XXXIII

Elisabeth zog sich gerade an, als Johann mit sorgenvoller Miene zurückkam. „Der Albin ist nicht in der Kammer.“

„Glaubst, er ist schon unten?“

„Scheint eher so, als hätt er gar nicht hier geschlafen.“ Johann trat so heftig gegen den Türstock, dass Elisabeth erschrak. „Verdammt, ich hätt doch selber gehen sollen.“

„Das kannst jetzt auch nicht mehr ändern, Johann. Vielleicht ist er noch auf dem Weg, oder er wartet im Wald auf euch. Er weiß ja, dass ihr kommt.“

„Ich hoff, du hast Recht.“

Sie nickte, dann verließ sie die Kammer.

Johann trat zu dem kleinen Tisch, der unter dem Fenster stand, und nahm den Bleikrug mit Wasser. Er durchstieß die dünne Eisschicht der Oberfläche und goss sich dann Wasser aus dem Krug in eine kleine Schüssel. Sorgfältig wusch er sich das Gesicht, die Kälte des Wassers machte ihn munter. Dann ging er in seine Kammer.

Dort öffnete Johann sein Bündel, holte eine lederne Halskrause heraus. Er betrachtete sie nachdenklich. Die vielen Schnitte an der Oberfläche zeugten von misslungener Kehlenschlitzerei.

Er legte die Halskrause um, schnürte sie im Genick zu und prüfte mit einem Handdruck ihren Sitz. Dann schlüpfte er in seinen Mantel, band ihn bis zum Kragen zu und ging aus dem Raum.

Unten bei der Eingangstür wartete Elisabeth bereits auf ihn, sie traten hinaus und ließen das Haus und die Erinnerungen an die letzte Nacht hinter sich.

Schneefall hatte eingesetzt und tauchte alles in ein diffuses Licht. Johann und Elisabeth eilten zum Dorfplatz, wo einige Gestalten standen, Gespenstern gleich, die dann langsam die Formen von Menschen annahmen.

Das gesamte Dorf war versammelt und zitterte im Morgenfrost. Frauen und Greise standen bei ihren Angehörigen, die jüngeren Kinder suchten in den Kittelfalten der Mütter Schutz. Die älteren Kinder standen für sich, verstanden aber nicht, was dieser Aufmarsch zu bedeuten hatte.

Verstanden nicht, dass es ein schicksalhafter Tag war, nach dem nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.

An der Westseite des Platzes, der Kirche zugewandt, standen die Soldaten in Reih und Glied, angeführt von ihrem Kommandanten. Hinter ihm wartete der alte Albrecht, gefolgt von Kajetan Bichter und Benedikt Riegler. Hinter Riegler hatten sich die Männer des Dorfes gesammelt, bewaffnet mit Sensen, Dreschflegeln, Mistgabeln, Hauen und Äxten, die weniger an Kriegsgerät erinnerten denn an brachiale Totschläger.

Keiner sagte ein Wort, die Angst vor dem Unausweichlichen stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Einige Frauen umklammerten ihre Ehemänner und weinten herzzerreißend. Sie wussten, was es bedeuten würde, wenn sie nicht zurückkämen. Alleine konnte keine von ihnen den Hof führen, sie wären gezwungen, ihre Kinder wegzugeben, da sie sie nicht mehr ernähren könnten. Kurz gesagt: Ihr Leben würde wie ein Kartenhaus zusammenfallen, dem man die eine Karte entrissen hatte.

Johann und Elisabeth eilten zum Großvater, der bereits nach ihnen Ausschau hielt. Sophie stand neben ihm, sie war eben erst gekommen, weil sie noch nach den Gefangenen gesehen hatte. Der Kommandant beobachtete sie.

„Endlich seid ihr da.“ Der Großvater nahm Elisabeth am Arm, dann blickte er Johann ernst in die Augen. „Schau, dass du heil wiederkommst, sie braucht dich“, ermahnte er Johann voller Sorge.

Der nickte ruhig. „Ich komm wieder, versprochen.“ Er zögerte kurz. „Hast den Albin heut schon gesehen?“, fragte er dann den Großvater.

„Nein. Ich hab mir gedacht, der kommt mit euch mit?“

Johann schüttelte den Kopf. Er sah den Pfarrer, der mit besorgtem Gesicht hinter Riegler und dem Kommandanten stand.

Bichter war hier.

Aber wo war Albin?

„Unsere Verwundeten werden wie bisher behandelt, verstanden?“, befahl der Kommandant.

Riegler nickte, er blickte kurz zu Sophie. „So hab ich’s angeordnet.“

„Gut. Dann – Achtung! Tretet zurück!“ Der Kommandant gab Albrecht ein Zeichen.

„Weg mit den Weibern und Gschrappen!“, rief der Adjutant scharf.

Verängstigt wichen die meisten Frauen und Kinder zurück, einige klammerten sich jedoch weiter an ihre Männer. Der Kommandant schritt die Reihen der Bauern ab, vor ihm Albrecht, der mit groben Griffen die Frauen von ihren Männern löste und wegstieß.

Als sie zu Johann kamen, traten Elisabeth und der Großvater einen Schritt zurück und senkten das Haupt.

Der Kommandant und Albrecht waren die Reihe fertig abgeschritten. „Und das sind wirklich alle?“, schnauzte Albrecht Riegler an.

