XXXVIII

Die Dämmerung hatte eingesetzt, warf fahles Licht auf die wie ausgestorben wirkenden Häuser und Wege.

„Wo ist denn der Vater?“

„Schscht, der ist bald wieder zurück! Die sind alle noch einmal ins Holz.“

Das Mädchen war zu jung, um die Lüge und Verunsicherung in den Worten seiner Mutter zu spüren, aber für Elisabeth, die am Fenster der Dorfschenke stand, klang sie glockenhell in den Ohren. Sie blickte sich um, sah die Frauen, Kinder und Alten des Dorfes, die stumm im rußigen Zwielicht der Schenke saßen und an ihre Männer und Söhne dachten. Es hatten sich alle versammelt bis auf Sophie, die wieder die verwundeten Soldaten betreute.

Die alte Salzmüller bemerkte Elisabeths Blick. „Niemand kehrt von da oben zurück –“

„Sei ruhig!“, zischte Elisabeth. „Sei ruhig und bet für unsere Männer.“

Die Alte spuckte auf den Boden, sagte aber nichts mehr.

Elisabeth blickte wieder aus dem Fenster, auf den einsamen Dorfplatz und die verschneiten Wälder und Berge, die darüber thronten. Es war derselbe Anblick wie in so vielen langen Wintern zuvor.

Kalt.

Leblos.

Tot.

Und doch – ausgerechnet der Friedhof schien sich heute gegen den tristen Eindruck zu stemmen, die kleinen Kerzen und Lichtersteine auf seinen Gräbern flackerten im Wind und tauchten die Mauern der Kirche in warmes Licht.

Elisabeth sah den Grabstein ihrer Mutter, erinnerte sich daran, wie Johann ihr damals am Friedhof begegnet war.

Johann …

Komm zurück zu mir.

Ich liebe dich.

Der Gedanke war in Elisabeth unwillkürlich aufgestiegen, und er schien ihr selbstverständlich und wahr.

Ich liebe dich.

Sie hatte es in der Nacht zuvor gespürt, aber jetzt war sie sich sicher. Und alles andere war auf einmal unwichtig …

Plötzlich erstarrte sie. War da nicht eine Bewegung auf dem Schneefeld hinter der Kirche? Sie kniff die Augen zusammen und sah genauer hin: Tatsächlich, es war ein Schatten, der sich langsam, aber zielsicher auf das Dorf zubewegte, der näher kam und aussah wie –

„Er ist es!“, rief Elisabeth freudig aus, lief zur Tür und stürmte nach draußen.

Nach einer Schrecksekunde sprangen die anderen auf, um ihr zu folgen.

Als die Silhouette des Dorfes vor ihm auftauchte, blieb er stehen und atmete tief durch.

Sicherheit! Wenn auch nur für einen Augenblick.

Der Abstieg durch die Wälder hinab ins Dorf war Johann schwergefallen, nicht nur, weil er verwundet war, sondern auch, weil er wusste, dass er den Dorfbewohnern eine furchtbare Nachricht zu überbringen hatte. Sein Atem war immer schwerer gegangen, Blut war am Stiefelschaft hinabgeronnen und hatte Spuren im Schnee hinterlassen.

Er legte eine deutlich sichtbare Fährte, aber das kümmerte ihn nicht mehr.

Wichtig war nur Elisabeth. Er hatte das Bild der letzten Nacht vor Augen, als sie sich geliebt hatten und er sicher gewesen war, dass sie für immer zusammengehörten. Dieses Bild hatte ihn unermüdlich weitergetrieben – er wäre auch durch die Hölle gegangen, um Elisabeth noch einmal zu sehen.

Johann passierte den Friedhof, auf dem die Kerzen flackerten, jetzt waren es nur mehr ein paar Schritte bis zu ihr.

Das Dorf schien menschenleer – genauso, wie er es das erste Mal gesehen hatte.

Dann hörte er ein Geräusch. Die Tür der Dorfschenke flog auf, und Elisabeth kam herausgestürmt und lief auf ihn zu.

Und alles war gut.

Elisabeth stürzte auf Johann zu und umarmte ihn stürmisch. Die Dorfbewohner folgten ihr, blieben aber in einem gewissen Abstand zu den beiden stehen.

