XL

Johann und Elisabeth saßen am Stubentisch im Haus des Großvaters. Elisabeth hatte Johanns Kopfwunde bereits verbunden, jetzt widmete sie sich den tiefen Schnitten an Armen und Oberkörper. Sorgfältig säuberte sie die Wunden und wickelte weiße Stoffstreifen darüber.

Der Großvater betrat mit Vitus die Stube und setzte sich schwerfällig an den Tisch. Vitus rollte sich zu seinen Füßen zusammen. Nachdenklich blickte der Großvater auf die alten Vernarbungen an Johanns Oberkörper. „Sind ja wieder einige dazugekommen.“

„Ja“, sagte Johann kurz.

„Es heißt, dass die Falten im Gesicht eines Menschen sein Leben widerspiegeln, aber bei dir scheint’s der ganze Körper zu tun. Ich frag mich, was sie uns erzählen täten?“

„Sie würden von viel Leid und Elend zu berichten wissen. Von rechten und unrechten Taten.“

„Und auf welcher Seite hast du gestanden?“

„Nicht leicht zu sagen“, entgegnete Johann nachdenklich. „Zu oft hat jede Seite Recht. Aber wenn man tötet um größeres Unrecht zu verhindern, dann steht man als Mensch schon auf der richtigen Seite, würd ich meinen. Nur –“

Der Großvater blickte ihn interessiert an.

„Vor Gott steht man trotzdem als Mörder.“

„Da hast wohl Recht. Darum ist man gut beraten, rechtzeitig Buße zu tun.“

„Oder man versucht, es wieder gutzumachen …“

Der Großvater nickte.

„Ich hab’s zumindest vor“, sagte Johann entschlossen.

„Dann wird dir Gott wohl vergeben.“

Elisabeth war mit dem Einbandagieren fertig. Johann befühlte die Verbände. „Kein Arzt hätte es besser machen können.“ Er drückte ihr die Hand. Ein kurzes Lächeln umspielte ihre Lippen, aber sie wurde sofort wieder ernst.

„Johann – hat der Herr Pfarrer mit euch gekämpft?“

Johann schüttelte den Kopf. „Der feine Herr Hochwürden war schon wie vom Erdboden verschluckt, bevor der Kampf überhaupt begonnen hat!“

„Er hat euch verraten.“

Johann nickte müde. „Ich weiß.“

„Aber ich weiß auch warum.“ Elisabeth öffnete die Truhe neben dem Tisch. Sie holte das vergilbte Blatt und das schwere Buch hervor und legte es auf den Tisch. Johann wischte mit der Hand über die geschnitzten Lettern des Einbandes.

„Morbus Dei?“

„Ich hab es in der Sakristei gefunden.“

Johann sah sie anerkennend an.

„Lies zuerst den Brief, Johann.“

Johann las die Worte laut vor.

„… nur sie, die leiden, die geschlagen sind mit Schwären und Seuchen, sind auserwählt, Ihm zu dienen. Und die, die ihnen beistehen, werden ebenfalls ins Reich Gottes eingehen …“

Johann und der Großvater blickten sich überrascht an.

„Das ist noch nicht alles.“ Elisabeth legte den Brief aus der Sakristei auf den Tisch. „Das hat der alte Pfarrer Jacobus Kettler dem Kajetan Bichter geschrieben.“

Johann nahm den Brief und las ihn langsam vor:

„Kajetan, nun, da ich bald sterben werde und du mein Nachfolger im Dorf wirst, ist es an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst, obwohl du sie vielleicht schon geahnt haben magst. Ich habe den Zweifel und die Fragen in deinen Augen stets bemerkt, auch wenn du große Sorgfalt darauf getragen hast, sie zu verbergen.

Die Ausgestoßenen, wie man sie im Dorf so ungerecht schimpft, haben nicht nur Kinder mit der Krankheit auf die Welt gebracht. Ab und an wurden auch gesunde Kinder geboren. Manche hat man weggebracht, zu anderen Klöstern, aber deine Mutter hat dich heimlich zu mir gebracht und mich angefleht, dich im Dorf zu behalten.

Ich hab gelobt, dich im Namen Gottes aufzuziehen, um wenigstens an dir wieder gutzumachen, was dieses verfluchte Dorf den Deinigen angetan hat.

Um Buße dafür zu tun, dass sie euch verstoßen haben, und um dir die Möglichkeit zu geben, Seinen Willen zu vollenden, wozu ich nicht mehr in der Lage bin.

So bitte ich dich – sei dem Dorf trotz seiner Sünden ein Pfarrer mit reinem Herzen. Und bemühe dich gleichzeitig, für die Deinen einzutreten und ihnen, wenn auch verborgen, eine Stimme zu geben.

Der Herr vergebe uns unsere Sünden.

Und ich bitte dich, stellvertretend für die Deinen – vergebt auch ihr uns.

Jacobus Kettler, im Jahr des Herrn 1680.“

Niemand sprach ein Wort.

„Er kommt von oben –“, sagte Elisabeth.

„Das hab ich nicht gewusst“, meinte der Großvater erschüttert. „Sicher, die Leut haben geredet, als der Kettler mit einem Kind dahergekommen ist, aber er hat gesagt, dass es ihm seine Schwester aus der Stadt hatte anvertrauen müssen.“

Johann starrte ins Leere. „Gesunde Kinder …“ Er schlug das Buch auf und blätterte durch die Zeichnungen der Krankheitsbilder, sah, dass sie mit Fortlaufen des Buches immer morbider wurden.

