IX

„Johann, wach auf.“

Johann spürte, wie ihn jemand an der Schulter rüttelte, er schlug die Augen auf.

Albin stand über ihm, breit grinsend, eine Ölfunzel in der Hand. „Als Schmied kannst du es dir vielleicht leisten, erst zur Jause aufzustehen, aber hier nicht. Wir müssen in den Stall.“

Johann schlug die Decken zurück. Es war eiskalt in der Kammer, und als er sich seine Kleidung griff, fühlte sie sich wie gefroren an. Mit einem Schaudern schlüpfte er in Hemd und Hose, nahm den steifen Mantel und folgte Albin, der das Zimmer schon verlassen hatte.

Albin und Johann stapften durch den Schnee auf den Stall zu, der hinter Karrers Haus lag. Ihr Atem dampfte in der frostigen Luft.

Albin blickte in den Himmel. Die Morgendämmerung blitzte hinter den Gebirgskuppen hervor.

„Wird heut mal nicht schneien. Hab ich auch nichts dagegen“, meinte Albin.

Johann schlug mit den Armen, um die Kälte zu vertreiben. „Wenn’s schneien würd, wär’s nicht so kalt.“

Albin grinste. „Hier ist es immer kalt.“

Sie erreichten den Stall, ein massives Gebäude aus Stein und Holz mit winzigen Fenstern, die von innen mit schweren Brettern vernagelt waren.

„Wirkt eher wie eine Festung als wie ein Stall“, sagte Johann.

„Damit die Fliegen nicht rauskommen“, flachste Albin.

Der Scherz ist oft die letzte Zuflucht der Wahrheit.

Johann ging nicht näher darauf ein.

Im Stall roch es intensiv nach Vieh, Stroh und Kot, aber es war immerhin wärmer als draußen. Im dämmrigen Licht des Stalls konnte Johann Sophie erkennen, die bereits beim Melken war. Vor ihr standen drei kleine Kätzchen Spalier und reckten gierig die Köpfe. Sophie zwinkerte Johann zu, dann bog sie die Zitze am Euter leicht ab und spritzte den Kätzchen die frische Milch in die weit aufgerissenen Mäuler. Nach dem Milchbad begannen diese, sich eifrig unter lautem Geschnurre zu putzen.

„Die lieben das“, rief Sophie entzückt und winkte Johann zu.

Dieser winkte zurück, dann drückte ihm Albin eine Schaufel in die Hand. „Geht schon los, raus mit dem Mist …“

Johann ging zu Sophie, die mit der einen Kuh fertig war und den Melkschemel zur nächsten rückte. Johann zog ihr den halbvollen Holzeimer nach, aus dem die warme Milch dampfte.

„Und ich lieb’s auch“, grinste sie ihn zweideutig an.

Johann kannte diese Sorte von Frau. Unkompliziert und im Herzen schon recht, aber er spürte, dass er sich hier die Finger verbrennen würde. Er antwortete daher mit einem unverbindlichen Lächeln, als hätte er ihre Anspielung nicht verstanden, und tätschelte die Kuh vor ihm.

Sophie strich dem schönen, schwarz-weiß gefleckten Tier liebevoll über den Rücken. „Das ist Stanzerl. Mein Liebling. Die gibt am meisten Milch.“

„Nicht nur Milch“, sagte Johann, senkte die Schaufel in den Haufen Kot und schaufelte den Mist in einen hölzernen Schubkarren. Als dieser voll war, schob er ihn durch die niedrige Stalltüre und entleerte ihn hinter dem Stall auf einem großen Misthaufen.

Bereits nach der ersten Fuhre stand Johann kalter Schweiß auf die Stirn. Mit jeder weiteren Fuhre merkte er, dass er schwächer wurde.

Einen schwachen Knecht wird der Karrer nicht halten. Reiß dich zusammen!

Nach der dritten Fuhre begann Johanns Seite wieder zu stechen. Er atmete tief durch, versuchte seine Gedanken vom Schmerz abzulenken.

Es gelang ihm nicht.

Albin nahm ihm die Schaufel aus der Hand. „Fütter die Schweine und dann ruh dich aus. Gibt eh gleich Frühstück.“

Johann nickte dankbar.

„Na, taugt der was?“ Jakob Karrer saß hinter dem wuchtigen Stubentisch, genau unter dem großen Kruzifix im Herrgottswinkel. Albin und Johann setzten sich an den Tisch.

„Gut hat er gearbeitet. Den ganzen Mist allein rausgefahren“, lobte Albin.

Johann war ihm für die Lüge dankbar. In Wahrheit hatten Albin und Sophie die Arbeit mehr oder weniger ohne ihn gemacht, weil er noch so schwach war.

