XII

„Schaut gut aus, das Wetter.“ Albin blickte erfreut aus dem Stubenfenster. „Dann können wir heute eisschießen, wie ausgemacht!“

„Hm …“, brummte Jakob Karrer unbestimmt, „wird wohl sein. Elisabeth, richt alles her. Aber nicht mehr als zwei Laib und eine Schwarte. Ein paar Äpfel kannst auch noch drauftun.“

„Ja, Vater.“ Elisabeth ging aus der Stube.

Karrer drehte sich zu Albin um. „Albin, ihr geht noch einmal in den Stall, und dann ab zum Schießen.“

„Sollen wir nicht den anderen zuerst auf der Wiese helfen?“

„Ihr tut, was ich euch gesagt hab. Und zwar schnell“, herrschte ihn Karrer an.

„Ist gut. Komm, Johann“, antwortete Albin hastig und gab Johann einen Wink. Die beiden verließen die Stube.

Als sie nach Mittag zur Wiese hinter dem Dorf kamen, bot sich Johann ein prächtiger Anblick. Die Wiese war geräumt worden und spiegelglatt, der brettharte Schnee glitzerte vor dem eisblauen Himmel. In die Mitte der ebenen Fläche war ein Pflock in den Boden gerammt worden. Rechts von der Wiese waren insgesamt vierzehn Eisstöcke aufgereiht, die Stiele aus Holz, die kreisrunden Untersätze aus Eisen.

Am linken Rand der Wiese waren hölzerne Tische und Bänke aufgebaut. Frisches Brot, sahnige Butter und Speck waren vorbereitet und ließen Johann das Wasser im Mund zusammenlaufen, heißer Wein mit Gewürzen verbreitete einen wunderbaren Duft.

Das ganze Dorf war versammelt. Kinder tobten durch den Schnee, Männer rauchten genüsslich ihre Pfeifen, Frauen schwatzten und lachten – es war eine gelöste Stimmung, wie Johann sie im Dorf noch nie wahrgenommen hatte.

Jakob Karrer ging zu Benedikt Riegler und Alois Buchmüller, die neben den Eisstöcken standen. Johann, Albin, Elisabeth und Sophie gesellten sich zu den Knechten und Mägden.

„Heut scheint ja ein jeder ganz friedlich zu sein“, meinte Johann und blickte zu Karrer.

Albin nickte. „Das Eisschießen ist schon was Besonderes. Geht auch nicht oft, weil normalerweise zu viel Schnee liegt. Aber wenn – dann macht’s allen Spaß.“

„Wann geht’s los?“

„Wenn der Herr Pfarrer da ist“, antwortete Sophie an Albins Stelle. „Ohne ihn geht gar nichts. Auch wenn man sich fragt –“

„Sophie! Reiß dich zusammen und sprich nicht ungebührlich über unseren Pfarrer!“, fuhr Elisabeth sie an.

Die wurde rot. „Entschuldigung. Ihr habt Recht.“

„Kennst die Regeln überhaupt?“ Albin stieß Johann in die Seite.

„Glaub schon … wer mit den Stöcken am nächsten beim Pflock ist, hat gewonnen, oder?“

„Genau. Zwei Gruppen spielen gegeneinander, nach jeder Runde wird ausgezählt, wer am nächsten ist. Die Gewinner bekommen – na ja, früher haben wir um Geld gespielt, aber der Pfarrer sieht das nicht mehr so gern. Jetzt bekommen die Sieger halt eine Freirunde in der Schenke, aber mit allem, was sie wollen. Und weil der Riegler meistens gewinnt, ist der Buchmüller nach so einem Abend dann leer gefressen und g’soffen.“

Die anderen Knechte lachten.

„Der Riegler ist so gut?“, fragte Johann und blickte zum Dorfvorsteher.

„Der beste …“

Endlich kam Kajetan Bichter zur Wiese geeilt. Er nickte allen kurz zu, dann stellte er sich vor die Eisbahn, sodass ihn jeder sehen konnte.

Die Stimmen wurden leiser, dann war es ruhig.

Der Pfarrer wirkte fahrig, er hob die Hand. „Wie alle Jahre erkläre ich das Eisschießen für eröffnet. Spielt ehrlich vor Gott und der Jungfrau Maria. Amen!“

„Amen!“, antworteten die Dorfbewohner einstimmig, viele etwas spöttisch, wie es Johann vorkam. Allzu viel Respekt schien Kajetan Bichter in seiner Gemeinde nicht zu genießen, aber vielleicht täuschte Johann sich auch.

„Also gut, dann wollen wir beginnen.“ Benedikt Riegler klatschte in die Hände. „Der Karrer Franz wählt die einen, ich die anderen. Kannst wie immer anfangen, Franz, nutzt dir eh nichts.“ Ein dreistes Gewinnerlächeln stand Riegler im Gesicht, als er diese Worte sprach.

