III

Wie lange war er schon in diesem gottverfluchten Wald unterwegs? Es gab keinen Weg, das Unterholz war verspießt und gefährlich und ließ ihn nur sehr langsam vorwärts kommen, außerdem schien das Tal immer enger zu werden.

Aber es gab kein Zurück. Das würde er nicht mehr schaffen, nicht mit seiner Verwundung. Seine einzige Chance war, aus dem Wald heraus in ein anderes Tal zu kommen und ein Dorf oder wenigstens einen Bauernhof zu finden.

Einmal büßt du, List. Der Tag wird kommen.

Eine andere Stimme – eine, die er eigentlich nie mehr hatte hören wollen. Dass sie sich gerade jetzt meldete, schien ihm ein böses Omen. Vielleicht ist die Zeit da, sagte er sich, vielleicht sollte er sich einfach hinsetzen und abwarten.

Gerade als seine Gedanken am düstersten waren, begann sich der Wald vor Johann zu lichten, eine Gebirgskette lugte zwischen den Stämmen hindurch. Johann stieß innerlich einen Freudenschrei aus, zwängte sich hastig zwischen den letzten Bäumen hindurch und schob einen verdorrten Haselnussbusch auf die Seite.

Die imposanten Berge Tyrols entfalteten sich vor ihm, sie reichten, so weit das Auge sehen konnte. Die verschneiten Gipfel waren von schweren Wolken verhangen, aus den Wäldern, die bis fast an die Schneegrenze heranreichten, dampfte der Nebel, als würden sie atmen.

Eine raue, urwüchsige, aber traumhaft schöne Landschaft.

Deine Heimat.

In der Ferne konnte Johann vereinzelt Falken ausmachen, die lange Kreise zogen und auf Beute spähten. Weit und breit waren weder ein Dorf noch ein Gehöft zu sehen, dennoch erfüllte Johann ein erhebendes Gefühl: Für einen Augenblick war ihm, als wäre er Herr über das ganze Land vor ihm.

Was natürlich nicht stimmte – niemand konnte dieses Land beherrschen. Nicht der Kaiser, nicht bayerische Invasoren, ja, nicht einmal die Tyroler selbst hatten der gewaltigen Natur etwas entgegenzusetzen.

Johann zog sich den Kragen seines Mantels hoch und stieg talwärts.

Die Wiesen waren vom Dauerregen rutschig geworden und verhinderten so einen zügigen Abstieg. Immer wieder sah Johann sich um und hielt Ausschau nach einer Unterkunft, doch es schien, als wäre das gesamte Gebiet entvölkert, nicht einmal Hochalmen waren zu finden.

An der schmalen Talsohle angelangt, setzte Johann sich auf einen großen, vermoosten Stein, über den eine verwachsene Kiefer wachte. Er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Von dem fast euphorischen Gefühl, das er vorhin noch verspürt hatte, war nichts mehr übrig. Es hatte wieder stärker zu regnen begonnen, das Wasser hatte bereits seinen Weg durch die Nähte des Mantels gefunden und begann, sich seine Bahnen entlang seines Rückens zu suchen.

Johann versuchte sich erneut zu orientieren. Wenn er sich südöstlich hielt, müsste er über kurz oder lang nach Schwaz kommen, so seine Vermutung. Und dann weiter, über die alten Straßen Richtung Westen, weg vom Krieg und den verwüsteten Dörfern, die der Bayrische Rummel in Tyrol hinterlassen hatte.

Ein ziehender Schmerz meldete sich wieder von der Seite. Johann zog den Verband ein wenig auf und untersuchte seine Wunde. Der entzündete Wundherd war größer geworden. Johann wusste, was er früher oder später tun musste, ihn schauderte bei der Vorstellung. Er zog den Verband wieder fest, dann ließ er seinen Blick finster über die verlassene Landschaft schweifen.

Plötzlich machte sein Herz einen Sprung: Links von ihm, kaum wahrnehmbar, schlängelte sich ein überwachsener Pfad der Talsohle entlang Richtung Osten.

Ein Pfad, der vielleicht zu einem Dorf führte. Zu Menschen, die ihn aufnehmen würden.

Mit neuem Mut schulterte Johann sein Bündel und folgte dem Pfad.

Als die Dämmerung hereinbrach und die Landschaft in fahles Zwielicht tauchte, war es für Johann Gewissheit geworden: Er war auf einen toten Weg geraten. Der Pfad war in den letzten Stunden immer schmäler geworden, die Berge rings um Johann schienen mit jedem Schritt näher zu kommen – ein Gefühl, das er früher als Geborgenheit empfunden hatte. Nun empfand Johann das Gebirge als kalt und bedrohlich. Die Wunde an seiner Seite schmerzte zudem von Schritt zu Schritt mehr, und da der Regen kein Ende nahm, würde noch eine Nacht unter freiem Himmel für ihn vermutlich den Tod bedeuten.

