XXV

Vorsichtig schlich Johann die nassen und rutschigen Stufen hinunter. Zunächst war es stockdunkel, er konnte sich nur langsam von Stufe zu Stufe tasten. Er stützte sich mit seiner rechten Hand immer wieder an der Wand ab, fühlte die kalten, grob behauenen Steine.

Plötzlich flackerte von weiter unten etwas Licht herauf. Johann blieb sofort stehen. Aber der Lichtschein kam nicht näher, wahrscheinlich war es eine Fackel, die an einer Wand befestigt war. Über eine Treppe, die sich steil nach unten wand, stieg Johann dem Licht entgegen.

Mit jedem Schritt spürte er die zunehmende Kälte, die ihm aus der Tiefe entgegenschlug. Am Ende der Treppe fand er sich in einem hohen gemauerten Raum wieder, an dessen Wand eine brennende Fackel hing. Unterhalb der Fackel war eine schwer beschlagene Holztüre in die Wand eingelassen, sie verschloss, was auch immer dahinter liegen mochte. Die Tür war nur mit einem massiven Eisenring zu öffnen, der in Kopfhöhe befestigt war.

Johann lehnte sich an die Tür und lauschte – nichts, nur das monotone Tropfen von Wasser. Vorsichtig zog er an dem Eisenring, öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinein.

Ein schwach beleuchteter Gang grub sich in die Dunkelheit, sein Ende war nicht auszumachen. Weitere Gänge zweigten von ihm ab und vermittelten den Eindruck eines finsteren Labyrinths. Als sollte es niemand, der es je betreten hatte, wieder verlassen können, so kam es Johann vor.

Er spürte die Gefahr.

Johann holte tief Luft und schlich in den Gang hinein.

Der Gang war eng, aber die Fackeln an den Wänden spendeten wenigstens so viel Licht, dass Johann seinen Weg finden konnte. Über ihm spannte sich ein Tonnengewölbe, links und rechts zweigten immer wieder Kammern ab.

Neugierig betrat Johann eine der Kammern und sah sich um. Ein modriger Geruch erfüllte den Raum, auf dem festgetreten Erdboden lagen mehrere Behälter aus Holz. Johann trat näher an einen der Behälter heran, sah hinein.

Brotlaibe lagen übereinander, mit pelzigem Schimmel überzogen, trotzdem war ein Laib frisch angebrochen. Daneben war etwas in Tücher gewickelt, Johann schob das feuchte Leinen zur Seite und sah ein Stück Fleisch, aus dem sich die Köpfe unzähliger Maden wanden.

Dies also waren die Speisevorräte der Ausgestoßenen, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Der Überfluss, auf den das Dorf so neidisch war. In Johann stieg Zorn auf, als er an die Gier und den Neid mancher Dorfbewohner dachte.

Ignoranz und Dummheit sind zumeist Geschwister.

Johann bedeckte das verdorbene Fleisch wieder mit dem Tuch. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich erinnerte, wie schwer es ihm gefallen war, in der Gefangenschaft faulige Nahrungsmittel zu essen, die man nicht einmal einem Tier vorgesetzt hätte. Und wie dankbar er seinen Peinigern gleichzeitig gewesen war, dass sie ihm überhaupt etwas gegeben hatten.

Johann stand auf. Wenn dies stellvertretend für das Leben hier oben stand, dann hauste man dort unten im Dorf fürwahr in Saus und Braus. Und dann war es vielleicht nur rechtens, wenn das Dorf irgendwann einmal dafür gerade stand.

Er verließ die Kammer und ging weiter den Gang entlang.

Nach einiger Zeit hörte Johann Stimmen, die zusehends lauter wurden. Er sah, dass der Gang nicht weit vor ihm endete und erkannte eine schwere Holztür, durch deren Spalt etwas Licht fiel. Von hier mussten auch die Stimmen kommen.

Johann legte die letzten Meter lautlos zurück. Dann hatte er die Tür erreicht, blickte vorsichtig durch den schmalen Spalt hinein. Er wagte kaum zu atmen.

Er konnte nur einen kleinen Teil des Raums erkennen, sah eine wuchtige, offene Feuerstelle in der Mitte, der Boden bestand aus großen, teils zerbrochenen Steinfließen. Fackeln an den Wänden warfen unruhiges Licht, die Decke des Raumes war nicht zu erkennen und lag in völliger Dunkelheit.