„Jemand hat das Leiden der Ausgestoßenen von Anfang an festgehalten“, sagte Elisabeth.

Johann nickte. Er blätterte die letzte Seite um und stutzte.

„Hier hat jemand die letzten Seiten“, er sah genauer hin, „herausgeschnitten. Ja, fein säuberlich, man sieht kaum den Steg.“

„Was mag da wohl gestanden haben?“, fragte Elisabeth.

„Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr“, sagte der Großvater.

Johann schlug das Buch zu. Der alte Mann hatte Recht.

„Johann – eins wollte ich dich noch fragen.“ Der Großvater schien kurz zu überlegen, ob er fortfahren sollte. „Hast den Jakob gesehen?“

Elisabeth wurde rot. Man konnte ihr den Gedanken deutlich ansehen: Er ist mein Vater, und ich hab nicht einmal nach ihm gefragt.

Der Großvater sah Johann immer noch fragend an.

Und ob er Jakob Karrer gesehen hatte.

Blutüberströmt, sinister, die schwarzen Adern pulsierend, wie er sich mit Beil und Holzprügel gnadenlos auf den Kommandanten zubewegte …

„Nein“, sagteJohann. „Oben war er nicht.“

Nicht immer ist die Wahrheit das höchste Gut.

Elisabeth atmete erleichtert auf, aber in den Augen des Großvaters sah Johann deutliche Zweifel.

Aber Johann hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken, er stand abrupt auf. „Wir sollten das Nötigste zusammenpacken. Morgen müssen wir in aller Früh aufbrechen. Alle.“

„Lass gut sein, ich bin schon zu alt. Ich würd euch nur aufhalten“, sagte der Großvater müde. „Am besten, ich bleib hier in der Stube, beim Vitus, und wart, bis das Feuer im Ofen ausgegangen ist …“

„Wir lassen dich nicht zurück, Großvater. Entweder wir alle oder keiner!“, sagte Elisabeth bestimmt.

Der Großvater sah sie an, sah die Entschlossenheit in ihren Augen. „Also gut“, flüsterte er leise. „Also gut.“

Johann und Elisabeth waren schon fast bei der Tür, als der Großvater sie noch einmal zurückrief. „Elisabeth!“

Die beiden blieben stehen und sahen den alten Mann an.

„Bist ein rechtes Maderl geworden. Ich werd immer stolz auf dich sein.“

„Aber Großvater –“ Elisabeth verstand nicht.

„Dir dank ich auch, Johann. Pass mir schön auf mein Lisele auf, hörst mich?“

Johann nickte. „Ich versprech’s dir.“

Der Großvater schien erleichtert. „Dann ist ja alles recht. Und nun beeilt euch.“

Als die beiden die Stube verlassen hatten, ließ der alte Mann seinen Kopf in die Hände sinken. Er wusste, dass Johann die Unwahrheit gesagt hatte. Und er wusste, was das zu bedeuten hatte – dass sein Sohn zurückkommen würde.

In das Dorf – zu ihm.

Und vielleicht ist das nur gerecht. Vielleicht hab ich schon immer zu wenig Kraft gegen ihn aufgewendet. Stattdessen hab ich meinen eigenen Sohn feig aus meinem Gebet ausgeschlossen und ihm nicht nur einmal den Tod gewünscht.

Es war still in der Stube, nur das Knacken der brennenden Holzscheite im Ofen war zu hören, und Vitus, der leise im Schlaf jaulte.

Der alte Mann dachte an seine geliebte Frau, und wann er sie wohl wiedersehen möge.

Er war schon lange bereit.

Langsam griff er zu Pfeife und Tabaksbeutel …

Johann und Elisabeth liefen durch das Dorf. Überall herrschte gespannte Ruhe, vor vielen Häusern standen bereits Fuhrwerke und harrten ihrer Beladung.

Als sie im Hof angekommen waren, kam ihnen Sophie entgegen, eine kleine Schale in der Hand.

„Sophie, hast schon alles zusammengepackt?“, fragte Elisabeth unruhig.

Sophie nickte. „Freilich, hab ja nicht viel.“ Sie rang sich ein müdes Lächeln ab. „Bin gleich zurück.“

„Aber beeil dich.“

Sophie nickte. Sie zögerte, sah Johann und Elisabeth an. Dann gab sie Johann schnell einen Kuss auf die Wange und lief zum Stall. Johann verstand nicht, aber Elisabeth zog ihn schon ins Haus.

Sophie füllte die kleine Schale mit frischer Milch, nahm ihren Melkschemel und setzte sich in die Mitte des Stalls. Die Schale stellte sie zu ihren Füßen. Nur wenige Augenblicke später kamen die drei kleinen Kätzchen und begannen, gierig die Milch zu schlabbern.

Sophie beobachtete sie verzückt, dann blickte sie zur Stalltür und wurde ernst. Das ganze Dorf macht sich doch was vor, dachte sie. Glaubt denn wirklich einer, dass sie eine Chance hatten zu entkommen?

Sie selbst hatte sich jedenfalls nichts vorzuwerfen. Die Familie, die sie immer haben wollte, blieb ihr versagt, aber sonst gab’s wenig zu bereuen. Es hatte eben nicht sollen sein. Sie dachte an Gottfried, und ob er sie wohl erwarten würde.

Dann nahm Sophie eins der Kätzchen auf den Arm und streichelte es sanft …