XXXVI

Eine Mischung aus Schimmel, Weihrauch und Bienenwachs lag in der Luft und machte das Atmen schwer. Irgendwie sah hier alles schmutziger und abgenutzter aus als in der übrigen Kirche. Alte Stofffetzen lagen in einer Ecke, manche hatten dunkelrote, fast schwarze Flecken. Das Schreibpult war von Kerzenwachs überzogen, in den Regalen standen dutzende schwere Bücher.

In der Ecke stand eine schmucklose Holztruhe. Elisabeth öffnete sie, fand aber nur einige einfache Holzkreuze und eine seltsam anmutende Peitsche, die wohl nicht für Pferde gemacht worden war.

Sie schloss die Truhe wieder, sah sich um.

Die Bücher?

Sie konnte unmöglich jedes Buch durchblättern, geschweige denn lesen. Rastlos zog sie das erstbeste Buch heraus und schlug es auf: Kunstvoll verzierte Buchstaben schmückten den Kopf jeder Seite, auch zwischen den Zeilen waren immer wieder Menschen und Tiere gemalt. Entzückt strich Elisabeth mit den Fingern darüber, sie hatte noch nie etwas so Schönes gesehen. Jede Seite war ein Kunstwerk, wie lange musste ein Schreiber wohl dafür benötigt haben? Ein Leben lang?

Vorsichtig klappte sie das Buch wieder zu und stellte es an seinen Platz zurück. Das daneben war dünner, aber mindestens ebenso schön verziert.

Sie setzte ihre Suche fort, sah sich weiter um, aber auch auf dem Schreibpult lag außer einer Gänsefeder und einem kupferfarbigen Tintenfass nichts Auffälliges.

Elisabeth kämmte die Buchrücken hastig durch, aber keines der Werke war auf seiner Rückseite beschriftet. Fast am Ende der Reihe schlugen ihre Finger gegen die Rücken der letzten Bücher, die merklich weiter herausstanden als die anderen. Elisabeth zog die Bücher heraus und blätterte sie durch: In dem einen waren die Pflanzen- und Tierwelt illustriert und beschrieben, das zweite füllten Maß- und Gewichtstabellen. Die anderen beiden Bücher waren in einer Sprache geschrieben, die Elisabeth nicht verstand.

Enttäuscht wollte sie die Bände gerade zurückschieben, als sie an der Rückwand des Regals den Grund für das Herausstehen der anderen Bücher sah. Elisabeth griff in die Lücke und zog ein Bündel heraus, das sorgfältig in Leinentücher gehüllt war. Aufgeregt schlug sie die Tücher zurück, ein großes abgegriffenes Buch kam zum Vorschein. Sein Einband war aus dickem, braunem Leder, das so abgegriffen war, als wäre es durch hunderte Hände gegangen.

In den Umschlag war kunstvoll ein Titel geschnitten worden.

Er lautete „Morbus Dei“.

Vorsichtig tastete sich Johann die abgetretenen Steinstufen hinab, die kreisförmig in die Tiefe führten. Der Gang war gerade einmal breit genug für einen Mann. In seiner Linken hielt er die Ölfunzel, in der Rechten seine Axt.

Von weiter oben polterte Albrechts Stimme. „Weiter, na los, ihr feigen Hunde!“

Abrupt hörte die linke Mauer auf, und eine große kreisrunde Halle am Fuß der Treppe wurde sichtbar. Johann stieg die letzten Stufen hinab und schwenkte die Funzel, die den Raum aber bei weitem nicht auszuleuchten vermochte. Obwohl er schon einmal hier gewesen war, schien ihm alles fremd. Von der düsteren Halle führten mehrere Gänge sternförmig weg, wie weit es nach oben ging, konnte Johann nicht erkennen.

Mittlerweile hatten alle Männer den Fuß der Treppe erreicht und sammelten sich um Johann, der die Ölfunzel in die Finsternis streckte. Einige der Soldaten hatten ebenfalls Ölfunzeln mit dabei und entzündeten nun die Fackeln, die in schmiedeeisernen Halterungen an den Wänden hingen.

Es wurde heller, Johann erkannte, dass es nach oben hin wohl mindestens fünf Klafter sein musste. Außerdem waren schmale Öffnungen in den Wänden erkennbar, die Johann ganz und gar nicht behagten.