Vor der Feuerstelle stand Kajetan Bichter und sprach mit jemandem, der außerhalb von Johanns Blickfeld stand. Johann hörte nur die Stimme der anderen Person, aber sie genügte, um ihm einen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Es war ohne Zweifel eine menschliche Stimme, und doch klang sie anders, kalt und kratzig.

„Anselm, ihr müsst diesmal länger mit dem Fleisch auskommen. Bayerische Soldaten sind ins Dorf marschiert und haben so gut wie alle Vorräte konfisziert“, sagte Bichter gerade.

„Geschehet Euren Leuten recht. Nunc werden auch sie erfahren, was Entbehrung bedeutet.“ Die Stimme wurde lauter. „Ein usus, der unser Leben täglich bestimmet!“

Johann hatte so etwas noch nie gehört: die Person sprach eine seltsame Mischung aus altertümlichem Latein und Deutsch. Offenbar hatte das frühere Leben unter den Mönchen bei den Ausgestoßenen seine Spuren hinterlassen und über die Jahre eine neue „Sprache“ hervorgebracht. Und als Johann sich in Erinnerung rief, wo er war, schien ihm diese Sprache passend, sie war wie geschaffen dafür, durch düstere Gemäuer geflüstert zu werden und sich in unterirdischen Labyrinthen zu verlieren …

Die Stimme von Kajetan Bichter riss ihn aus seinen Gedanken.

„Habt ihr den Rest der Kuh geholt?“, fragte dieser.

„Glaubet Ihr etwa, wir würden das verschwenden?“

„Trotzdem heißt der Herr Diebstahl nicht gut, Ihr wisst, dass das gegen Seine Gebote verstößt …“, belehrte Bichter sein Gegenüber.

„Nur eine ihrer Weideflächen, dann müssten wir kein Vieh stehlen. Ihr wisset das, und Er wisse es auch!“

„Ich weiß, ich weiß, Anselm …“ Der Pfarrer senkte den Kopf. „Der Herrgott prüft euch hart –“

„Das wohl.“ Ein Augenblick der Stille. „Von Matthäus fehlet seit Tagen jegliche Spur. Zwei der Alten, Marcus et Jesaja, sind letzte Woche gestorben. Sind nur noch Haut und Beine geweset. Et Maria ist letzte Nacht von uns gegangen, ihre Erkältung hatte dem kleinen Leib zu viel abverlanget.“ Die Stimme wurde bitter. „Was will der Herr mit einem erst drei Monate alten Leben? Cum vita innocenti?“

Stille herrschte im Raum.

„Habt keine Angst, Er wird sie zu sich nehmen“, entgegnete Bichter dann ruhig.

„Sie ist bereits begraben, bei den anderen. Ihr werdet doch die letzten Worte über sie sprechen?“ Die Stimme zitterte leicht.

„Natürlich, mein Sohn, natürlich.“

Betretenes Schweigen erfüllte den Raum, das von Anselm schließlich unterbrochen wurde.

„Außerdem haben wir beschlossen, dass wir uns diesmal Gehör verschaffen werden. Das fünfte Jahr wird des balden anbrechen. Und er wird wieder kommen.“

Bichters Stirn legte sich in Zornesfalten. „Aber ihr wisst doch, dass der Jesuit nur kommt, um zu beobachten. Zu beobachten, um zu berichten. Nicht sich einzumischen. Nicht zu schlichten! Nicht zu sühnen!“

„So waret es bisher“, fuhr Anselm unbeirrt fort. „Aber diesmal haben wir unam notitiam für ihn. Eine Nachricht, damit uns vielleicht die justitia widerfahret, die uns hier schon so lange verweigert ist.“

„Macht euch doch nicht lächerlich!“, fuhr Bichter ihn an, „glaubt ihr vielleicht, dass irgendjemand etwas auf euch gibt? Was könntet ihr denn schon bieten? Soll der Heilige Vater in Rom von seinem Stuhl herabsteigen und euch die Hand reichen?“

„Nur die Toten sind näher apud Christum als wir“, entgegnete Anselm kleinlaut.

Bichter beruhigte sich wieder und legte ihm die Hand tröstend auf die Schulter.

„Anselm –“

Johann beugte sich vor – und stieß dabei leicht gegen die Tür.

Sie öffnete sich einen Spalt, langsam und knarrend.

Johann erstarrte, sein Herz schlug wie wild. Die beiden mussten das Geräusch gehört haben. Johann überschlug im Geist bereits eine mögliche Flucht aus der Ruine, als der Pfarrer wieder zu sprechen begann.

