XXXI

Der Schneesturm ließ die Gestalt vor ihm fast unsichtbar werden.

Albin hielt keuchend inne, musste erst einmal zu Atem kommen, da er die ganze Zeit durch den kniehohen Schnee gelaufen war. Zum Glück waren die Fußspuren noch zu erkennen, sonst hätte er sofort umkehren müssen, und das –

Er sah, wie die Gestalt des Pfarrers von der Dunkelheit des Waldes verschlungen wurde.

Jetzt war er allein. Zeit, die letzte Entscheidung zu treffen.

Albin blickte zurück: Das Dorf lag weit hinter ihm, war nur noch eine verschwommene, graue Insel in einem weißen Meer. Aber Johann und Elisabeth verließen sich auf ihn. Wenn er jetzt umkehrte, wie würde er dastehen? Er könnte ihnen nicht mehr in die Augen blicken.

Könnte ihr nicht mehr in die Augen blicken.

Albin beobachtete den Wald. Alles ruhig.

Da! Eine Fratze! Oder doch ein Baumstumpf am Waldrand?

Ein letztes Mal drehte er sich um.

Sah in den Schneesturm, wo das Dorf lag. Einer schlimmen Gefahr ausgeliefert.

Dann sei’s drum.

Er lief los und ließ sich ebenfalls von der Dunkelheit verschlingen.

Johann hatte die Arbeit an den Waffen beendet. Mehr konnte er nicht tun, aber die Geräte würden morgen meistern, was man ihnen abverlangte. Er löschte die beiden Ölfunzeln und trat ins Freie.

Es war schneidend kalt draußen, Johann blickte zum Wald hoch.

Keine Bewegung, bis auf die Schneeflocken, die in der Dunkelheit tanzten.

Spiel bloß nicht den Helden, Albin.

In der Stube brannte noch Licht. Langsam ging Johann auf das Haus zu.

Johann betrat die behagliche Stube. Elisabeth war über ihrem Nähzeug eingeschlafen und schreckte auf.

„Vater?“

Sie erkannte Johann, legte das Nähzeug beiseite und erhob sich.

„Setz dich, ich mach dir das Essen.“

Johann hielt sie am Arm fest und zog sie an sich.

Elisabeth blickte ihn überrascht an, unschlüssig, was sie denn nun tun –

Er beugte sich zu ihr und küsste ihre Wangen. Sie schloss die Augen, öffnete leicht ihren Mund. Johann liebkoste ihre Haut, ihre Augen, ihre Nase. Ein warmes Gefühl hüllte sie ein. Als sich ihre Lippen berührten, war es Elisabeth, als würde sich alles um sie herum drehen. Sie erwiderte den Kuss, schlang ihre Arme um Johann und drückte ihn, so fest sie konnte, an sich.

Dann löste sie sich von ihm. Sie fühlte Schuld in sich aufsteigen, aber wie konnte etwas, das sich so richtig anfühlte, denn falsch sein? Für Elisabeth zählte nur der Augenblick.

Morgen war der Tag des Strafzugs. Heute sollte Johann der ihre sein.

Elisabeth staunte darüber, wie sicher diese Entscheidung gekommen war und wie richtig sie sich anfühlte.

Johann, der nicht verstand, warum sich Elisabeth aus seiner Umarmung gelöst hatte, wollte gerade eine verlegene Entschuldigung stammeln, als Elisabeth ihn an der Hand nahm und ihn aus der Stube zog.

Elisabeth schloss die Tür und zündete die kleine Petroleumfunzel an, die ein weiches, bernsteinfarbenes Licht spendete. Johann stand hinter ihr. Sie verharrte einen Augenblick, atmete tief durch. Dann drehte sie ihren Kopf, blickte Johann über die Schulter in die Augen, hoffte, er würde ihre Unsicherheit nicht merken.

Langsam öffnete sie die Bänder am Oberteil ihres Kleides. Sie lächelte verlegen, weil sie mit ihren zitternden Fingern fast einen Knoten zuanstatt aufgezogen hätte. Dann öffnete sie die Masche der Schürze auf ihrem Rücken und ließ sie zusammen mit ihrem Kleid auf den Boden fallen.

Johann begann ebenfalls, sein Hemd aufzuschnüren. Elisabeth entledigte sich nun auch ihrer weißen Bluse und der Beinkleider und drehte sich zu Johann um.

Nun stand sie nackt vor ihm. Ihre Brust hob und senkte sich schnell vor Aufregung, sie wartete auf seine Reaktion.

Johann zog sie an sich und küsste sie zärtlich. Er streichelte ihren Rücken, fühlte, wie sich die feinen Härchen aufstellten.

Elisabeth streifte Johann das Hemd ab, spürte seine Wärme. Dann umarmten sich die beiden und sanken aufs Bett.

Albin hetzte in Todesangst durch den Wald.

Spiel nicht den Helden.

