf das vernarbte Fleisch des Rückens und ließen es blitzschnell weiß werden. Schweiß schoss ihm ins schmerzverzerrte Gesicht, als sich die weißen Striemen dunkelrot färbten.

Gib mir ein Zeichen, o Herr.

Wieder schlug er die Geißel zurück, diesmal über die andere Schulter. Ein Brennen breitete sich vom Rücken her aus, umgab und vereinnahmte ihn vollkommen.

Nur ein Zeichen.

Jetzt zog er fester durch.

Und fester.

Und dann – war es genug.

Kajetan Bichter fiel nach vorn und musste sich an der Tischkante festhalten. Er atmete tief und schwer, Bluttropfen perlten durch die feinen Schnitte an die Hautoberfläche, sammelten sich und begannen, den Rücken hinabzulaufen.

Schmerz reinigt den Verstand.

Aber er offenbart keine Antworten.

Als Bichter sich wieder wegstieß, verrückte er dabei den Tisch, und das Buch der Bücher fiel auf den schmutzigen Steinboden. Der Pfarrer erschrak, er ließ die Geißel fallen und hob das Buch auf. Sorgfältig legte er es auf den Tisch und las die zufällig aufgeschlagene Stelle:

„Der Geist des Herrn ist über mir, darum dass mich der Herr gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass ihnen geöffnet werde, zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsers Gottes, zu trösten alle Traurigen, zu schaffen den Traurigen zu Zion, dass ihnen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit und schöne Kleider für einen betrübten Geist gegeben werden, dass sie genannt werden die Bäume der Gerechtigkeit, Pflanzen des Herrn zum Preise.

Sie werden die alten Wüstungen bauen, und was vorzeiten zerstört ist, aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte, so für und für zerstört gelegen sind, erneuern.“

Bichter hob erneut die Geißel und presste vor der zu erwartenden Pein die Augen zusammen.

Gib mir ein Zeichen, o Herr.

Wieder sang die Geißel durch die Luft und klatschte auf den gemarterten Rücken.

Nur ein Zeichen.

Der Pfarrer hörte ein Rascheln, öffnete seine Augen. Ein Luftzug fuhr über die Bibel, blätterte einige Seiten um. Der Pfarrer überflog die Zeilen aus den Prophezeiungen des Jesaja:

„Denn ich habe einen Tag der Rache mir vorgenommen; das Jahr, die Meinen zu erlösen, ist gekommen.“

Das Zeichen, auf das er gewartet hatte. Kajetan Bichter bekreuzigte sich und begann laut zu sprechen. „Gelobet seiest Du voll der Gnade, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe …“

Er versank in innigem Gebet.

Draußen war die Nacht hereingebrochen, begleitet von starkem Schneetreiben und untermalt vom Heulen des Windes.

Johann und Albin saßen in der Scheune, jeder einen Schleifblock vor sich. In der Scheune war es eiskalt, der Sturm fegte durch alle Ritzen, die beiden Ölfunzeln warfen nur wenig Licht. Hinter Johann lehnten bereits einige geschliffene Sensen und mit Nägeln gespickte Dreschflegel an der Wand und harrten ihrer morgigen Zweckentfremdung. Vor ihm lagen verschiedene alte Hieb- und Stichwaffen.

Johann schliff mit gekonnten Bewegungen ein Messer, während Albin sich abmühte, das Schwungrad mit seinem rechten Fuß in Bewegung zu halten und gleichzeitig darauf zu achten, die Klinge eines Dolches am Schleifstein nicht zu verkannten. Was ihm nicht immer gelang.

„Verfluchter Mist! Da kann ich mich ja gleich ans Spinnrad setzen“, schimpfte Albin.

„Nur wirst du es da noch schwerer haben, die Klingen zu schärfen.“

„Red du nur. Die reinste Weiberarbeit ist das!“

„Wenn dein Weib deine Klingen schärft, dann musst du aber für sie kochen“, lachte Johann. „Den Tag will ich erleben.“

„Brauchst gar nicht lachen, ich hab mir schon mal selber was gekocht. Was ein Weib kann, kann ich schon lang.“

„Na, alles hoffentlich nicht“, zwinkerte Johann Albin zu.

„Na wart, du Lump, ich wird dir gleich –“ In diesem Moment kam Albin der Dolch aus. Er sauste, durch den Schleifstein beschleunigt, knapp über Johanns Kopf hinweg in die Holzwand und blieb mit hellklarem Singen zitternd stecken.

Albin blickte Johann entgeistert an.

Dieser wandte den Kopf zur Scheunentür und schrie: „Elisabeth, der Albin wird ab heut für uns kochen!“

Albin stand auf, um den Dolch aus der Wand zu ziehen. Im Vorbeigehen boxte er Johann auf die Schulter. „Kann ja wohl einem jeden passieren.“

„Sicherlich, Herr Albin, sicherlich“, gab Johann trocken zurück.

