XXXVII

Buchmüller sollte nicht das letzte Opfer bleiben. Ein Bauer nach dem anderen fiel, die Verwundeten schrien und wälzten sich auf dem blutgetränkten Boden. Aus den Löchern, aus denen das Reisig geworfen worden war, hingen nun bodenlange Seile.

Johann verteidigte sich, so gut er konnte, und streckte einen Gegner nach dem anderen nieder. Aber er wusste, dass dieses Gefecht nicht zu gewinnen war. Er musste zum Kommandanten und ihn davon überzeugen, den Kampf aufzugeben und zu retten, was noch zu retten war. Aber wo war der Befehlshaber?

Mit gezielten Säbelhieben bahnte sich der Kommandant einen Weg durch das Getümmel, suchte nach einem Ausweg für sich und seine Männer. Dies war nicht ihr Kampf, das war der Kampf der Bauern, und sie hatten sich benutzen lassen wie blutige Anfänger.

Der Kommandant blickte sich um: Der Widerstand schwand, die Übermacht wuchs. Wo war Albrecht?

„Adjutant zu mir!“, brüllte er in den Kampfeslärm, als er plötzlich Albrecht sah, an die Wand gedrängt. Er wollte gerade zu ihm durchbrechen, als diesem von oben blitzschnell eine Schlinge um den Hals gelegt wurde. Der Kommandant musste hilflos mitansehen, wie sein alter Waffengefährte zuckend nach oben gezogen wurde wie ein Tier in der Falle.

Die Seile waren tödliche Fangschlingen, an denen nur Augenblicke später immer mehr Leiber zu baumeln begannen.

Einer davon war Gottfried. Er keuchte, versuchte gurgelnd Luft zu holen, aber die Fangschlinge legte sich wie ein tödlicher Ring um seinen Hals. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, das Herz trommelte ihm in den Ohren, seine Lunge schien zu bersten.

Dann wurde auf einmal alles ruhig, der Schmerz verklang. Und Gottfried erkannte in einem letzten Moment der Klarheit, dass er sich geirrt hatte.

Es würde kein Leben mit Sophie geben. Keine neue Chance.

Nur den Tod.

Und Dunkelheit verschluckte ihn.

Johann sah keine Möglichkeit mehr, es gab nur noch eine Hoffnung. „Alle Mann in die Gänge!“ Doch seine Worte blieben ungehört. Die wenigen Soldaten und Bauern, die noch standen, wurden eingekreist und verschwanden unter Hieben und Stichen, die gnadenlos auf sie niedergingen.

Der Kommandant hatte Johanns Worte gehört, er wusste, dass der Schmied, oder wer auch immer er war, Recht hatte. „Rückzug, jeder Mann für sich!“, brüllte er in die rauchgeschwängerte Halle, gleichzeitig durchfuhr ihn die bittere Erkenntnis, dass seine Worte nichts mehr ändern konnten.

Sie würden hier alle sterben.

Jeder Mann für sich. Johann kannte den Befehl, er bedeutete im Allgemeinen, dass jeder Mann für sich alleine kämpfte – und starb.

Aber nicht, solange er es verhindern konnte.

Er lief auf einen der Gänge zu, hier verringerte sich zumindest die Macht der Überzahl. Als er den Eingang fast erreicht hatte, schoss plötzlich ein Hüne von einem Mann vor ihm auf und schwang einen eisengespickten Prügel. Johann rutschte aus, wurde am Kopf getroffen und fiel benommen zur Erde. Ein anderer Ausgestoßener tauchte auf und stach mit einem kurzen Schwert auf ihn herab. Johann konnte zwar instinktiv ausweichen, aber seine linke Schulter wurde trotzdem durchbohrt. Er schlug reflexartig mit der Axt nach oben und durchtrennte dem Angreifer fast den gesamten rechten Arm. Dieser schrie und hielt sich den Arm, der gleich einer Marionette an einzelnen Fäden baumelte, als die Eisenkeule des Hünen den eigenen Mann mit voller Wucht am Hinterkopf traf und zur Seite fegte.

Johann blickte auf, der Hüne machte einen Schritt auf ihn zu und holte aus.

Jeder Mann für sich.

Verzeih mir, Elisabeth.

Plötzlich stutzte der Hüne und blickte nach unten: Aus seinem Wams trat die Spitze eines Säbels hervor, die sogleich ruckartig mit einer Drehbewegung zurückgezogen wurde. Der Hüne wandte sich um und wurde von einem weiteren Hieb niedergestreckt.

Der Kommandant stand hinter ihm, den blutigen Säbel in der Hand, dann bückte er sich zu Johann und half ihm auf.

Johanns Schulter pochte, aber er ignorierte den Schmerz. „Hauen wir ab!“, rief er dem Kommandanten zu.

„Du zuerst, ich komme mit meinen Männern nach!“

Johann blickte sich schnell um. Welche Männer? Es war niemand mehr zu sehen, keine Bauern, keine Soldaten, nur mehr sie. Aber er verstand sein Gegenüber: Mut und Ehre gingen Hand in Hand, dicht gefolgt vom Tod.

Der Kommandant nickte ihm knapp zu. „Los jetzt. Ich halte sie auf.“ Dann drehte er sich um und stellte sich der heranrollenden Übermacht.

