V

Ein gellender Schrei ließ Johann wieder zu Bewusstsein kommen.

Starre, schwarze Augen über ihm, dann wieder der Schrei.

Ein großer Kolkrabe hockte auf Johann und bekundete seinen Anspruch auf das Aas.

Noch nicht, Totenvogel, noch nicht.

Mit einer schnellen Handbewegung scheuchte er den Raben fort, der protestierend davonflog. Mehr als die Handbewegung brachte Johann nicht zuwege, Aufstehen war ihm unmöglich.

Er neigte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite.

Die Dunkelheit hatte alles verschlungen, nur der Schnee bildete einen scharfen Kontrast zu dem unergründlichen Schwarz, das sich vor ihm aufbaute: Ein dichter Wald schien in einiger Entfernung vor ihm zu liegen.

Hinter dem Wald musste das Tal liegen. Es war nicht mehr weit.

Mit letzter Kraft zog er sich am Stamm einer Tanne hoch und torkelte in den Wald, kämpfte sich durch Unterholz und über umgestürzte Bäume. Bald schien es ihm, als wäre er aus seinem geschundenen Körper geschlüpft und sähe sich selbst dabei, wie er sich durch den Wald kämpfte.

Einen Wald, dessen Bäume Gesichter hatte, wie Johann auf einmal voll Unbehagen bemerkte.

Sie waren freundlich, dann zunehmend dreist und hinterhältig, freuten sich über Johanns Schwäche. Ihr Gelächter dröhnte in seinen Ohren, bis er es nicht mehr aushielt, die Fäuste gegen den Himmel reckte und einen Schrei der Verzweiflung ausstieß.

Johann spürte die Anstrengung sofort, spürte das Blut in seinen Schläfen pochen, dann wurde alles still.

Er schlug auf dem Boden auf.

Sein dritter Sturz, seit er das Kruzifix auf der Lichtung entdeckt hatte. Auch der Erlöser war dreimal gestürzt, bevor er gestorben war. Seltsam, dass ihm das jetzt einfiel.

Eine Batterie von Lichtblitzen feuerte vor seinen Augen, als er sie langsam schloss …

Lichtblitze?

Er öffnete die Augen wieder.

Sah kleine Lichter, zwei, vielleicht drei Meilen entfernt.

Johann rieb sich die Augen, aber dies war keine Einbildung, kein Fiebertraum! Dort waren Häuser. Bewohnte Häuser! Der Gedanke gab ihm Kraft. Er stemmte sich ein wenig aus dem Schnee und kroch auf allen Vieren den Lichtern entgegen.

Das erste Bauernhaus der Siedlung war grob gezimmert und entsprach der Bauweise in diesem Teil der Alpen: ein steinernes Fundament, dicke Holzbohlen, ein wuchtiger Dachstuhl. Warmes Licht fiel aus einem Seitenfenster und schnitt ein Viereck in den Schnee, aus dem Schornstein quoll Rauch.

Es war ein Anblick, der Sicherheit versprach und Johann wie der Himmel auf Erden schien.

Er erklomm die zwei Stufen zur Eingangstüre und setzte zum Klopfen an. In dem Moment sah er etwas am Dachfirst und blickte genauer hin. Dort oben war eine geschnitzte Heiligenfigur angebracht, die ihm eine Hand entgegenstreckte. Aber es war keine gütige Geste: Die starren Augen und der weit aufgerissene Mund des Heiligen Leonhard schienen Johann eher eine Warnung zu sein – die er ignorierte. Mit letzter Kraft klopfte er gegen die Tür.

Zunächst war nichts zu hören, dann drangen Stimmen nach außen, polternde Schritte kamen näher. Mit einem heftigen Ruck wurde die Türe aufgerissen, ein grobschlächtiger Mann stand Johann gegenüber.

„Was ist?“, bellte er ungehalten.

Johanns Kräfte verließen ihn endgültig, er kippte rückwärts die Holzstufen hinunter und blieb im Schnee liegen.

Der Mann musterte den reglosen Körper, dann murmelte er abschätzig: „Von mir aus.“ Er schloss die Tür wieder.

Johann konnte sich nicht mehr rühren. Eine dünne Schneeschicht deckte ihn langsam zu.

Und doch – die Wortfetzen, die aus dem Haus drangen, nahm er noch wahr. Es schien ein Streit entbrannt zu sein. Eine Frauenstimme wollte wissen, wer da draußen sei und was er wollte, Gebote wie „christliche Nächstenliebe“ und „tue keinem anderen“ wischte der Mann, der Johann geöffnet hatte, vom Tisch.

„Was, wenn er einer von ihnen ist? So einer kommt mir nicht unter mein Dach.“

Der Streit verstummte, jemand polterte eine Treppe hinauf, dann war nichts mehr zu hören.

Johanns Körper wurde eins mit dem weichen Flockenbett, in dem er lag. Von den Fingerspitzen kroch die Kälte in den Körper, aber Johann hatte ihr nichts mehr entgegenzusetzen, jede Kraft war aufgebraucht.

Dann wurde aus dem Schmerz Wärme, beruhigend und endgültig.

So sei es. Johann schloss die Augen.

Das Ächzen einer sich öffnenden Türe.

Hastige Schritte.

Eine junge Frau und ein Greis beugten sich über Johann, die Frau wischte den Schnee von seinem Gesicht und musterte ihn durchdringend.

Johann fiel endgültig in Ohnmacht.

„Er sieht nicht aus wie einer von denen“, sagte die junge Frau leise zu dem alten Mann.

