VIII

Ein kleines, tief verschneites Dorf tat sich vor Johann auf, wie eins dieser tragbaren Dioramen, die er einmal bei einem Schausteller gesehen hatte, vor langer Zeit.

Die Höfe des Dorfes waren alt und verwittert, rußgeschwärzt und schmucklos, und sie schienen sich vor der klirrenden Kälte und den weißen, schroffen Bergen, die sie umgaben, zu ducken. Die massiven Eiszapfen zeugten davon, dass der Winter mittlerweile alles fest im Griff hatte. Rauch quoll aus den Schornsteinen, aber keine Menschenseele war zu sehen, und über allem lag Stille, noch unmittelbarer als in der Kammer, noch beunruhigender.

Johann sah sich um: Die Wälder hinter dem Dorf kletterten steil den Berg hinauf, die Baumgrenze war wegen der tief hängenden Wolken nicht auszumachen. Der Talkessel wirkte bedrückend, Johann kam sich vor wie in einer Falle. Nur Menschen wählen einen solchen Platz, dachte er, kein Tier würde sich freiwillig in die Ecke zwängen.

Langsam ging er den Weg entlang, der zwischen den Häusern hindurchführte. Seine Schritte knirschten auf dem hart gefrorenen Schnee, ein Geräusch, unnatürlich laut, fast störend.

Als Johann die Häuser auf beiden Seiten näher betrachtete, blieb er unwillkürlich stehen: Wieder starrten ihn Symbole an – dieselben wie an der Decke der Kammer und am Heustadl –, tief in die Balken über Türen und Fenster geschnitten, manchmal mit roter Farbe verstärkt.

Sie zogen ihn geradezu hypnotisch an, ließen ihn den eisigen Wind, der plötzlich aufkam, nicht spüren, obwohl er sein Gesicht brennen und seinen Atem gefrieren ließ …

Johann musste sich fast gewaltsam losreißen, zwang sich weiterzugehen.

Mittlerweile wurde es dunkler, die letzten Sonnenstrahlen verschwanden hinter den schroffen Bergen. Johann beschleunigte seine Schritte; irgendetwas an diesem Dorf, an den Bergen, an der Stille war unheimlich. Er hatte sich immer auf seine Sinne und seinen Instinkt verlassen können, und sie sagten ihm nur eines, seit er durch das Dorf schritt.

Verlass diesen Ort so schnell wie möglich.

Aber er beschloss, nicht darauf zu hören. Das mindeste war, dass er seine Retter ausfindig machte und ihnen als Dank seine Dienste anbot. Wenn sie überhaupt Bedarf hatten für einen –

Schmied. Du bist jetzt Schmiedgeselle, vergiss das nicht.

Für einen Schmiedgesellen. Johann musste unwillkürlich lächeln.

Dann hörte der Weg mit einem Male auf, Johann stand vor einer düsteren Kirche und einem Friedhof, der sie ringförmig umgab. An vielen der verschneiten Gräber waren kleine Leuchten angebracht, die schwache Lichtkegel über den alten Friedhof warfen. Sogar einige verwitterte Lichtersteine lagen an der heruntergekommenen Außenwand der Kirche, wie Johann sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er ging zu den Steinen und beugte sich hinunter: Die Dochte in den Wachsmulden der flachen Steinplatten waren zerfleddert, der Lichtschein nur schwach – und doch schienen die alten Steine zu diesem Tal zu passen.

Die Kirche und der Friedhof markierten das Ende des Dorfes, dahinter erhob sich nur mehr der Wald.

Es war dunkel geworden, einzig die Leuchten am Friedhof spendeten ihr schwaches Licht, flackerten im kalten Wind. Johann fror, er fühlte sich wieder schwächer. Es musste doch jemand in diesem Dorf sein, und sei es nur, um die Kerzen am Friedhof anzuzünden. Johann sehnte sich nach einem Gespräch, einem guten Essen, nach der Wärme eine Frau – all die einfachen Freuden, die er früher so selbstverständlich genossen hatte.

