XIII

Johann saß mit Albin und Sophie in der Küche bei der Vormittagsjause, die aus Brot und Milch bestand. Auch Martin Karrer, Jakob Karrers Vater, war vorbeigekommen, saß auf einer der Bänke an der Wand und kraulte Vitus, der den Kopf auf seinen Schoß gelegt hatte. Elisabeth stand am offenen Herdfeuer und bereitete die Knödel für das Mittagessen vor, denn Dienstag und Donnerstag war Knödeltag, wie es auf dem Land in ganz Tyrol Brauch war.

Über eine Woche war bereits vergangen, seit Johann aus dem Wundfieber erwacht war, und er hatte sich zusehends erholt. Auch seine Wunde heilte von Tag zu Tag mehr, bald würde nur mehr eine Narbe an den Kampf mit dem Bauern erinnern.

Und er hätte es wahrlich schlechter treffen können. Trotz eines gewissen Argwohns, mit dem ihm einige der Dorfbewohner begegneten, hatte man ihn doch zumindest akzeptiert, spätestens seit dem Eisschießen. Sein neuer Herr freilich war ein Schinder und Menschenfeind durch und durch, aber Johann hatte weit Schlimmeres erlebt und immerhin ein festes Dach über dem Kopf und täglich warme Mahlzeiten. Und das war mehr, als das Jahr ihm bisher geboten hatte.

Albin und Sophie waren redliche Menschen, denen er vertraute, nur Elisabeth begegnete ihm mit einer Mischung aus kühler Distanz und schroffer Ablehnung. Ob ihre Fürsorge nur dem Fieberwahn entsprungen war?

Ein Schlag auf die Schulter riss Johann aus seinen Gedanken.

„Stimmt’s oder hab ich Recht?“, schmetterte ihm Albin entgegen.

„Wenn du meinst“, sagte Johann unbestimmt und schnitt sich noch eine Scheibe Brot ab.

„Geh, hör doch auf, der Johann weiß ja gar nicht, wovon du redest“, gab Sophie zurück. „Der war mit seinen Gedanken ganz woanders.“ Sie zwinkerte Johann zu. „Bei einer Frau?“

Elisabeth blickte über die Schulter zum Tisch hin.

„Was? Nein!“, gab Johann trotzig zurück und suchte nach einer Ausrede. „Hab nur grad überlegt, was das für ein Zeichen war, mit dem mich die alte Salzmüller am letzten Sonntag verwunschen hat.“

Albin lachte. „Dich also auch? Brauchst dir nichts denken, von der ist schon so ziemlich jeder im Dorf verhext worden. Darfst ihr aber nicht übel nehmen, die ist nicht mehr ganz richtig im Kopf, seit sie ihre beiden Töchter verloren hat.“

„Na, sie scheint aber nicht die Einzige zu sein, die hier so abergläubisch ist“, bohrte Johann nach.

„Weißt eh, wie die Alten so sind“, spielte Albin das Thema herunter.

„Die Alten waren aber nicht immer so“, entrüstete sich Martin Karrer. Vitus schaute beim Klang seiner Stimme zu ihm auf, der Alte tätschelte ihm beruhigend den Kopf. „Das Leben war hier zwar immer schon sehr hart, aber anders.“

Elisabeth drehte sich bei diesen Worten um und warf ihrem Großvater einen warnenden Blick zu.

„Alles ändert sich“, entgegnete Johann.

„Da hast wohl Recht“, stimmte ihm der Großvater zu. „Mal zum Guten, mal zum Schlechten. Aber manchmal auch zum ganz Schlechten.“

„In vielen Dingen steckt auch was Gutes, man muss es nur sehen wollen.“

„Siehst, das gefällt mir an dir.“ Sophie ergriff Johanns Hand. „Du lässt dich nicht so leicht verschrecken wie die andern.“ Sie begann, mit seinen Fingern zu spielen.

Johann sah, dass Elisabeth es bemerkte und sich demonstrativ wieder dem Kessel widmete.

Er entzog Sophie seine Hand. „Verschrecken nicht, aber ich merk, wenn mich wer anlügt. Oder anschweigt. Und das ist oft das Schlimmere.“ Johann blickte den Großvater an, der seinen Kopf senkte.

Sophie rückte näher an Johann. „Na, ich werd dich ganz bestimmt nie anschweigen.“

„Und was die Sophie verspricht, das hält sie“, fügte Albin augenzwinkernd hinzu.

Alle lachten, als plötzlich die Küchentür donnernd aufflog und Jakob Karrer hereinstürmte.

„Das Stanzerl ist weg! Johann, Albin, findet mir das Viech!“, brüllte er außer sich.