Wollte er auch nicht, aber nur ein Moment der Unachtsamkeit hatte gereicht, und den konnte er nun nicht mehr ungeschehen machen. Albin blickte sich schnell um, in die wirbelnde Hölle hinter ihm: Waren sie schon da? Die Dunkelheit ließ nur Vermutungen zu, seine einzige Chance war es, den Waldrand zu erreichen. Er rannte weiter, spürte kaum die feinen Schnitte der Äste, die ihm ins Gesicht peitschten, nur die kalte Luft, die sich mit jedem Atemzug in seine Lungen schnitt.

Dann blieb er für einen Moment stehen, lauschte.

Waren sie hinter ihm her?

Ein lauter werdendes, rhythmisches Brechen des Unterholzes gab Antwort.

Sie waren.

Johann und Elisabeth lagen nebeneinander und liebkosten sich. Elisabeth genoss Johanns Zärtlichkeiten, sie war unsicher und neugierig zugleich. Nach Sophies Erzählungen hatte sie es sich immer anstrengender vorgestellt, gleich einer Arbeit, die man eben zu erledigen hatte, ohne viel Gefühl. Aber Johann gab ihr die Zeit, die sie brauchte.

Dann zog er sie auf sich, ihre langen Haare fielen wie ein schützender Schleier um ihre beiden Gesichter. Elisabeth fühlte seine Erregung, begann sanft, ihr Becken an seinem zu reiben. Ihr Atem wurde schwerer, kleine Schweißperlen glitzerten auf ihrer Haut.

Sie vergaßen die Welt um sich.

Innerlich hatte er es gewusst, hatte sich für eine solche Aufgabe nicht gewappnet gefühlt. Leises Anschleichen, Ausharren, Verstecken. Geschicklichkeit. Alles Eigenschaften, die er nicht hatte, die er noch nie –

Albin stolperte über eine Wurzel und stürzte hart zu Boden. Er überschlug sich mehrmals, dann blieb er liegen. Reißender Schmerz durchfuhr seine linke Hand.

Aber er hatte keine Zeit für Wehleidigkeiten. Er blickte hinter sich: Mehrere Gestalten schälten sich aus der Finsternis des Waldes.

Albin rappelte sich auf. Ein Stich fuhr ihm ins Knie, aber er ignorierte den Schmerz, lief humpelnd weiter.

Er hatte immerhin ein Versprechen zu halten.

Jetzt gab es kein Zurück mehr, leichte Angst stieg in Elisabeth auf.

Als Johann in sie eindrang, durchzuckte ein schneidender Schmerz ihren Unterleib, sie krallte ihre Finger in seinen Rücken.

„Soll ich aufhören?“, flüsterte er ihr ins Ohr.

„Nein, es ist nur –, es ist schon vorbei“, log sie. Johann bewegte sich leicht auf und ab, und allmählich schwand der Schmerz, machte Lust und Erregung Platz, die Elisabeth in Wellen durchströmten. Leise begann sie zu stöhnen, dann immer schneller und lauter, im Einklang mit Johanns Bewegungen.

Und plötzlich geschah es – Elisabeth fühlte eine nie zuvor gekannte Einigkeit, eine Einigkeit mit ihm, mit Johann, die sich wunderbar richtig anfühlte. Wenn ein Moment ewig dauern könnte, sollte es dieser sein, dachte sie, bevor sie sich endgültig in ihrer Lust verlor …

Albin sah den hellen Schnee durch die Bäume blitzen, die Wiese war nun nicht mehr weit. Er würde es schaffen. Und dann hatte auch er die Gefahr bezwungen, hatte eine Geschichte zu erzählen.

Nur noch wenige Meter.

Albin peilte die Baumschneise vor sich an, durch die er sich in Sicherheit schlagen würde. Ein letztes Mal drehte er sich im Laufen um: niemand zu sehen.

Albin blickte wieder nach vorne, als ihm ein wuchtiger Schlag die Nase brach und ihn von den Füßen riss.

Ein grellweißer Blitz, dann war alles schwarz.

Ein Luftstoß ließ die Funzel ausgehen und die Stube in blauem, nächtlichem Licht versinken. Johann sank auf Elisabeth, ihr Atmen im gleichen Rhythmus. Elisabeth schloss die Augen und drückte Johann an sich.

So nah sollte er ihr immer bleiben.

Und nichts auf der Welt würde sie trennen können.

Die Gestalt in der abgewetzten Kutte ließ den schweren Ast in den Schnee fallen und trat an den Bewusstlosen heran. Eine wächserne Hand packte Albin und schleifte ihn langsam in den Wald zurück.

„Woran denkst du?“, wollte Johann wissen.

„Daran, dass du morgen bei mir bleiben solltest. Ich schließe einfach die Tür ab, und wir überlassen die Welt da draußen sich selbst.“

„Das wär mir auch das Zweitliebste.“

„Was wär dir dann lieber?“

„Es gar nicht erst morgen werden zu lassen“, flüsterte Johann. „Wir halten einfach die Gestirne an und bewahren die Nacht.“

Elisabeth küsste ihn und drückte ihn an sich. „Dann mach du das, ich hab grad keine Hand frei“, sagte sie zärtlich …