„Hochmut kommt vor dem Fall“, mahnte der Pfarrer, aber er sah nicht einmal her, sondern blickte gedankenverloren in die Wälder hinauf.

„Da mögt Ihr wohl Recht haben. Also Franz – was ist jetzt?“

„Ich nehm die gleichen wie immer. Albin, Ignaz, Martin –“ er deutete noch auf drei andere Knechte.

Albin blickte von Franz Karrer zu Johann und wieder zurück. Dann grinste er. „Franz, mir ist heute nicht so gut. Kann der Johann statt mir spielen?“

„Willst lieber gleich Wein saufen, was? Aber mir soll’s recht sein.“ Franz musterte Johann. „Kannst denn spielen?“

„Zu mir hat er gesagt, er kann’s“, fiel Albin Johann ins Wort, der ihn jetzt wütend anblickte.

„Na dann, her zu mir.“ Franz winkte Johann achselzuckend zu sich.

Der zögerte, alle schauten ihn an.

Keine Wahl. Aber handle weise.

Johann nickte Franz Karrer zu und trat zu ihm und den anderen Knechten. Er sah Albin, der bereits einen Becher Wein in der Hand hatte – Bier wurde erst nach dem Spiel ausgeschenkt, weil dem Gewinner das erste Bier zustand – und ihm frech zuprostete. Jetzt zeig, was du kannst, schien diese Geste zu besagen.

Das würde er. Und nach dem Spiel würde er sich den Burschen vorknöpfen, dachte er grimmig.

Auch Benedikt Riegler hatte seine Männer schnell zusammengestellt. Dann begann das Spiel.

Alle schossen nacheinander ihren Stock, so nahe an den Pflock, wie sie konnten. Benedikt Riegler ließ seinen Stock so gekonnt über den eisharten Schnee schlittern, dass er genau beim Pflock zu liegen kam. Riegler lächelte zufrieden, dann wandte er sich an Johann, dessen Schuss noch ausstand.

„Bitte – Herr List.“

Johann ignorierte den Spott in der Stimme des Dorfvorstehers. Er betrachtete den Stock in der Hand. Prächtig gearbeitet, reich verziert und noch dazu perfekt ausbalanciert. Hier war ein Könner am Werk gewesen.

Das würde es leichter machen.

Er wog den Stock kurz in seiner Hand, schwang ihn dann locker probeweise vor und zurück.

„Wird das heut noch was?“, fragte Benedikt Riegler gelangweilt. Ein paar der Männer, die neben ihm standen, lachten.

Johann schwang den Stock nach hinten, dann nahm er Anlauf und schoss.

Der Stock glitt über den Boden, speckte Rieglers Stock weg und blieb so nahe beim Pflock liegen, dass er ihn berührte.

Niemand sprach ein Wort. Dann hörte man die giftige Stimme der alten Salzmüller. „Was wirst denn so rot im G’sicht, Riegler? Hast Angst, dass du verlierst?“

Alle lachten. Riegler blickte Johann misstrauisch an, der zuckte mit den Schultern. „Glückstreffer“, sagte er beiläufig.

„Natürlich …“, entgegnete Riegler. „Hast schon öfters gespielt?

„Ein-, zweimal zugeschaut.“

„So so … wollen wir hoffen, dass du nicht dreimal zugeschaut hast.“ Er drehte sich um. „Auf ein Neues.“

Das Spiel ging weiter. Mal gewannen Rieglers Männer, dann wieder Franz und die Seinen, hauptsächlich deshalb, weil der Dorfvorsteher verunsichert schien und öfters daneben schoss. Die Stimmung war nichtsdestotrotz sehr ausgelassen, die älteren Kinder folgten dem Spiel, die kleineren tollten durch den Schnee. Die Männer und Frauen, die nicht spielten, kommentierten das Geschehen und wetteten zum Spaß auf den Ausgang des Schießens.

Elisabeth und Sophie beobachteten Johann, der eben wieder einen perfekten Schuss hingelegt hatte.

„Der kann das aber, was?“, sagte Sophie beeindruckt.

„Scheint so“, antwortete Elisabeth bewusst unbeteiligt. Jakob Karrer, der neben ihr stand, ließ Johann nicht aus den Augen.

Schließlich war es so weit. Die letzte Runde wurde gespielt, es stand unentschieden, und nur noch Riegler und Johann hatten zu schießen.

Der Dorfvorsteher nahm als Erster Anlauf. Alle verfolgten gespannt seinen makellosen Schuss, der den Stock neben dem Ziel locker zur Seite schlug und genau beim Pflock liegen blieb.

Benedikt Riegler gab den Weg für Johann frei. „Mach schon, Schmied.“ Er wirkte nervös.