Die Kälte fuhr ihm in die Glieder. Johann beschloss, wieder ins Haus zurückzukehren. Er konnte Feuer machen und noch etwas schlafen und am nächsten Tag weitersuchen.

Gerade als er sich umdrehte, um sich auf den Rückweg zu machen, hörte er leises Gemurmel, wie von menschlichen Stimmen. Es schien aus einem wuchtigen Bauernhaus links des Friedhofs zu kommen. Johann war erleichtert und ging schnellen Schrittes auf die massive Eingangstür zu.

Über der Tür war ein dicker Ast angenagelt, in den eine grobe Fratze geschnitzt war, die Johann unheilvoll angrinste. Der verzerrte Mund war blutrot bemalt, der Anblick furchterregend und alles andere als einladend.

Die Stimmen wurden lauter. Ein Refugium Lebender, oder gar Überlebender, ging es Johann spontan durch den Kopf, warum, wusste er nicht.

Dann öffnete er die Tür …

Rauchige, dicke Luft, ein geschwärzter Raum, der von den wenigen Petroleumfunzeln nur schwach erhellt wurde – Johann befand sich in der Schenke des Dorfes.

Es wurde still, die Gespräche verebbten, nur das Prasseln des großen Herdfeuers in der Küche war zu hören, und der Wind, der durch den Kamin fuhr.

Von einem größeren Tisch in der Mitte starrte eine Gruppe Männer Johann an. Sie trugen ihre Sonntagskleidung, dicke Filzjanker mit Hirschhornknöpfen, darunter ein sauberes Hemd, das am Hals mit einem bunten Tuch gebunden war. Vor ihnen standen schwere Tonkrüge mit Bier.

Abseits an den anderen Tischen und um den Ofen saßen die Frauen, Kinder und das Gesinde. Die Frauen waren in reich bestickte, aber dunkelfarbige Dirndln gekleidet, die einer Trauertracht glichen. Das Gesinde hatte schlichte, saubere Hemden und Blusen zum Schnüren an, ähnlich Johanns Hemd, die Mägde verbargen ihre Haare unter einfachen Kopftüchern.

Johann blieb regungslos stehen, ließ die neugierigen Blicke der Anwesenden an sich abprallen. Niemand sagte ein Wort.

Plötzlich durchbrach eine verärgerte Männerstimme die Stille: „Tür zu, in Gott’s Namen!“

Johann schloss schnell die Tür hinter sich. Dann herrschte ihn einer der Männer vom mittleren Tisch an, ein dicker, rotwangiger Bauer: „Was willst noch hier? Scher dich zum Teufel!“

Einige der Männer am Tisch stimmten seinen Worten mit leichtem Nicken und Gemurmel zu. Johann kannte diese Sorte von Bauern: genug Besitz um unzufrieden zu sein, aber zu wenig um wirklich das Sagen zu haben. Nur einer der Männer sah ihn nicht direkt an, ein wuchtiger, brutal wirkender Mann, gut 50 Lenze alt. Er hatte es nicht eilig. Dafür würden seine Worte umso mehr Gewicht haben: Dieser Bauer hatte das Sagen im Dorf, das spürte Johann.

„Ich suche den, der mich aufgenommen hat“, antwortete Johann unsicher.

Seine Worte lösten ein Gemurmel unter den Dorfbewohnern aus, manche der Frauen wirkten erschrocken ob des Widerspruchs, die Miene des rotwangigen Mannes verfinsterte sich. Aber bevor er etwas sagen konnte, hob der brutal wirkende Bauer die Hand.

„Dann stehst wohl in meiner Schuld“, knurrte er gefährlich ruhig. Seine Stimme kam Johann unangenehm bekannt vor.

„Und wenn er einer von ihnen ist?“, zischte eine alte Frau aus der Dunkelheit des letzten Tisches und spuckte zu Boden.