„Ich werd weiterhin versuchen, auf meine Leute einzuwirken“, sagte Bichter.

Johann beugte sich wieder zur Tür. Er konnte nun mehr von dem Raum erkennen. Links von der Feuerstelle sah er die Umrisse einer Gestalt. Sie neigte sich jetzt näher zu Bichter, der unwillkürlich zurückwich.

„Pater, ich verspreche Euch, der Tag wird kommen. Pro culpa maxima – Eure Leut werden für ihre Schuld einstehen.“

Das Licht einer der Fackeln fiel auf ihn, Johann konnte den anderen jetzt erkennen. Sein Atem stockte, Eindrücke dessen, was er sah, brannten sich ihm blitzartig ein, Bilder, die er nie mehr vergessen würde:

Die totenblasse, wächserne Haut, an vielen Stellen aufgerissen.

Die Augen glasig und ausdruckslos.

Der Mund verschorft, spitze, gelbe Zähne, die teils zwischen schwarzen Lippen sichtbar waren.

Das Fehlen jeglicher Haare, pechschwarze Adern, die sich deutlich unter der blassen Kopfhaut abzeichneten und zu pulsieren schienen, und sich von den Ohren abwärts immer dichter verästelten.

Der hagere Körper, von einer schäbigen, vielfach geflickten Mönchskutte verhüllt.

Johann stockte der Atem. So viel sie in ihrem Leiden Menschliches hatten, so wenig hatten sie es in ihrer Erscheinung. Er stieß unwillkürlich die Luft aus.

Die beiden Personen vor ihm hielten inne. Dann wandten sie sich langsam in seine Richtung.

Johann glitt lautlos einen Schritt zurück, drehte sich um und lief, so schnell er konnte, durch die Gänge zurück. Panik übermannte ihn, er dachte an nichts, nur an Flucht, erreichte wieder den großen Raum, hastete die Steinstufen hinauf, immer höher, bis er die Öffnung über sich sah.

Er legte die letzten Stufen zurück, sein Atem raste, dann hatte er das Tageslicht erreicht.

In Sicherheit.

Johann atmete tief durch, kam nur langsam wieder zur Ruhe. Sein Blick fiel auf die dunkle Öffnung neben ihm, die wie ein Schlund das Licht verschluckte.

In Sicherheit?

Er sah die Steinstufen, die hinab in die Gewölbe führten, zu den Gängen und –

zu ihnen.

Johann horchte, aber es blieb still. Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt, ihr fahles Licht fiel nur schwach durch die kalten Nebelschwaden, die sich auf Ruine und Wald legten.

Johann wartete noch einen Moment, aber es schien ihm niemand von unten gefolgt zu sein. Hastig lief er zu einem der großen Bäume am Rand der Lichtung, dann folgte er seiner Spur ins Tal hinab.

Als Johann das Dorf im Morgengrauen erreichte, war er froh, dass ihm im Wald niemand aufgelauert hatte. Schlafwandlerisch war er herabgestiegen, die Ereignisse in der Ruine waren ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

Die Ausgestoßenen waren Wirklichkeit, dieser Zweifel war nun endgültig beseitigt. Johann war sich sicher, neben dem Pfarrer vielleicht der erste Mensch überhaupt aus dem Dorf zu sein, der die Lage der Ausgestoßenen unvoreingenommen gesehen hatte. Und das war bei Gott keine beneidenswerte, nein, sie stand konträr zu dem, was erzählt wurde. Dort oben lebten keine Bestien, dort hausten Todgeweihte, für die jeder Tag ein Überlebenskampf war. Trotzdem blieb die Frage, was sie waren – Menschen? Dämonen?

Johann verharrte einen Moment.

Vermutlich etwas von beidem. Wie jeder Sterbliche auf Gottes Erde.

Und von welchem Jesuiten hatten sie gesprochen? Nachdenklich ging Johann weiter.

„Pater, ich verspreche Euch, der Tag wird kommen. Pro culpa maxima – Eure Leut werden für ihre Schuld einstehen.“

Wie war die Aussage des Mannes zu verstehen? Spielte er auf das Hier und Jetzt an? Oder auf den Tag des jüngsten Gerichts, an dem sich ein jeder für seine Taten verantworten muss? Mit Letzterem hatte Johann kein Problem, von Ersterem ging eine unmittelbare Gefahr für das Dorf aus.

Und für Elisabeth.

Vielleicht hatte der Großvater doch Recht, mehr als er geglaubt hatte …

Elisabeth trug gerade einige Scheite Holz zum Hintereingang des Hauses, als sie Johann näher kommen sah.