„Dann hast dir dein Fressen heute ausnahmsweise mal verdient, Schmied.“ Karrer betonte das letzte Wort so, dass es fast wie eine Beleidigung klang. Johann sah Karrer ins Gesicht, verbiss sich aber jede Bemerkung. Stattdessen ließ er seine Blicke im Raum umherschweifen, sah den großen gemauerten Ofen mit der Ofenbank, bemerkte die reich verzierte, getäfelte Decke mit den religiösen Motiven. Die Malerei war zwar im Laufe der Jahre verblasst, aber immer noch erkennbar. Die Intensität der Farben bezeugte, dass einst im Herrgottswinkel angefangen worden war und dann Winter für Winter immer ein Motiv hinzukam, bis die Decke voll war. Einige Sprüche, vermutlich Bibelstellen, schienen auch übermalt worden zu sein.

„Schöne Malerei. Euer Werk?“, fragte Johann.

„Vom Vater“, grunzte Karrer geringschätzig.

Hinter ihnen ging die Tür auf.

Sophie kam herein und trug einen großen, irdenen Topf, aus dem es dampfte. Sie stellte ihn in die Mitte des Tisches, auf dem schon einige Holzschüsseln standen, und setzte sich. Dann betrat eine junge Frau die Stube, mit einem großem Laib Krustenbrot in den Händen.

„Setz dich endlich hin, Elisabeth, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“, fuhr Karrer die junge Frau an.

Johann starrte die Frau an.

Elisabeth.

Er hatte seinen Engel gefunden.

Elisabeth setzte sich schnell neben Sophie hin.

„Gegrüßest seist du Maria …“ Karrer stimmte das Gebet an, alle fielen murmelnd ein.

„Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus …“

Johann beobachtete verstohlen Elisabeth, die andächtig betete. Dichtes, dunkles Haar, tiefblaue Augen, das blasse Gesicht voller Sommersprossen, die Figur schlank und wohlgeformt.

„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder …“

Aber nicht allein ihre Schönheit zog Johann an – Elisabeth strahlte zudem eine Entschlossenheit aus, die man bei der Tochter eines so strengen Bauern wie Karrer nicht vermutet hätte.

„… jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen.“

Ein Räuspern riss Johann aus seinen Gedanken. Er sah, dass Karrer ihn anstarrte.

„Fertig, Schmied?“

Johann murmelte ein schnelles Amen.

Karrer senkte noch einmal den Kopf.

„Heilige Mutter Gottes, behüte uns vor der Bedrängnis und beschütze uns vor ihnen. Amen.“

Alle stimmten in das Amen ein. Johann war der letzte Zusatz zum Ave Maria völlig unbekannt, er gehörte jedenfalls nicht zum Gebet.

Elisabeth begann die Schüsseln mit der heißen Brennsuppe zu füllen und verteilte sie nacheinander an alle, natürlich zuerst an ihren Vater, wie es Brauch war. Karrer tauchte den Holzlöffel in die dicke Suppe und begann zu essen, erst danach fingen auch die anderen an.

Nach dem Frühstück rülpste Karrer laut, lehnte sich zurück und musterte Johann träge. „Hat’s geschmeckt?“

„Ja – ich dank Euch.“ Johann zögerte. „Und auch dafür, dass Ihr mich aufgenommen habt.“

Karrer gab sich gönnerhaft. „Kann dich doch nicht da draußen verrecken lassen. Was soll’s – hab ich halt ein Maul mehr zu stopfen. Aber im Frühjahr haust du schön wieder ab.“

„Ihr seid sehr großzügig“, sagte Johann ruhig.

Karrer sah ihn misstrauisch an, schien sich nicht sicher zu sein, wie Johann diese Bemerkung gemeint hatte. Dann wandte er sich an Albin. „Nachher richtet ihr den Getreidekasten.“

Albin sah ihn verwundert an. „Schon wieder? Aber –“

Karrer schlug mit der flachen Hand jähzornig auf den Tisch. „Halt dein Maul und tu, was ich dir sag!“

Albin nickte hastig, warf Johann einen Blick zu und stand auf. „Wir gehen am besten gleich.“ Er bekreuzigte sich kurz, Johann tat es ihm nach und die beiden verließen die Stube.

Elisabeth und Sophie räumten den Tisch ab und gingen ebenfalls hinaus.

Jakob Karrer blieb allein zurück. Er stopfte sich eine Pfeife und zündete sie mit einem glosenden Span aus dem Ofen an. Dann stand er auf und blickte durch das kleine Fenster hinaus auf die Rückseite des Hofes. Durch das grünliche Waldglas sah er die verschwommenen Konturen von Albin und Johann, sah, wie sie sich dem Getreidekasten näherten.

Vielleicht hatte die alte Salzmüller doch Recht gehabt. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, dass er Milde gegenüber seiner Tochter hatte walten lassen und diesen Schmied aufgenommen hatte. Natürlich würde er ihm mehr bringen als kosten, das war klar. Aber ein Störenfried war er allemal.

Karrer nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, der beißende Rauch hüllte sein Gesicht vollständig ein.

Aber es war ja noch nicht zu spät, diesen Fehler wieder auszumerzen. Es würde wieder alles an ihm hängen bleiben, aber das war er ja schon gewohnt.

Karrer bekreuzigte sich und verließ die Stube.