„Werden wir gleich sehen, Salzmüllerin“, antwortete wieder der rotwangige Mann und fuhr Johann grimmig an: „Zieh dein Hemd aus!“

Johann zögerte.

Der Bauer sprang auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass die Krüge bebten. „Bist taub?“, schrie er Johann an.

Langsam zog dieser nun sein Hemd aus. Die Männer musterten ihn misstrauisch, die Frauen verstohlen. Dann verstummte das Gemurmel im Raum mit einem Mal.

Alle konnten es sehen: Johanns Brust und Rücken wiesen grobe Narben auf.

„Schön ist er ja nicht grad“, ätzte eine weibliche Stimme, den Frauen entfuhr ein gepresstes Kichern. Johann fühlte sich nackt und ausgeliefert, alles, was passiert war, seit er die Tür zu diesem Raum geöffnet hatte, entzog sich seinem Verständnis, wirkte wie ein seltsamer Traum. Er nahm sein Hemd und wollte sich gerade wieder anziehen, da zischte es erneut aus der Ecke: „Und unter dem Verband?“

Bekräftigendes Gemurmel kam auf, erzwang geradezu einen weiteren Befehl. „Runter damit!“, fuhr ihn erneut der Bauer an.

„Die Wunde ist noch nicht ganz –“, weiter kam Johann nicht. Der Bauer kam blitzschnell auf ihn zu und packte ihn am Hals. Er drückte ihn gegen die Wand und riss ihm mit einem schnellen Ruck den Verband ab. Johann durchfuhr ein schneidender Schmerz, ein Großteil der verkrusteten Wunde musste am Verband hängen geblieben sein. Er spürte, wie eine warme Flüssigkeit von der Wunde abwärts rann.

Johann fühlte Zorn in sich hochsteigen, er hätte den grobschlächtigen Bauern, der ihn immer noch festhielt, wie eine lästige Fliege abschütteln können – aber er tat es ganz bewusst nicht.

Nur der Narr prahlt mit seinem Können.

Der Bauer blickte wütend in die Runde „Seid’s jetzt zufrieden? Er hat’s nicht!“ Er drückte Johann den abgerissenen Verband in die Hand und begab sich wieder auf seinen Platz am Tisch. „Du wirst ab jetzt für den Jakob Karrer arbeiten, bis deine Schuld getilgt ist“, befahl er Johann. „Und zieh dich an, in Gott’s Namen!“ Er blickte Jakob Karrer an, dieser nickte kurz, wendete sich dann an Johann und zeigte auf den Gesindetisch. „Dort ist dein Platz!“

Johann biss die Zähne zusammen. Solchen Leuten, Schinder durch und durch, hatte er eigentlich aus dem Wege gehen wollen, aber es schien ihm einfach nicht zu gelingen, auch in diesem Dorf nicht. Obwohl es ihn in den Händen juckte, dem Schinder von Anfang an zu zeigen, mit wem er sich eingelassen hatte, tat er es nicht. Dafür war noch Zeit, einstweilen gab es anderes zu tun.

Johann hatte immerhin einen Engel zu finden.

Johann setzte sich an den Tisch, band sich den Verband notdürftig um die Wunde und zog sich sein Hemd an. Langsam setzten im Schankraum die Gespräche wieder ein.

Am Gesindetisch saßen zwei Knechte und drei Mägde, alle von der harten Arbeit gezeichnet. Sie blickten Johann etwas skeptisch an. Schließlich ergriff der Knecht, der Johann am nächsten saß, das Wort.

„Ich bin der Albin.“ Seine Worte klangen freundlich, er hatte ein freches und aufgewecktes Wesen. Seine kurzen, weißblonden Haare unterstrichen diesen Eindruck und ließen ihn Jahre jünger aussehen als die dreißig Lenze, die er am Buckel hatte.