Bevor Johann im Gang verschwand, drehte er sich noch einmal um. Er sah eine große, breite Gestalt, die sich inmitten der Ausgestoßenen auf den Kommandanten zubewegte, eine Gestalt, die ihm nur zu bekannt vorkam …

Johann lief durch den Gang in die Finsternis hinein. Er blickte sich immer wieder hastig um: Noch folgte ihm niemand.

Er streifte mal die eine, mal die andere Seite des Ganges, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er schwache Konturen erkennen konnte. Dann kam er zu einer Abzweigung, aber welchen Weg sollte er nehmen? Alle Fackeln waren bewusst gelöscht worden, damit sich keiner der Eindringlinge orientieren konnte.

Vergiss deine Augen. Verlass dich auf deine anderen Sinne.

Johann schloss die Augen und konzentrierte sich. Nach einer Weile spürte er es: Ein kühler Lufthauch streifte seine linke Wange.

Ein Wegweiser. Johann folgte ihm.

Der Lufthauch wurde merklich stärker, führte ihn vorbei an Felsnischen und kleineren Räumen, die leer geräumt waren. Welch erbärmliches Leben musste hier unten geführt werden, wo die Kälte des Gesteins nur von der alles durchdringenden Feuchtigkeit übertroffen wurde?

Johann folgte dem Luftzug immer tiefer in den Berg hinein. Schließlich stand er vor einer schweren Holztür. Unter der Schwelle flackerte mattes Licht hindurch, Sand wurde vom Luftzug angesogen und kroch unter der Tür hindurch.

Johann lauschte.

Nichts.

Mit einem festen Fußtritt ließ er die Tür aufspringen, wollte gerade hinein, als ihm ein Schwerthieb die Haut an der Schläfe aufriss. Johann wirbelte herum – und stand einer Frau gegenüber, in Lumpen gehüllt, die ihn verzweifelt anblickte.

Sie ließ den für sie zu schweren Bihänder sinken und wendete ihr Gesicht ab.

Johann folgte ihrem Blick, dann sah er sie: Frauen. Kinder. Greise. Alle in diesen kapellenähnlichen Raum mit seinen unzähligen roh gezimmerten Kruzifixen gepfercht, erbarmenswerte Geschöpfe, in Lumpen gekleidet und von der Krankheit entstellt. Johann sah schwarze Adern, die sich unter der alabasterfarbenen Haut verästelten. Sah schütteres Haar, manchmal auch gar keines mehr, selbst bei den jungen Frauen.

Dies waren sie also, die das Dorf seit jeher in Angst und Schrecken versetzt, ja terrorisiert hatten. Diese Jammergestalten waren – die Familien der Ausgestoßenen.

Alle mit blanker Angst in den milchigen Augen. Alle den Dämon erwartend.

Ihn.

Johann blickte auf seine blutverschmierten Hände. Ein Säugling begann zu weinen, kleine Kinder stimmten herzzerreißend mit ein.

Gut und Böse offenbart sich erst im Handeln, nie in der Gestalt.

Die Frau, die das Schwert hielt, machte einen Schritt zurück. Sie wusste, dass sie nur einen Hieb gehabt hatte, und der hatte nicht hart genug getroffen. Nun, dann würde es zu Ende sein. Sie fürchtete den Tod nicht, hier oben war er eine Erlösung. Ruhig blickte sie den jungen Mann mit der blutigen Axt in den Händen an.

Aber Johann senkte die Axt. Diese hilflosen Wesen vor ihm umzubringen vermochte nur der, der keinerlei Seele mehr im Leib hatte, dem nie Liebe widerfahren war oder der vom Glauben geblendet sein musste.

Die anderen schienen zu spüren, dass von dem Dämon vor ihnen keine Gefahr ausging. Johann erkannte so etwas wie einen Funken Hoffnung in ihren Augen. Und das nur, weil er sie hatte leben lassen.

Ein kleines Mädchen mit schmutzigem Gesicht sah Johann an. Dann, ganz langsam, streckte sie ihre Hand nach rechts.

Johann verstand. Er wandte sich ab und lief, wohin das Mädchen gezeigt hatte.

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Johann hoffte, dass dies auch auf ihn eines Tages zutreffen möge.

Er hörte Stimmen durch die Gänge hallen. Sie erinnerten ihn daran, dass nur ein Teil der Ausgestoßenen aus wehrlosen Frauen und Kindern bestand. Der andere Teil war todbringend – und hinter ihm her.

Der Gang machte eine starke Biegung. Nun würde sich zeigen, ob ihn das Mädchen in eine Sackgasse hatte laufen lassen. Er konnte es ihr nicht einmal verdenken, wenn sie ihn verraten hätte.

Plötzlich wurde es heller. Am Ende der Biegung konnte Johann vertrocknetes Blätterwerk erkennen, durch das sich das Tageslicht schnitt.

Leben oder Tod.

Johann lief schneller, er holte tief Luft – und hechtete durch die Laubwand ins Freie. Gewandt rollte er sich auf dem Waldboden ab, stand auf. Es brauchte einige Augenblicke, bis sich seine Augen an die gleißende Helligkeit gewöhnt hatten.

Leben. Vorerst.

Die alten Mauern lagen ruhig da, nichts ließ vermuten, welches Blutbad sich eben abgespielt hatte, unten in den düsteren Katakomben …

Nichts bis auf die kleine Rauchsäule, die aus einer der Öffnungen an der Mauer des Turms in den Himmel stieg. Dunkel und Unheil verkündend.

Johann drehte sich um und verließ den unglückseligen Ort.