„Johann, wo warst denn? Der Vater hat schon nach dir gefragt.“

Johann ging nicht auf die Frage ein. „Der Pfarrer war heut Nacht bei den Ausgestoßenen. Oben in der Ruine.“ Er starrte zum Wald. „Dein Großvater hat Recht gehabt. Die ganze Geschichte stimmt.“

Elisabeth warf die Scheite auf den Boden. „Und du bist dem Pfarrer gefolgt – bist du verrückt?“ Sie packte ihn am Arm.

„Aber die kennen sich. Der Pfarrer verschweigt euch allen etwas.“

Plötzlich dröhnte Jakob Karrers Stimme aus dem Haus. „Elisabeth! Wo bleibst denn?“

Elisabeth hob rasch die Scheite wieder auf. „Johann, wenn du wirklich mit mir fort willst, dann geh nicht mehr da rauf. Versprich es mir.“

„Aber –“

„Versprich es mir!“

Johann zögerte, dann nickte er. „Wie du meinst.“

„Dank dir.“ Elisabeth sah sich schnell um, dann gab sie Johann einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Als sie sich von ihm abwenden wollte, hielt er sie fest, zog sie näher zu sich.

Sie sahen sich in die Augen. Elisabeths Herz begann zu rasen, so lange hatte sie –

„Elisabeth!“ Wieder Karrers Stimme.

Johann ließ Elisabeth los. Die beiden blickten sich an, Elisabeth resigniert, Johann wütend. Dann drehte sie sich um, ging zum Hauseingang und verschwand im Inneren.

Johann trat verärgert gegen den Holzstapel.

Nicht mehr lange, Karrer, nicht mehr lange

Gedämpfte Klagelaute drangen in die kleine Stube, in der sich Sophie die Hände wusch. Das Wasser in der Blechschüssel färbte sich so rot, dass sie alsbald nicht mehr den Boden darin sehen konnte. Blut war eine hartnäckige Farbe.

Sophie öffnete schnell ein Fenster und kippte das Blutwasser hinaus, um gleich darauf die Schüssel erneut mit Wasser zu füllen. Nach hartnäckigem Rubbeln bekam sie ihre Finger schließlich sauber.

Ein Schatten fiel von hinten über Sophie und ließ sie erschauern.

„Fertig, gnädiges Fräulein?“, schallte Gottfrieds Stimme.

Sophie drehte sich kichernd um. „So hat mich noch niemand genannt …“

„Bei mir daheim würd dich ein jeder so nennen müssen.“

„Ach geh, auch deine Frau?“, stichelte sie.

Gottfried sah sie verschmitzt an. Endlich eine, die nicht auf den Mund gefallen war. Und hübsch war sie obendrein, dachte er, als ihn der erwartungsvolle Blick Sophies zu einer Erklärung mahnte.

„Die ist vor sechs Jahren gestorben. Ein Pferdefuhrwerk hat sie erwischt.“

„Tut mir leid“, sagte Sophie ehrlich.

„Wenn alles gut geht, ist in wenigen Wochen mein Dienst zu Ende. Mein Hof könnte dann schon die Hand einer Frau gut brauchen.“

Sophie machte einen Schritt auf ihn zu und gab ihm einen empörten Klaps auf die Brust. „Die G’schicht erzählst wahrscheinlich einer jeden, oder?“

Gottfried grinste. „Das wohl, aber gewirkt hat’s noch bei keiner.“

Sophies Herz begann immer stärker zu klopfen. Ein redlicher Kerl schien er ja zu sein. Und vielleicht war das ihre Chance, all das hier hinter sich zu lassen. Das Dorf. Karrer.

Und sie.

Jetzt wollte sie es wissen. „Und dann lässt mich fallen wie einen heißen Erdapfel, was?“

Gottfried packte sie bei den Armen und zog sie zu sich. „Im Gegenteil, heiraten würd ich dich.“ Sophie traute ihren Ohren nicht.

Er zog sie noch näher zu sich heran, Sophie gab ihm eine leichte Ohrfeige. „Ich bin aber nicht so eine …“, gab sie sich empört.

„So eine würd ich auch nicht nehmen“, parierte er und küsste Sophie, die nicht im Traum daran dachte, Widerstand zu leisten. Sie versank in seinem Kuss und der Umarmung.

Ewigkeiten später, so schien es ihr zumindest, löste sie sich von Gottfried, hauchte leise „bis morgen“ und huschte aus der Stube.