„Drei Schützen zu jedem Gang!“, befahl der Kommandant. „Das Ganze gefällt mir nicht“, raunte er Albrecht zu, dieser nickte zustimmend.

Die Soldaten schwärmten aus, knieten sich auf den steinernen Boden und pflanzten ihre Bajonette auf. Für die folgenden Handgriffe wartete keiner mehr die Kommandos ab, hektisch öffneten sie die Pfannen der Gewehre und schütteten Zündkraut darauf. Dann schlossen sie die Pfannen wieder, passten die Lunte auf und verharrten, den gemeinsamen Befehl erwartend.

„Nehmt euer Gewehr in die Faust – zugleich!“, schallte die Stimme des Adjutanten durch die Halle. „Schlagt an – zugleich!“

In einer einzigen Bewegung, einer gut funktionierenden Maschine gleich, legten alle an, auf einen unsichtbaren Gegner, der möglicherweise aus den Gängen kommen würde.

Gänge, in die man nur wenige Fuß weit hineinsah.

Die Bauern und Knechte sammelten sich argwöhnisch in der Hallenmitte und stellten sich so, dass sie sich gegenseitig den Rücken freihielten.

Es wurde still, nur das gleichmäßige Tropfen von Wasser war zu hören.

„Euer Befehl, Herr Kommandant?“ Albrechts Stimme, leise, aber bestimmt.

„Wird wohl auf einen Kampf hinauslaufen, Albrecht. Spürst es auch?“

Der alte Kämpfer nickte müde. „Nur zu deutlich, Kommandant, leider nur allzu deutlich …“

Josias Welter stand zwischen den anderen, seine Unruhe wuchs. Plötzlich spürte er etwas auf seiner Schulter. Es waren Funken, die –

Er blickte nach oben.

Ein brennendes Bündel Reisig stürzte auf ihn, sein Mantel fing sofort Feuer. Die Männer stoben auseinander, Panik breitete sich aus. Josias stolperte kreischend im Raum herum, einer menschlichen Fackel gleich, bis der Kommandant einem seiner Männer eine Muskete abnahm, auf Josias anlegte und ihn ohne zu zögern erschoss. Leblos sackte der Bauer zusammen und blieb brennend liegen.

Totenstille herrschte in der Halle. Dann war ein leises Prasseln zu hören, das von überallher zu kommen schien.

In Johann keimte ein böser Verdacht auf, er blickte nach oben.

Sah das Feuer in den schmalen Öffnungen, und dann die Bündel brennenden Reisigs, unzählige, die auf die Männer herabstürzten.

Elisabeth schlug das Buch auf, blätterte es gespannt durch. Sie sah lange Textpassagen in Deutsch und einer anderen Sprache sowie einzelne Illustrationen. Diese zeigten grauenhafte Bilder, Krankheitsbilder von Gesichtern, Händen, von Mund und Zähnen –

Die Krankheit der Ausgestoßenen.

Elisabeth schlug das Herz bis zum Hals. Jemand hatte die Krankheit sorgfältig studiert und sie in allen Einzelheiten ihrer Scheußlichkeit festgehalten. Die Abgebildeten waren jeden Alters, vom Säugling bis zum Greis, Männer und Frauen, den Datumseinträgen zufolge seit fast einhundert Jahren. Dies war mehr als nur eine Aneinanderreihung von Darstellungen, dies war eine Beweisführung!

Fast unbemerkt glitten ein einzelnes Blatt und ein Brief mit aufgebrochenem Wachssiegel aus dem Buch und fielen zu Boden. Elisabeth hob beides auf, las den Text auf dem vergilbten Blatt.

„… nur sie, die leiden, die geschlagen sind mit Schwären und Seuchen, sind auserwählt, Ihm zu dienen. Und die, die ihnen beistehen, werden ebenfalls ins Reich Gottes eingehen …“

Sie erstarrte. Das war es. Das war das Geheimnis von Kajetan Bichter. Und gleichzeitig erkannte sie, was es für die Männer und Soldaten in den Wäldern bedeutete.

„Mein Gott!“ flüsterte Elisabeth entsetzt. „Er lockt sie in –“

„Eine Falle!“ brüllte Johann und hechtete an den Rand der Halle.

Die Reisigbündel barsten beim Aufprall auf dem Boden und hüllten alles in einen Funkenregen. Die Kleidung mehrerer Bauern fing Feuer, die anderen versuchten die Flammen zu ersticken, teils mit bloßen Händen.