Alle starrten ihn verständnislos an, Sophie wurde totenblass. Dann begann sie leise zu weinen. „Ausgerechnet das Stanzerl“, schluchzte sie.

„Was ist jetzt? Schert euch raus!“, fuhr Karrer Albin an.

„Ihr wisst doch, dass das keinen Sinn hat. Die beiden werden nichts finden“, warf Sophie schluchzend ein.

„Wer hat dich denn gefragt? Scher dich in den Stall, Milch holen, oder was du sonst noch da drin treibst!“

Sophie wurde rot und verließ schniefend den Raum.

„Außerdem sind sie bei dem Schnee vielleicht nicht weiter gekommen und haben die Kuh zurückgelassen“, murmelte Karrer zu sich selbst.

Elisabeth drehte sich um. „Dann ist sie sicher schon erfroren und –“

Karrer machte einen Schritt zu ihr hin und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.

Johann wollte aufspringen, spürte aber eine Hand, die ihn zurückhielt – es war Albin, der stumm den Kopf schüttelte.

Dem Feigen sitzt die Hand am lockersten.

„Halt den Mund!“, schrie Karrer Elisabeth an.

Sie blickte ihn an, sagte aber kein Wort und drehte sich wieder zum Kessel um, der über dem offenen Herdfeuer hing. Karrer baute sich drohend vor Johann und Albin auf. „Und jetzt raus mit euch beiden! Zum letzten Mal!“

Sie sprangen auf und verließen schnell die Küche.

Johann und Albin stapften schweigend über die verschneite Wiese, die hinter dem Dorf steil bergauf führte. Vitus war ihnen gefolgt und tobte übermütig durch den Schnee.

Der Himmel über ihnen war eisig blau, aber die Sonnenstrahlen spendeten nicht wirklich Wärme. Die Gebirgskette mit ihren schroffen Bergspitzen hob sich glasklar gegen den Himmel ab, der gleißende Schnee war so grell, dass er in den Augen brannte.

Die Spur vor ihnen war schon fast zugeweht und unkenntlich, man konnte nicht mit Sicherheit sagen, wer oder was hier gegangen war.

„Albin, hast die Stalltür offen gelassen?“ Johann zog seinen Ledermantel enger.

Albin schüttelte den Kopf. „Und wenn, hätte das auch keinen Unterschied gemacht.“

Die beiden stapften weiter. Johann musste an die Szene in der Küche denken, an Karrer, den Schlag gegen Elisabeth, und wie der Großvater resigniert geseufzt hatte.

„Warum wohnt der Großvater eigentlich nicht bei der Familie? Der Karrer scheint seinen Vater ja fest in der Hand zu haben.“

„Das ist eine böse Geschichte …“ Albin kratzte sich am Hals und überlegte, ob Johann das alles überhaupt was anging. Andererseits war’s ja auch kein großes Geheimnis, dachte er sich, er brauchte nur einen anderen zu fragen.

„Die Frau vom alten Martin Karrer, also die Mutter vom Jakob Karrer, ist vor vielen Jahren krank geworden. Schwer krank. Der Martin hat dann Arznei aus der nächsten Stadt besorgen lassen, die war aber so teuer, dass er im Dorf Schulden hat machen müssen. Der Jakob war damals ein junger Mann, aber er war nicht einverstanden, dass man deshalb so viel Geld auslieh. „Die ist eh schon tot“, soll er eiskalt gesagt haben. Über die eigene Mutter! Jedenfalls ist sie dann trotz der Arznei gestorben, und der Karrer-Hof war schwer verschuldet. Und nach kurzer Zeit hat der Jakob Karrer dann seinen Vater in das kleine Haus abgeschoben, den großen Hof endgültig übernommen und binnen kürzester Zeit die Schulden zurückgezahlt.“

„Und wie?“

Albin blickt ihn an, ein sarkastisches Lächeln im Gesicht. Diese Geschichte war nun nicht mehr jedem im Dorf geläufig, aber wer A sagte, musste auch B sagen.