Johann stellte sich vor und nickte Albin und den anderen zu. Die sahen sich untereinander kurz an, dann räusperte sich der Knecht neben Albin.

„Ich bin der Virgil“, stellte er sich vor. „Und das sind die Sophie, die Vroni und die Anna. Die Sophie ist auch beim Karrer.“

„Hast es also doch überlebt –“, grinste Sophie.

Virgil lachte. „Und noch dazu Glück gehabt, der Karrer hätt’ dich wohl vor seinem Haus verrecken lassen.“ Er machte eine kurze Pause. „Aber sie kann auch starrköpfig sein.“

„Sie?“ Johann schaute ihn fragend an.

Virgil überging die Frage und horchte ihn weiter aus. „Was hast denn gelernt?“

„Ich bin Schmiedgeselle.“

„Schmied brauchen wir hier keinen.“

„Keine Sorge, der Karrer wird schon Arbeit für ihn haben“, warf Albin ein.

„Hab mir schon gedacht, dass mir hier die Zeit nicht lang wird“, meinte Johann. Er wandte sich wieder an Virgil. „Wen hast denn gemeint mit sie?“

Der Knecht zuckte mit den Schultern. „Heute ist sie nicht da, der Karrer –“

„Halt’s Maul, sonst hört er dich noch!“, unterbrach ihn Albin. Er sah Johann in die Augen. „Die lernst schon noch kennen. Und sei nicht so neugierig. Das mögen wir hier nicht.“

Albins Worte klangen ehrlich. Johann nickte, dann ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, blieb an dem großen Tisch in der Mitte hängen.

„Da drüben sitzen die ganz Wichtigen …“, kommentierte Albin, der Johanns Blick gefolgt war, ironisch. „Der dich zuerst angebrüllt hat, heißt Alois Buchmüller. Ist der Wirt, eigentlich ganz redselig. Der neben ihm mit dem roten Schädel ist der Benedikt Riegler, der Dorfvorsteher. Der größte Bauer hier. Der Magere neben ihm, der Kajetan Bichter, ist unser Pfarrer. Bisschen ein Eigenbrötler, aber halt von Gottes Gnaden.“

„Amen!“, kicherte Vroni. Die anderen Knechte und Mägde konnten sich das Grinsen nicht verhalten.

„Den Karrer hast du ja schon kennen lernen dürfen. Der zweitgrößte Bauer hier, ein echter Menschenfreund. Und der daneben ist sein Bruder, der Franz, eigentlich ganz umgänglich, versteht keiner, wie die Brüder sein können.“

Alois Buchmüller ging am Gesindetisch vorbei. „Wirt, ein Bier für den Johann, ich zahl’s!“, rief Albin lässig. Buchmüller knurrte etwas Unverständliches, machte kehrt, kam nach kurzer Zeit mit einem großen Krug Bier wieder zurück und knallte ihn vor Johann hin.

„Geht aufs Haus, Neuer.“

Johann nahm den Krug, prostete dem Wirt und den anderen zu und leerte das halbe Bier in einem Zug.

„Der ist recht“, schmunzelte Virgil.

„Hab immer noch Durst nach dem Fieber“, grinste Johann und überspielte so den kurzen Schwindelanflug, den ihm der Alkohol bescherte. Dann wurde er wieder ernst. „Was sollte das mit dem Hemdausziehen?“

Niemand antwortete, alle sahen betreten weg.

„Vergiss es besser.“ Albin klopfte ihm auf die Schulter.

Johann blickte ihn nachdenklich an.

„Was machst denn nur mit dem da?“, wollte Benedikt Riegler von Karrer wissen.

„Na was wohl? Er wird bei mir arbeiten“, entgegnete Karrer gereizt.