Albin zog den Dolch mit einem Ruck aus der Wand und wog ihn in der Hand. „Wie kämpft man damit?“

„Glaub mir, wenn’s darauf ankommt, dann weißt du’s. Dann wirst du’s wissen.“

Albin setzte sich wieder an seinen Schleifbock. „So wie du?“

„Hab’s oft genug erleben müssen.“

„Hast du daher die Narben auf der Brust?“

Johann nickte. „Aber ich hab immerhin überlebt. Bleib morgen also dicht bei mir, dann wird das schon schiefgehen da oben. Die können es ja auch nicht.“

„Und was, wenn die’s genauso wenig wollen wie wir?“ Wenn wir’s einfach nicht tun? Keiner von uns?“

„Da haben die Bayern auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und die werden nicht so darüber denken wie du und ich, und vielleicht die da oben. Zu einem Feuer braucht’s immer einen Funken, und den werden die Bayern schon springen lassen.“

„Und was, wenn wir uns davonmachen? Du schnappst die Elisabeth und dann machen wir uns auf durch den Wald, noch heut Nacht?“

„Hast doch gehört, was die Bayern dann mit dem Dorf machen. Denen ist egal, ob da nur Frauen und Kinder sind. Oder der Großvater. Im Moment haben sie die besseren Karten und wir müssen mitspielen. Ob wir wollen oder nicht.“

Albin nickte resigniert. Er kannte die Gesetze.

Das Recht ist immer auf der Seite des Stärkeren. Und der Stärkere schreibt die Geschichte.

Und dies würde wohl auch immer so bleiben …

Plötzlich wurde das Scheunentor aufgerissen. Schnee und Wind peitschten ins Innere und brachten die Ölfunzeln beinahe zum Erlöschen. Elisabeth kam herein und schloss schnell das Tor hinter sich. Sie hatte nur einen Janker über ihr Nachthemd gezogen und war völlig außer Atem. „Johann – der Herr Pfarrer –“, sie brach ab, holte tief Luft.

Johann und Albin blickten sie fragend an.

Elisabeth hatte sich wieder gefangen. „Ich hab grad vom Fenster aus gesehen, wie er in den Wald gegangen ist. Hinauf. Zu ihnen.“

Johann stoppte seinen Schleifstein. „Bist dir sicher?“

„Na hör mal“, entgegnete Elisabeth empört. „Ich weiß, doch, was ich gesehen hab.“

„Der wird sie warnen wollen“, sagte Johann nachdenklich.

„Und vielleicht hauen sie dann ab, noch bevor wir oben sind“, warf Albin ein.

„Das ist leider nur eine Möglichkeit.“ Johann überlegte. „Das ganze bedeutet nicht Gutes. Ich werd dem Bichter folgen, vielleicht find ich ja raus, was er wirklich vorhat.“

Albin sprang auf. „Nein, ich geh! Schleif du die restlichen Messer fertig.“

„Albin –“ Weiter kam Johann mit seinem Protest nicht.

„Überlass ja nicht mir die Weiberarbeit.“ Albin versuchte zu grinsen. „Die kannst du schön selber machen.“

Elisabeth fasste ihn am Arm. „Albin, gib auf dich Acht da oben. Es ist ein furchtbarer Sturm, man sieht keine Handbreit.“

Er nahm sanft ihre Hand von seinem Arm. „Versprech ich dir.“

Dann wandte er sich an Johann und sah ihn ernst an. „Und du pass mir aufs Lisele auf, verstanden?“

Johann nickte. „Dank dir, Albin. Hör zu: Bleib weit hinter dem Bichter und hau sofort ab, wenn’s brenzlig wird. Den Helden kannst du morgen auch noch spielen.“

Albin nickte, schlüpfte in seine Lodenjacke und zog den Kragen zu. Er drehte sich zu Johann und Elisabeth um, verharrte unschlüssig. Es war still, jeder schien mit den richtigen Worten zu hadern.

Du solltest gehen, nicht der Albin. Und das weißt du auch.

Johann wusste, dass die Stimme in seinem Inneren Recht hatte. Er machte einen Schritt auf Albin zu. „Albin, ich –“

Da war Albin auch schon beim Tor draußen.

Johann und Elisabeth gingen zum Eingang und blickten in den nächtlichen Schneesturm hinaus. Schneeflocken trieben ihnen ins Gesicht, der Wind ließ ihre Augen tränen.

Wortlos legte Johann den Arm um Elisabeth und drückte sie an sich. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. „Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache“, sagte sie, und die Besorgnis in ihrer Stimme war unverkennbar.

Schneeflocken wurden in die Scheune gepeitscht, die Flammen der Funzeln, bläulich und klein, waren kaum mehr erkennbar.

„Wohin werden wir gehen, wenn das hier vorbei ist?“, fragte Elisabeth leise.

„Wohin du willst“, antwortete Johann ruhig und bestimmt.

Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Dann flüsterte Elisabeth etwas in Johanns Ohr.

„Wenn Wehmut macht sich drückend schwer,
der Sterne Glanz kein bisschen mehr,
kein Sonnenstrahl vom Himmel fällt,
das Herz voll Kummer kläglich bricht,
wärst du für mich ein strahlend Licht,
das Einz’ge auf der Welt.“

„Mein Gedicht. Du kannst es auswendig?“ Seine Stimme war sanft.

Sie sah ihm in die Augen. „Hab auch jedes Wort so gemeint.“

Er fühlte, wie Elisabeth unter dem dünnen Janker zitterte. „Und jetzt schau lieber, dass du schnell in die Stube kommst, bevor du hier zum Schneemanderle wirst. Ich komm nach, wenn ich fertig bin.“

Elisabeth nickte, löste sich von ihm und lief zurück ins Haus. Johann setzte sich wieder an den Schleifblock.