XLII

Die Hölle hatte Johann List schließlich doch noch eingeholt.

So kam es ihm zumindest vor. Dies glich keinem der Schlachtfelder, auf denen er gekämpft hatte, dies glich dem gnadenlosen Abschlachten von Vieh. Die Ausgestoßenen übten ihre Art von Gerechtigkeit aus und machten keinen Unterschied. Greis, Weib, Kind – es gab kein Entrinnen. Diejenigen, die noch laufen konnten, fielen. Diejenigen, die noch lebten, starben. Zukunft und Vergangenheit, beides wurde in einem Handstreich getilgt.

Vielleicht hatte Elisabeth Recht gehabt, als sie es Gottesgericht genannt hatte.

Elisabeth. Er musste zu ihr, sonst –

Plötzlich sah er ein kleines Mädchen, das heulend am Rockzipfel seiner Mutter zog, die reglos im Schnee lag.

Johann wollte zu dem Mädchen laufen, aber eine andere Gestalt bewegte sich blitzschnell an ihm vorbei und kam ihm zuvor. Einen Augenblick später sah Johann nur noch ein lebloses Bündel bei seiner toten Mutter liegen.

Johann fiel auf die Knie. In diesem Moment verschloss sich etwas in ihm, eine menschliche Seite, die er sich während seiner Flucht mühsam wieder erkämpft hatte und die nicht zuletzt Elisabeth zur vollen Entfaltung gebracht hatte.

Er schloss die Augen, der Lärm um ihn herum wurde immer gedämpfter, und er wurde wieder zu dem, der er einst auf den Schlachtfeldern gewesen war.

Johann stand auf.

Steckte sein Messer ein und griff sich ein Beil.

Dann fiel er über die Ausgestoßenen her.

Elisabeth wurde mit voller Wucht gegen die Holzwand geschleudert. Benommen taumelte sie zurück. Verschwommen sah sie ihn:

Seine strähnigen Haare hingen ihm ins Gesicht, das von schwarzen Verästelungen durchzogen war. Seine Kleidung war zerfetzt, die Hände voll getrocknetem Blut. Er glich eher einem Dämon aus der Hölle als einem Menschen, aber ob Dämon oder Mensch – Jakob Karrer war zurückgekehrt, um seine Tochter zu holen.

Langsam schritt er auf sie zu …

Die Ausgestoßenen wussten nicht, wie ihnen geschah, als sich Johann schattengleich durch ihre Reihen kämpfte. Lautlos und tödlich, dabei geschmeidig wie ein Katze, so schnitt er sich durch ihre Leiber. Schritt für Schritt bahnte er sich seinen Weg, tötete jeden, der sich ihm in den Weg stellte.

Ungläubig starrten ihn die wenigen an, die noch nicht gefallen waren, Dorfbewohner und Ausgestoßene, einen Augenblick vereint.

Blutüberströmt, die Augen weit aufgerissen, die Waffen wie Werkzeuge gebrauchend – in diesem Augenblick kam Johann List ihnen wie der leibhaftige Tod vor.

Karrer packte Elisabeth am Hals und hielt sie in die Höhe, ihre Füße baumelten in der Luft. „Dein Platz ist bei mir!“, stieß er hervor.

Elisabeth rauschte das Blut in den Ohren, sie war knapp davor, ohnmächtig zu werden. Und doch weigerte sie sich aufzugeben, sog das bisschen Luft in die Lungen, das ihr noch geblieben war und blickte ihren Vater grimmig an.

„Niemals …“

Röchelnd fiel der Vermummte zu Boden. Johann stolperte um ihn herum, bog um die Ecke eines brennenden Hauses – und erstarrte.

Vor ihm stand Kajetan Bichter, der ihn entgeistert ansah und abwehrend die Hände in die Höhe riss. „Johann – ich hab’s euch doch allen gesagt – ihr hättet nicht hinaufgehen dürfen!“, rief er verzweifelt.