„Hast doch schon genug Knechte, Jakob!“, gab Riegler nicht auf. „Willst am End noch mehr haben als ich?“

„Mehr als du? Es ist Winter, ich hab im Moment nur den Albin und die Sophie. Ihr wisst’s selber, dass wir zu wenig Gesinde haben, und der heurige Winter wird der härteste seit Jahren.“

„Wenn du genug zu fressen hast für alle …“, bohrte Riegler weiter.

„Lass das meine Sorge sein und kümmer dich um deinen eigenen Kram!“ Karrer nahm einen Schluck Bier und knallte den Krug auf den Tisch. „Und jetzt lasst es gut sein.“

„Vielleicht sollten wir’s diesmal aber nicht gut sein lassen, Jakob.“ Franz Karrer hatte diese Worte ausgesprochen. Die anderen am Tisch blickten in alle Richtungen, nur nicht zu Jakob Karrer, der sich langsam und unheilvoll seinem Bruder zuwandte.

„Und warum nicht, werter Herr Bruder?“

Franz war blass geworden, aber er nickte. „Wir brauchen niemanden mehr im Dorf, das weißt so gut wie ich. Und schon gar keinen Fremden. Je weniger davon wissen, desto –“ Weiter kam er nicht. Jakob Karrer packte blitzschnell die Hand seines Bruders und drückte brutal zu, so fest, dass die Knöchel weiß wurden. Franz stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, Karrer ließ ihn wieder los.

„Widerspruch steht dir nicht. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht, mein lieber Bruder.“

Franz rieb sich seine Hand, blieb aber stumm.

„Bruderzwist ist der Familie nicht gedeihlich“, sagte Kajetan Bichter salbungsvoll.

„Spart Euch die Predigt für Eure nächste Messe, Hochwürden.“ Für Karrer war das Thema damit abgeschlossen. Wo würde das denn hinführen, wenn man ihn am Wirtshaustisch in Frage stellte?

Er drehte sich um und blickte zum Gesindetisch hinüber. Finster betrachtete er Johann.

„So, da – euer Mus.“ Buchmüller stellte die große Pfanne, aus der es intensiv nach Butter und Schmalz roch, mit einem Krachen auf den Pfannenknecht, der mitten auf dem Tisch stand.

Albin grinste Johann an. „Hast Glück gehabt, dass du am ersten Sonntag im Monat aufgewacht bist – da wird beim Wirt gegessen.“ Er nahm einen Holzlöffel aus der Lade unter dem Tisch heraus, gab ihn Johann und holte noch einen.

Auch die anderen hatten ihre Löffel in der Hand, warteten aber noch mit dem Essen. An den übrigen Tischen wurde ebenfalls abgewartet – der ganze Raum blickte auf Kajetan Bichter, den Pfarrer. Der stand auf, räusperte sich in die Stille hinein, machte dann langsam ein Kreuzzeichen. Die anderen taten es ihm nach. Bichter begann ein Gebet zu murmeln, Johann musterte das Geschehen aus dem Augenwinkel. Wo die Not am größten, ist der Glaube am stärksten, das hatte er schon vielerorts beobachten können. Hier schien es aber von allem genug zu geben, gemessen an manch anderen Dörfern, trotzdem muckten nicht einmal die kleinsten Kinder bei dem langen Gebet auf.

Ein gemeinschaftliches Amen beendete das Ritual, und alle begannen zu essen.

Johann langte kräftig zu. Er blickte zum Tisch von Jakob Karrer, sah, wie der Bauer seine Zähne in ein saftiges Stück Fleisch schlug, in der Hand ein großes Stück knuspriges Brot. Dann wandte er sich kauend an Albin. „Die Herren geben uns ja das Beste ab und begnügen sich selbst nur mit dem Fleisch.“

Albin zuckte mit den Schultern. „Wo kommst du denn her? Weißt nicht, wie’s in Tyrol ausschaut, seit die Bayern durchgezogen sind? Sei froh, dass du überhaupt was kriegst.“ Er legte den Löffel weg, rülpste und strich sich über den Bauch. „Ah, das war nötig. Wirt! Noch zwei Bier!“

Nach dem Essen wurde es ruhig im Raum, die Stimmen waren gedämpft, auch Johann fühlte sich von der Wärme und dem einfachen, aber nahrhaften Mus schläfrig. Er blickte durch den Raum, dann zu Karrers Tisch in der Mitte. Die Wichtigen, wie Albin sie spöttisch genannt hatte, lungerten träge auf ihren Stühlen, die Augen geschlossen.