Johann trat an. Wieder ließ er den Stock locker hin und her schwingen, holte dann aus, nahm Anlauf – alle hielten den Atem an –, ließ den Arm mit dem Stock vorschnellen, der Stock glitt pfeilschnell über den Boden und –

– ging fehl und blieb neben Rieglers Stock liegen.

Niemand hatte gesehen, dass Johann dem Stock beim Loslassen aus dem Handgelenk heraus noch eine kleine Drehung nach links gegeben hatte, sodass der Schuss fehlgehen musste.

Handle weise.

Nur einer Person war die unmerkliche Bewegung aufgefallen. Und die blickte Johann jetzt grimmig an …

Dann brandete Jubel auf, alle klatschen für den Sieger. Riegler ging zu Johann, ein selbstgefälliges Strahlen übers ganze Gesicht. „Du warst gut, nicht gut genug, aber gut. So hat mich schon lange keiner mehr herausgefordert. Hast zwar nicht gewonnen, aber das erste Bier kriegst trotzdem.“

Er schenkte Johann ein Bier ein, dann sich selbst. „G’sundheit.“

„Euch auch, Herr Riegler.“

Die beiden ließen sich das Bier in die Kehlen rinnen. Riegler rülpste herzhaft, dann wandte er sich an die Dorfbewohner. „G’sundheit euch allen. War ein schönes Spiel. Und jetzt lasst es euch schmecken“, rief er ihnen zu.

Nun holten sich auch alle anderen Essen und Trinken.

Albin und Sophie gingen vergnügt zu Johann, Brot und Speck in der Hand.

„Gut hast g’spielt“, sagte Albin anerkennend. Sophie umarmte den überrumpelten Johann und drückte ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. „Den hast dir verdient“, erklärte sie grinsend und löste sich wieder von ihm.

„Ich dank euch.“

„Ja, wirklich nicht schlecht für einen, der bisher nur zugeschaut hat“, sagte Albin schmatzend.

„Albin – “

Dieser sah Johann mit vollem Mund an.

„Hast Glück, dass es gerade so gut schmeckt. Sonst würd ich dich jetzt über die Eisbahn schießen.“

„Geh Johann. Hast es gut können, also was willst?“ Albin grinste. „Ich hab doch gewusst, dass du –“

„War ja fast schon Glück, dass du den letzten Schuss versaut hast, Knecht.“ Jakob Karrer tauchte vor ihnen auf, die drei verstummten. „Wenn nicht, wär unser guter Dorfvorsteher –“ er spuckte aus, „nicht so gut gelaunt.“

„Hab mein Bestes gegeben“, entgegnete Johann ruhig.

Karrer trat ganz dicht an ihn heran. „Das glaub ich dir sogar … Aber für mein Haus langt’s, wenn du dein Zweitbestes gibst. Verstanden?“

Johann nickte.

Karrer drehte sich um und ging zum Tisch mit dem Essen.

„Da haben sich zwei gefunden“, kommentierte Albin.

„Passiert mir nicht das erste Mal …“, entgegnete Johann leise.

Die Sonne stand schon tief, und obwohl es schneidend kalt war, dachte noch niemand daran, das Fest zu beenden. Mittlerweile hatten alle gegessen, die Kinder rutschten auf der Wiese herum, immer im Auge ihrer Mütter. Die Männer tranken Schnaps und rauchten.

Dann hörten sie es.

Alle verstummten.

Etwas heulte aus den Wäldern herab. Es war ein unheimlicher, klagender Laut, der an- und abschwoll und in den Ohren wehtat.

Johann konnte das Heulen nicht einordnen. Ein Wolf? Aber dafür war es fast –

Plötzlich begann eines der kleinen Kinder zu weinen. Der Laut aus den Wäldern brach ab, die Mutter nahm das schreiende Kind in den Arm. Alle fingen wieder an zu sprechen, aber sehr gezwungen, die gute Stimmung war dahin. Die Frauen begannen, die Tische abzuräumen.

Das Fest war zu Ende.

Johann blickte in die Wälder hinauf, aus denen das Heulen gekommen war. Glitzernd weißer Schnee, eisblauer Himmel, der sich jetzt in der Dämmerung langsam orange färbte – eine schöne Szenerie, über die sich schlagartig ein Schatten gelegt hatte.

Ein Schatten, der die Berge feindlich und den Schnee tödlich kalt wirken ließ.

Der imstande war, einem ausgelassenen Fest binnen weniger Momente alles Leben auszusaugen.

Ein Schatten – den zu kreuzen Johann gezwungen sein würde, das wusste er plötzlich instinktiv. Er fröstelte unwillkürlich, dann ging er zu den anderen, um beim Abbau der Stühle und Bänke mitzuhelfen.