Langsam ging Johann auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen.

„Ihr habt euch alle vorm Herrgott versündigt! Und gegen sie – gegen die Auserwählten …“, flüsterte Bichter seine Rechtfertigung.

Johann packte Bichter am Hals. Pfeifend stieß der Pfarrer die Luft aus. „Johann … bitte nicht …“, stieß er gurgelnd hervor. „Hab Mitleid …“

List, bitte nicht.

Johann zögerte.

Der Schnitter im Totentanz, bleiche Gesichter, Blutfäden an der Wand, im Licht des Mondes …

Der blutrote Nebel, der ihn verschluckt hatte, seit er über die Ausgestoßenen hergefallen war, lichtete sich.

Verschont uns.

Und mit einem Male wusste Johann, was er zu tun hatte. Oder besser gesagt was er nicht tun durfte. Nicht noch einmal.

Er atmete tief durch, dann ließ er den wehrlosen Kajetan Bichter los.

Der Nebel verzog sich. Und mit ihm wurden auch die Stimme und die Bilder aus der Vergangenheit, die Johann so lange verfolgt hatten, zum ersten Mal schwächer, es kam ihm vor, als ob sie in seinem Inneren noch einmal aufflackerten und dann langsam vergingen …

Der Pfarrer fiel röchelnd zu Boden und hustete krampfhaft. Johann sah zu ihm hinunter. „Du hast den Albin auf dem Gewissen und alle verraten, die dir vertraut haben.“ Er deutete auf das sie umgebende Chaos, auf die lodernden Flammen und die Leichen, die den Boden übersäten. „Schau dich um, sieht so dein Himmelreich aus? Glaubst du wirklich, dass es das war, was Jacobus Kettler von dir wollte? Was Er von dir wollte?“

„Woher weißt du von Jakobus?“, stammelte Bichter.

„Ich weiß zumindest, dass er das hier nicht gewollt hätte.“

„Aber die Auserwählten –“

„Sind auch nur aus Fleisch und Blut“, beendete Johann den Satz für ihn. „Und wie alle Menschen sich selbst am nächsten. Was in Gottes Namen hast denn erwartet?“

Der Pfarrer kniete sich auf und packte Johann am Bein. „Johann, ich wollt doch nur –“

Johann maß ihn verächtlich. „Rechtfertigen kannst dich vor deinem Gott, Pfarrer. Und jetzt geh mir aus dem Weg.“ Er trat Bichters Hand weg und eilte weiter, auf das Haus von Elisabeths Großvater zu.

Kajetan Bichter sah sich langsam um, er hörte die Schreie der Dorfbewohner, sah das Feuer. Innerlich wusste er, dass Johann Recht hatte, er wusste, welche Schuld er auf sich geladen hatte. Wieso hatte er das Rad des Schicksals nicht angehalten, als es losgetreten worden war? Er hätte doch der Erste sein müssen, der sich ihm in den Weg stellte.

Er hatte ja nur gewollt – aber getan hatte er es nicht. Er hatte tun lassen.

Bichter begann zu weinen und hob den Kopf gen Himmel.

Gott, vergib mir. Ich flehe dich an, hilf mir.

Und dieses eine Mal schien Gott ein Einsehen mit dem verzweifelten Pfarrer zu haben. Wie als Antwort auf Bichters Flehen stürzte das brennende Haus neben ihm endgültig zusammen, wuchtige Holzbalken fielen herab und begruben den Pfarrer unter sich.

Kajetan Bichter lag still. Trotz der glühenden Schmerzen war er ruhig, er wusste, dass in wenigen Augenblicken alles vorbei sein würde. Er hoffte nur noch eines: dass er vor seinem Tod so etwas wie inneren Frieden empfangen würde. Zumindest dies sollte ihm der Vater doch nicht verwehren.

Er wartete.

Aber er fühlte nichts.

Dann wurde alles dunkel.