Johann hatte die Hoffnung auf eine feste Unterkunft schon fast aufgegeben, als er plötzlich stutzte. In gut zwei Meilen Entfernung schälte sich etwas aus der Landschaft: ein Holzgebäude, eine sichere Zuflucht für die Nacht! Johann biss die Zähne zusammen und kämpfte sich weiter, er musste diese letzte Strecke unbedingt vor Anbruch der Dunkelheit zurückgelegt haben …

Die morschen Bretter und das löchrige Dach bezeugten, dass der Heustadl schon seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt worden war. Durch den Bretterboden hatten sich Pflanzen einen Weg gesucht, aber wenigstens musste Johann nicht auf der bloßen Erde schlafen.

Er schob einige Holzlatten vor den Eingang, raffte das letzte Häufchen Stroh zusammen und setzte sich darauf. Sobald er saß, spürte er die Erschöpfung, er schloss die Augen und gestattete sich einen kurzen Moment der Ruhe.

In der letzten halben Stunde hatte der Regen endlich aufgehört und der Wind hatte den Himmel beinahe wolkenfrei gefegt. Kaltes Mondlicht drang durch die löchrigen Wände des Heustadls und warf ein streifenartiges Muster über seinen einsamen Bewohner.

Johann öffnete sein Bündel und nahm das letzte Stück Brot heraus, das einem Schwamm aus grünlichem Schimmel glich. Er betrachtete den übel riechenden Klumpen: Mit richtigem Essen hatte das nichts zu tun. Erinnerungen an sämige Suppen, gehaltvolle Eintöpfe und knusprig gebratenes Fleisch breiteten sich in seinem Kopf aus, Johann konnte sie beinahe riechen. Aber von Erinnerungen wurde er nicht satt, also gab er sich einen Ruck, biss von dem Brot ab und zwang sich, die breiige Masse zu schlucken. Nach wenigen Bissen war das Brot hinuntergewürgt und damit seine letzte Ration aufgebraucht.

Was nun? Wie sollte er die nächsten Tage überleben? Für die Jagd war er zu schwach, Beeren und Wurzeln gab es kaum, und –

Ein ziehender Schmerz riss Johann jäh aus seinen trüben Gedanken. Seine Wunde hatte in den letzten Stunden immer stärker geschmerzt, er hatte wohl keine andere Wahl mehr, als sie zu behandeln.

Johann zog sein Hemd aus und versuchte zunächst vorsichtig, den verkrusteten Verband zu lösen. Immer wieder hielt er inne, da ihm jeder Punkt, jede Linie, die er den Verband von der Wunde löste, stechende Schmerzen bereitete.

Und er hatte noch keinen Handbreit geschafft.

Das musste er anders lösen. Johann biss die Zähne zusammen, dann riss er sich mit einem schnellen Ruck den Stoff von der Wunde.

Ein kurzer Schrei hallte durch die Nacht, dann war es wieder still.

Zitternd sah sich Johann die Wunde an. Die Ränder waren stark entzündet, die Haut wirkte blass und die Adern schimmerten bläulich hindurch. Dicker Eiter quoll heraus.

Der Wundbrand hatte eingesetzt.

Johann griff zitternd nach seinem Messer und redete sich ein, dass es nicht mehr schlimmer werden könne.

Lügner.

Sorgfältig wischte er die Klinge an seiner Hose ab, dann schnitt er die Verkrustung auf. Der Schmerz trieb ihm sofort wieder den Schweiß auf die Stirn und Tränen in die Augen, er atmete schwer, verharrte. Dann nahm er einen Holzspan und schob ihn in den Mund, seine Zähne bohrten sich in das morsche Faserwerk.

Er spreizte mit seiner linken Hand die Wunde, seine Finger bohrten sich suchend in vereitertes Fleisch, tiefer und tiefer …

Lichtblitze begannen vor seinen Augen zu tanzen, Johann wusste, dass er dies nicht mehr lange durchstehen konnte. Schließlich, nach einer schieren Unendlichkeit und dem Kollaps nahe, zog er heraus, wonach er gesucht hatte: den abgebrochenen Span der Heugabel.

Angewidert warf Johann den blutigen Splitter weg, dann spuckte er das jetzt nutzlose Holzstück aus – er hatte es in seinem Schmerz glatt durchgebissen. Die Wunde begann wieder heftig zu bluten, aber das war gut, so würde sie wenigstens leidlich gereinigt werden. Die Stelle lag ungünstig, er konnte sie nicht einmal anpinkeln, um sie zu desinfizieren, eine Praktik, von der ihm ein Bergmann aus Schwaz berichtet und die ihm schon oft geholfen hatte. Aber dafür war es wahrscheinlich ohnehin schon zu spät.

Johann suchte den saubersten Flecken auf seinem notdürftigen Verband und presste ihn auf die Wunde. Nachdem er sich mit letzter Kraft wieder angezogen hatte, deckte er sich mit seinem Mantel zu und kauerte sich in eine Ecke.

Er spürte die Kälte, die durch den Bretterboden aufstieg und war sich sicher, dass er kein Auge zumachen würde.

Wenig später schlief er tief und fest.