„Wenn ich’s euch doch sag!“

Der Kommandant sah Riegler abfällig an und blickte dann über den Weg, der das Dorf zweiteilte. Ein unmerklicher Befehl, der von seinem Adjutanten aber sofort wahrgenommen wurde. Albrecht gab zweien seiner Männer ein Handzeichen, die beiden stürmten los und durchkämmten in Windeseile alle Häuser nach Zurückgebliebenen.

Und wurden fündig.

Mit lautem Gezeter zerrten sie Gottlieb Bacher, einen älteren Bauern, aus seinem Hof, seine Frau lief weinend hinterher. Die Soldaten schleppten ihn zum Dorfplatz, stießen ihn vor dem Kommandant zu Boden und legten ihre Gewehre auf ihn an.

Bacher zitterte am ganzen Leib.

Seine Frau versuchte vergeblich, auf die Soldaten einzureden. „Bitte, so habt doch Mitleid mit uns, wir –“

„Halt’s Maul, Weib!“, befahl einer der Soldaten, blickte dann zu seinem Kommandanten und wartete auf eine Entscheidung.

Der Kommandant senkte müde den Kopf. Das, was er zu vermeiden versucht hatte, war eingetroffen. Aber jede Blöße würde das falsche Signal darstellen. Doch vielleicht – ein Kompromiss?

„Wie alt bist du, Hundskrüppel?“, fuhr er Bacher an.

Diesem stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben, seine Hose begann sich im Schritt dunkel zu färben.

„Einundsechzig!“, antwortete Johann schnell an Stelle Bachers.

„Stimmt das?“, wollte der Kommandant wissen.

Bacher nickte zitternd. „Ja, ein-, einundfünfzig!“

Der Kommandant schüttelte den Kopf, warf Johann einen strafenden Blick zu, dann sah er wieder auf den zitternden Bauern hinab. Nicht mal den Strohhalm, den ihm der Schmied gereicht hatte, wusste dieser Narr zu ergreifen.

Alsdann.

Er nickte seinen Soldaten zu und wandte sich ab.

Plötzlich umgab Pulverdampf die Soldaten und Bacher, zwei Knaller peitschten donnernd durch das Dorf. Bleikugeln zerfetzten Gottlieb Bachers Brust. Er wurde zu Boden geschleudert, lag röchelnd im Schnee.

Einen Augenblick später hörte das Röcheln auf.

Mit lautem Geschrei stürzte die Bäuerin zu ihrem toten Mann, warf sich auf ihn und weinte hemmungslos.

Die Bauern waren geschockt von der Kaltblütigkeit der Soldaten, viele der Frauen weinten und wandten den Blick von der Leiche Bachers ab, drückten die Gesichter ihrer Kinder in ihren Schoß.

„Ich hab euch gewarnt! Ihr verfluchten Bauern, ich hab euch gewarnt! Wenn noch einer aus der Reihe tanzt, wird es ihm wie diesem Tölpel da ergehen, ich schwör’s euch!“ Der Kommandant blickte in die Gesichter der Bauersleute, die ihm mit einer Mischung aus Furcht und Hass begegneten. Es war ihm egal, er hatte diesen Ausdruck schon oft gesehen, in so vielen Ländern und Dörfern. Mochten sie ihn hassen – wichtig war, dass sie ihm gehorchten. Und das würden sie ab jetzt.

„Wird wohl nichts aus der vorweihnachtlichen Geste, oder, Herr Kommandant?“, flüsterte Albrecht, die Antwort bereits wissend.

„Ich fürcht nicht, Albrecht. Manchmal muss die Konsequenz über die Vernunft siegen.“ Er räusperte sich lautstark.

„Wir rücken ab!“

Langsam setzte sich der Trupp in Bewegung. Hinter Johann reihten sich die beiden Soldaten ein, die Bacher erschossen hatten, sie bildeten die Nachhut.

Plötzlich lief Elisabeth zu Johann.

„Geh zurück, bevor noch was passiert!“, herrschte Johann sie an.

Sie achtete nicht auf seine Worte und nahm ihre Silberkette ab, die sie von ihrer Mutter hatte. Sie drückte Johann die Kette in die Hand. „Sie wird dir Glück bringen.“

Dieser steckte die Kette nach einem Augenblick des Zögerns ein. Er wollte noch etwas sagen, aber der Soldat hinter ihm stieß ihm den Kolben seines Gewehres in den Rücken. „Weiter, Knecht!“

Johann nickte Elisabeth zu, dann marschierte er weiter.

Elisabeth blieb stehen und sah ihm nach. „Bring’s mir ja wieder!“, rief sie ihm hinterher, mit den Tränen kämpfend.

Sei stark. Das Letzte, was er sehen soll, ist eine starke Frau, kein verheultes Weib.

Der Trupp entfernte sich, verschwand im Nebel.

Dann waren die Männer fort.

Elisabeth schossen Tränen heraus, sie fiel auf die Knie und hielt sich die Hände vors Gesicht. Warum konnte das Gute nie von Dauer sein? Hatte nicht ein jeder das Recht auf Glück?

Der Großvater trat zu ihr und half ihr auf. „Das wird schon, Kinderl. Der Johann kommt zurück, das spür ich.“

Elisabeth wollte daran glauben, sie musste daran glauben, was blieb auch anderes übrig? Also ging sie mit Sophie und ihrem Großvater zum Haus zurück, während der Schneefall immer stärker wurde …