„Hat er irgendwelche Anzeichen?“, fragte dieser skeptisch.

Die Frau sah sich Johanns Hals genauer an, dann öffnete sie seinen Mantel. Das Blut hatte sich mittlerweile auch durch sein Hemd gesogen und nahezu die gesamte linke Seite tiefrot, fast schwarz gefärbt.

„Er ist verletzt, Großvater.“

Der Greis sah sich Johann nun ebenfalls genauer an, dann nickte er entschlossen. „Wir bringen ihn besser zu mir, dort stirbt er wenigstens im Warmen.“ Er packte Johann am Kragen seines Ledermantels.

Die junge Frau zögerte plötzlich. „Was, wenn er ein Protestant ist?“ Sie hatte den Satz kaum hörbar geflüstert.

„Unsinn“, entgegnete ihr Großvater „und wenn, dann muss das keiner wissen. Komm jetzt, Elisabeth.“

Gemeinsam schafften sie den Bewusstlosen auf die andere Seite des Dorfes, durch das sich ein breiter Weg zog. Nur in wenigen Häusern brannte noch Licht, Bewohner waren keine zu sehen. Kein Wunder bei dem Sturm, dachte Elisabeth.

Der alte Mann öffnete die Tür eines kleinen Hauses. Ein Bellen war zu hören, dann tauchte ein Schäferhund auf, der fast ebenso viele Lenze auf dem Buckel zu haben schien wie der Greis selbst. Als der Hund erkannte, wen er vor sich hatte, begann er mit dem Schwanz zu wedeln, dann schnüffelte er neugierig an Johann. „Ruhig, Vitus, ruhig!“, beruhigte der alte Mann seinen Hund. „Legen wir ihn rauf in die Kammer“, sagte er dann zu Elisabeth.

Elisabeth blickte auf die steile Treppe, die in den Söller führte, und nickte zögernd. Mit aller Kraft schleiften die beiden Johann durch das enge Stiegenhaus hinauf, darauf bedacht, dass sein Kopf nicht auf den abgetretenen Stufenkanten aufschlug.

Schließlich hatten sie es geschafft, der alte Mann stieß die Tür zu einer Kammer auf. Der kleine Raum war karg eingerichtet, strömte aber eine behagliche Atmosphäre aus. Sie wuchteten Johann auf das Bett und zogen ihm Mantel, Stiefel und die nasse Kleidung aus.

„Bring mir die Lavoir mit Wasser und sauberen Stoff.“

Elisabeth eilte hinaus, der Greis zog einen Feitel aus der Lederscheide an seinem Gürtel und schnitt den verkrusteten Verband von Johanns Wunde. Die Entzündung war sehr stark, einige von der Wunde wegführende Adern hatten sich schwarz gefärbt. Der alte Mann betrachtete die Verwundung mit Sorge.

Elisabeth kam mit den georderten Gegenständen und stellte sie neben das Bett. Als sie die dunklen Adern sah, stieß sie einen kurzen, spitzen Schrei aus. „Er ist doch einer von ihnen“, stammelte sie entsetzt, „wir müssen –“

„Unsinn, Kinderl, das schaut nach einer Blutvergiftung aus. Bring mir noch die Kräuter von unten.“

Elisabeth verließ den Raum, der Greis säuberte die Wunde, indem er sie mit wassergetränkten Fetzen sorgfältig auswischte. Johann stöhnte auf, doch seine Augen blieben geschlossen.

Elisabeth kam eilig wieder in die Kammer und reichte ihrem Großvater eine blecherne Schüssel mit verschiedenen Heilkräutern, darunter Kamille und Arnika. Der alte Mann kaute die Kräuter zu einer breiigen Masse und bedeckte damit den Eiterherd. Abschließend legte er noch einen sauberen Flecken Stoff darauf, der sich sofort mit Blut vollsaugte und haften blieb. Elisabeth deckte Johann mit einer dicken Tuchent zu.

„Mehr können wir heut nicht für ihn tun“, sagte der alte Mann. „Schau lieber, dass du heimkommst, bevor dein Herr Vater wieder ungehalten wird.“

„Du meinst, mehr als sonst?“, entgegnete Elisabeth. „Danke, Großvater.“ Sie bekreuzigte sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange, dann eilte sie davon.

Der Greis holte einen Krug Wasser und stellte ihn auf den Bretterboden neben den Nachttopf. Er setzte sich neben das Bett auf einen Stuhl und beobachtete den Verletzten. Vitus trottete herein und legte sich mit einem tiefen Grunzen zu Füßen seines Herrn nieder.

Der alte Mann zündete sich eine Pfeife an und schmauchte sie nachdenklich.

Schon lange hatte niemand mehr von außerhalb den Weg in das Dorf gefunden, und das war auch gut so. Neue Menschen bedeuteten immer Veränderungen, zum Guten oder zum Schlechten. Dieses Dorf brauchte nichts Neues mehr, es hatte endlich in einen geordneten Alltag gefunden. So dachten jedenfalls die meisten, sein Sohn eingeschlossen.

Andererseits – wenn man so alt war wie er, dann konnte man sich noch gut – zu gut – daran erinnern, wie sehr dieses Dorf früher einmal von Leben erfüllt gewesen war.

Bevor sie gekommen waren und sich ein Schatten über alles gelegt hatte.

So gesehen konnte es eigentlich nur besser werden. Der alte Mann nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und blickte wieder zu Johann.

„Mal schaun, was du bringst, Bursche.“