Nur einer blickte Johann durchdringend an – Kajetan Bichter, der Pfarrer. Johann hätte schwören können, dass Angst im Blick des Pfarrers lag. Angst vor ihm?

„Trinkst auch einen Schnaps mit, Johann?“ Albins Stimme klang herausfordernd.

Johann wandte sich wieder seinem Tisch zu. „Dank dir, den kann ich jetzt brauchen.“

Albin nickte zufrieden. „Buchmüller! Eine Runde!“, rief er dem Wirt zu, der hinter der Schank stand.

Sophie, ein munteres Ding mit langen schwarzen Haaren, die unter dem Kopftuch hervorquollen, sah Johann herausfordernd in die Augen. „Pass auf, unser Krautschnaps ist nur was für gestandene Mannsbilder.“

Der Wirt brachte jedem am Tisch ein kleines, verziertes Trinkgefäß aus Zinn. „Wohl bekomm’s!“, sagte er lakonisch in Johanns Richtung. Der nickte ungerührt, hob das Gefäß wie alle anderen.

„Auf die G’sundheit.“ Johann leerte den Schnaps in einem Zug.

Etwas scharf, aber nicht schlecht, dachte Johann. Einen Augenblick später entfaltete der Schnaps sein volles Aroma, und Johanns Speiseröhre begann von der Kehle abwärts zu brennen. Tränen schossen ihm in die Augen, er musste kurz aufstoßen. Dann folgte ein faulig gegorener Geschmack, der vom Rachen in die Nase quoll. Plötzlich war der schlechte Geschmack verflogen, auch das Brennen, übrig blieben ein wohliges Wärmegefühl und ein leichtes Sausen im Kopf.

Interessant.

Johann bemühte sich, keine Miene zu verziehen, und stellte das Trinkgefäß wieder ab. Die anderen am Tisch blickten ihn fassungslos an.

„Hab noch nie einen gesehen, der sich beim ersten Mal nicht halberts angespieben hätt“, meinte Sophie mit einem Anflug von Respekt in der Stimme.

Johann grinste. „Kann mich halt beherrschen.“

Albin beugte sich zu Johann vor. „Aber wenn du ihn so gut verträgst, kann ich dir ja noch einen einschenken, was meinst?“

„Dann kannst mich hier aber raustragen“, entgegnete Johann trocken.

Sophie rückte näher zu Johann hin. „Und in meine Kammer bringen.“

Johann spürte, wie sich ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte und langsam nach oben wanderte. Auf den Gesichtern der anderen Knechte machte sich ein Grinsen breit, Albin verdrehte die Augen. „Kannst ihm nicht ein paar Tag Zeit geben, bis er sich hier eingelebt hat, Sophie?“

Die Magd drückte Johanns Oberschenkel. „Ich kann dafür sorgen, dass du dich hier schneller einlebst, als d’ glaubst.“

Virgil und Albin lachten wissend. Johann versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und wechselte das Thema. „Sitzt bei euch immer das ganze Dorf in der Schenke beisammen?“

Sophie zog die Hand blitzschnell zurück und sah Johann unruhig an. „Nur wenn’s draußen Winter wird, weil –“

Ein Schatten fiel über den Tisch, Sophie verstummte.