„Johann! Ich bin so froh, dass du –“

Dann fühlte sie die klebrige Nässe an ihren Händen. Sie starrte auf ihre Handflächen, die voller Blut waren. „Was –“

„Ist schon in Ordnung, nur ein paar Kratzer.“ Johann hustete bei diesen Worten.

Elisabeth realisierte erst jetzt die Blässe in seinem Gesicht, die blutunterlaufenen Augen und die Falten, welche sich tief in sein Gesicht gruben, jedoch am Morgen noch nicht da gewesen waren.

„Komm mit, ich werd dich versorgen.“

„Wart noch.“ Er nahm ihren Arm. „Elisabeth, ich – ich muss euch noch etwas sagen.“

Er wandte sich um, sah den kläglichen Rest der Bevölkerung des Dorfes vor ihm stehen. Er sah die Väter, Mütter, Söhne und Töchter derer, die oben in den Gewölben geblieben waren, sah in ihre erwartungsvollen Gesichter. Sein Mund war auf einmal staubtrocken, er schluckte, haderte mit den Worten.

In diesem Moment kam Sophie auf sie zugelaufen. Ihre Schritte wurden jedoch langsamer, je näher sie kam und je deutlicher sie erkennen konnte, dass außer Johann niemand zurückgekommen war.

Auch Gottfried nicht.

Mit weichen Knien blieb Sophie bei den anderen stehen. Aber sie wusste es bereits. Wie hatte sie nur glauben können, dass sich diesmal etwas für sie zum Guten gewendet hätte? Tiefe Trauer überfiel Sophie, schien sie innerlich zu zerreißen, aber sie konnte nicht einmal weinen.

Johann riss sich zusammen und wollte gerade sprechen, als ihm die alte Salzmüller zuvorkam.

„Keine langen Reden, Schmied. Wo sind die Mander?“

Johann blickte der Alten ins Gesicht, sah den letzten Funken Hoffnung erlöschen. Ihm fehlten die Worte.

„Hat irgendwer überlebt?“, ächzte sie leise.

Er schüttelte schweigend den Kopf.

Dieses Schweigen traf Elisabeth und die anderen wie ein Donnerschlag, es schrie den endgültigen Verlust wie aus voller Kehle heraus. Einige Frauen begannen zu weinen, andere pressten die Lippen zusammen und umarmten ihre Kinder.

Die Alten umklammerten ihre Gehstöcke, sie wussten, dass ihre Zeit gekommen war. Wie töricht waren sie doch gewesen zu glauben, dass so eine Schuld ungesühnt bleiben würde.

Trauer und Verzweiflung machten sich unter den Letzten des Dorfes breit, ihre Klagelaute hallten über Schneefelder und Wiesen und wurden schließlich von den Wäldern verschluckt …

Johann umarmte Elisabeth, die in seinen Armen schluchzte.

„Was sollen wir denn jetzt machen?“, erklang die verzweifelte Stimme von Anna Riegler, der Frau von Benedikt Riegler. „Wie sollen wir überleben?“

Sag es ihnen. Zum Schweigen ist noch genug Zeit danach.

„Hört her!“ Johann erhob seine Stimme. Was er ihnen jetzt noch zu sagen hatte, fiel ihm kaum leichter, aber er musste es tun. Da ihn niemand beachtete, ließ er Elisabeth los und klatschte in die Hände. „Hört mich an!“

Erschrocken starrten sie zu Johann.

„Wir müssen das Dorf sofort verlassen. Alle.“ Er machte eine Pause. „Sie werden kommen, um ihre Vergangenheit endgültig auszulöschen. Und damit eure Zukunft.“

„Woher willst du das wissen?“, flüsterte Elisabeth.

„Genau, woher? Wir können nicht einfach gehen!“, schrie Anna Riegler hysterisch. „Das ist trotz allem unser Zuhause, Schmied!“

Johann sah über das Dorf in die düsteren Berge hinauf. Als er anhob zu sprechen, war es auf dem Dorfplatz totenstill.

„Ich weiß es, weil – ich es an ihrer Stelle tun würde.“

Als er sie anblickte, aus seinem abgekämpften Gesicht, über das dünne Blutfäden liefen, mit den müden Augen, die so vieles gesehen hatten – da glaubten sie ihm.