„Raus hier!“ Benedikt Riegler hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er bereits die ersten Stufen hinauf gelaufen war. Dann stutzte er, blieb stehen. Ein Feuerschein kam ihm entgegen, wurde immer heller. Mit Schrecken sah Riegler, dass ein Feuerball aus geflochtenen Zweigen auf ihn zurollte. Er drehte sich um, stolperte und stürzte die Treppe hinunter. Unten prallte er mit seinem ausgestreckten linken Arm auf den Boden. Es knackte derb, Elle und Speiche seines Unterarmes ragten aus seinem Ellbogen hervor. Der Dorfvorsteher heulte vor Schmerz auf.

Der Kommandant erkannte, dass sich etwas aus den Gängen schnell auf sie zubewegte. „Geduld, Männer, wartet, bis ihr sie seht“, rief er den Soldaten zu, die in die Gänge hineinzielten.

Warten, warten – da, jetzt konnte man sie sehen, vermummte Gestalten, die aus der Dunkelheit auftauchten. „Achtung!“ Der Kommandant wartete noch einen Atemzug lang. „Gebt Feuer!“

Die Soldaten feuerten ihre Vorderlader auf die Gestalten ab, die auf sie zuliefen, dichter Pulverdampf hüllte sie ein. Vor ihnen wurden die ersten der Angreifer von den handgegossenen Bleikugeln zerfetzt, die Nachkommenden liefen direkt in die Bajonette. Gedrillt zogen die Soldaten die Bajonette aus den zuckenden Leibern und stießen noch einmal nach, dann warfen sie die Gewehre weg, zum Nachladen war keine Zeit. Weitere Angreifer quollen aus den Gängen heraus, prallten auf die Soldaten und brachen ihre Reihen auf.

Abrupt stoppte der Feuerregen von oben, nun kamen die Ausgestoßenen auch die Treppe heruntergestürmt. Ihre zahlenmäßige Übermacht war überwältigend.

Der Kommandant entlud seine Muskete in die Fratze eines Angreifers, der nach hinten gerissen wurde. Er setzte nach, erblickte zum ersten Mal das Gesicht des Gegners: Dunkelrotes, fast schwarzes Blut pumpte rhythmisch aus der klaffenden Wunde des entstellten Gesichts, die wächserne Haut war wie Papier zerfetzt. Ein milchig wirkendes Auge blickte ihn entsetzt an.

Mein Gott, was seid ihr?

Er zog seinen Säbel und durchbohrte die Gestalt. Das milchige Auge brach.

Der Kommandant zog seinen Säbel aus dem Toten und warf sich wieder ins Kampfgeschehen.

Die Bauern wehrten, so gut sie konnten, die Angreifer ab. Ihre wuchtigen Waffen waren zwar nicht geschickt zu führen, aber wehe, wenn sie trafen. Sensen schnitten Körper regelrecht entzwei, Dreschflegel betäubten beim Aufprall oder rissen, wenn sie mit Spitzen bestückt waren, faustgroße Fleischbrocken aus den Leibern ihrer Opfer.

Alois Buchmüller wirbelte mit einer Axt um sich, zwei Ausgestoßene in Schach haltend. Plötzlich sah er aus dem Augenwinkel, dass jemand mit einer lanzenähnlichen Stange auf ihn zustürmte, er wich geschickt aus. Der Angreifer durchbohrte einen der überraschten Ausgestoßenen und starb einen Augenblick später durch die Axt, die Buchmüller ihm in den Rücken geschlagen hatte.

Der dritte Ausgestoßene ließ seine Haue fallen und wich entsetzt zurück, bis er die Mauer hinter sich spürte. Buchmüller riss die Axt aus dem verkrampften Körper, blanken Hass in den Augen. Er schritt entschlossen auf die Gestalt an der Wand zu, die sich nun auf den Boden kauerte und schützend gekreuzt die Arme vor das Gesicht hielt. Das Licht der Fackeln fiel auf sein Gesicht, der Ausgestoßene mochte keine sechzehn Lenze alt sein. Buchmüller berührte dies wenig, er holte aus und schlug unerbittlich zu. Seine Axt durchtrennte mühelos beide Arme des Ausgestoßenen und spaltete ihm dann den Schädel.

„Das war für den Albin.“

Es waren Alois Buchmüllers letzte Worte, bevor eine Sichel aufblitzte und ihm von hinten die Kehle aufschlitzte.