Jakob Karrer stand vor ihnen. „Wir gehen!“ Albin und Sophie standen gehorsam auf, Johann blieb sitzen. „Du auch!“ Karrer hob den knorrigen Stock, den er in der Hand hatte, und tippte damit auf Johanns Brust. Dieser trank den letzten Schluck Bier aus und folgte Albin und Sophie aus der Schenke in die eisige Nacht hinaus. Jakob Karrer ging als Letzter, die Tür fiel krachend hinter ihm zu.

Die anderen im Raum sahen ihnen nach.

„Das wird dem Karrer noch leid tun“, spottete die alte Salzmüller und spuckte wieder zu Boden. „Und uns auch.“

Niemand antwortete.

Vor der Schenke war es schneidend kalt, der Mond tauchte das verschneite Dorf in eisiges Blau. Johann folgte Karrer, Albin und Sophie den Dorfweg entlang, zurück in Richtung des Hauses, wo er aufgewacht war.

Die Schritte knirschten in der nächtlichen Stille.

Dann kamen sie zu einem größeren Bauernhaus, schmucklos wie die anderen. Johann war sich sicher, dass es das Haus war, an dessen Tür er mit letzter Kraft geklopft hatte.

Karrer öffnete die schwere Eingangstür und trat ein, sein Gesinde folgte ihm. „Albin, du nimmst ihn mit und zeigst ihm alles. Schlafen tut er in deiner Kammer.“

„Ist recht, Herr.“

Karrer trat nahe zu Johann hin, sah ihm in die Augen. „Du machst mir keinen Ärger – ich kenne Leut deines Schlages. Wenn doch, prügle ich dich durch das Dorf wie einen Hund.“

Johann sah ihn ungerührt an. Karrer grinste, wandte sich ab und ging durch die Labe in das hintere Zimmer. „Und lass die Finger von ihm, Sophie, verstanden?“, befahl er nachdrücklich, dann knallte er die Tür zu.

Sophie zeigte ihm hinter vorgehaltener Hand die Zunge.

„Der hat dich sofort ins Herz geschlossen, Johann“, sagte Albin leise.

Johann nickte. „Ich ihn auch.“

„Komm, wir gehen zu Bett. Morgen müssen wir früh raus.“

Albins Kammer war winzig, ein schlichter Raum, in dem sich nur zwei schmale Betten und zwei Truhen befanden. Durch das vereiste Fenster konnte Johann die nächtlichen Wälder und den Mond über dem Gebirge sehen.

Albin setzte sich auf eines der Betten und beobachtete ihn. „Noch kannst abhauen …“

„Ich bin noch immer für meine Schuld eingestanden“, antwortete Johann bestimmt und legte sich auf sein Bett.

„Die Narben auf deiner Brust?“

„Würdest es nicht wissen wollen …“

Albin wartete auf mehr, aber als er merkte, dass Johann nichts weiter sagen wollte, streckte er sich lang aus und schloss die Augen. „Na dann …“

Bald verriet gleichmäßiges Atmen, dass Albin eingeschlafen war. Johann war zwar müde, aber zu viele Gedanken strömten durch seinen Kopf. Was geschah in diesem Dorf? Warum dieses gemeinsame Essen? Warum hatte er seinen Oberkörper zeigen müssen?

Wovor hatten die Dorfbewohner Angst?

Es gab keine Antworten, zumindest noch nicht. Johann wickelte sich in die grobe Decke und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Jakob Karrers Haus war vom Waldrand durch eine verschneite Wiese getrennt, die Bäume warfen im Mondlicht ihre Schatten den Hang hinab.

Plötzlich war am Waldrand etwas in Bewegung. Eine Gestalt trat hinter einem der Bäume hervor, sah regungslos auf das Dorf hinab. Grobe Leinenfetzen vermummten das Gesicht.

Das Licht in Albins Kammer wurde gelöscht, das Haus war nun dunkel. Die Gestalt blickte kurz hinter sich, gab ein schnelles Handzeichen – jetzt kamen mehr Gestalten zwischen den Bäumen hervor, bewegten sich langsam über den Abhang auf das Dorf zu …