„Es heißt, der junge Karrer habe ein Geschäft mit einem reichen Herzog abgeschlossen. Für viel Geld. Worum’s ging, wusste niemand. Einige Zeit später sind dann zwei junge Dirndln aus unserem Dorf verschwunden. Ein Trupp hat sie tagelang gesucht, aber die sind nie wieder aufgetaucht.“ Er blieb stehen. „Der Großvater hat mir erzählt, dass es die Töchter von der alten Salzmüller gewesen sind. Bildhübsch waren sie, ihr Ein und Alles. Kann man sich eh vorstellen, warum die heut so ist, wie sie ist.“ Albin schüttelte mitleidig den Kopf. „Der Karrer ist jedenfalls mit den Taschen voller Geld aus der Stadt zurückgekehrt. Mit einem glücklichen Würfelhändchen geht das, soll er damals geprahlt haben, aber wirklich geglaubt hat ihm das niemand. Dann hat er alles zurückgezahlt, auf Heller und Pfennig, so viel Land dazugekauft wie er nur kriegen hat können und auch noch neue Bänke für die Kirche gespendet. Wer stellt da schon Fragen?“ Albin lächelte grimmig. „Und weil er eine gute Partie war, hat ihm der alte Bacher Hans die Hand von seiner einzigen Tochter versprochen, der Mutter von der Elisabeth. Ihr Ja bei der Trauung soll so kalt gewesen sein, dass die Eisheiligen damals drei Wochen früher als sonst gekommen sind. Und darum gehört dem Karrer jetzt abgesehen vom Riegler der meiste Grund im Dorf.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er nachdenklich fort: „Der Einzige –“

„Ja?“

„Der Einzige, der gegen ihn gewettert hat, der alte Vinzenz, war eines Tages ebenfalls verschwunden. Aber hier oben verschwindet immer wieder mal jemand. Einen Moment nicht aufgepasst, und eine Spalte im Schnee hat dich verschluckt, oder du brichst im Eis ein und bist weg.“

„Praktisch …“

„Du sagst es.“

Vitus war mittlerweile außer Sicht, aber sie hörten ihn bellen.

„Albin, die Elisabeth –“

Albin blieb stehen und blickte Johann scharf an. „Denk nicht mal dran, sonst kannst dich gleich wieder beim Großvater erholen!“

Johann schaute Albin fragend an.

„Ach komm, ich seh doch, dass sie dir gefällt. Und nicht nur ich. Was glaubst, warum ich dich vorhin in der Küche zurückgehalten hab? Der Karrer wartet doch nur auf einen Vorwand, um es dir ordentlich zu zeigen.“ Albin machte eine Pause. „Als sich das letzte Mal einer für die Elisabeth interessiert hat, hat ihn der Karrer halbtot geschlagen.“

„Das werden wir ja noch sehen“, sagte Johann kalt.

Albin blickte ihn zweifelnd an. „Also ich würd nicht auf dich wetten. Wo der hinhaut –“

„Sei still!“ Johann war stehen geblieben. Albin blickte ihn verwundert an.

Vitus’ Bellen war verstummt. Dann war ein Winseln zu hören.

„Da, schau!“ Johann versuchte etwas zu erkennen. „Da vorne!“

In einiger Entfernung, am Waldrand, sahen sie den Hund. Johann und Albin näherten sich vorsichtig, dann erkannten sie, was Vitus entdeckt hatte: Es war Stanzerl, die mit dem Rücken zu ihnen am Waldrand lag. Johann und Albin liefen zur Kuh – und erstarrten.

Der Bauch der Kuh war der Länge nach aufgerissen, Fleisch in großes Brocken herausgeschnitten. Überall waren tiefschwarze Verästelungen unter dem Fell erkennbar.

Albin ging entsetzt um die Kuh herum. „Das arme Stanzerl. Sie muss sich das Bein gebrochen haben, deshalb haben sie sie hier zurückgelassen“, sagte er nachdenklich.

„Wer sie?“

„Wir gehen jetzt besser“, flüsterte Albin und bekreuzigte sich.

Johann streichelte Vitus, der sich mit eingezogenem Schwanz und angelegten Ohren an ihn drückte und winselte. Das Tier hatte Angst, und Johann konnte es ihm nicht verdenken. Sein Blick schweifte von der ausgeweideten Kuh auf die dunklen Stellen im Schnee ringsum. Er sah genauer hin – vom Kadaver führte eine blutige Spur bis zum Wald.

„Albin, schau her!“

„Lass es gut sein! Wir haben getan, wie uns der Karrer geheißen hat. Gehen wir zurück.“

Johann antwortete nicht. Er starrte in die Dunkelheit des Waldes.

„Johann, bitte!“

Furcht vernebelt die Sinne. Beeinträchtigt das Urteilsvermögen.

Johann folgte der Spur.

Deshalb keine Furcht.

„Verdammter Tor!“, murmelte Albin verärgert. „Du hast ja keine Ahnung, was du hier herausforderst“. Er verharrte noch einen Augenblick unschlüssig, dann hastete er Johann widerwillig hinterher.

Vitus blieb zurück, drückte sich in den Schnee und sah den Männern nach …

Johann pirschte sich vorsichtig durch das ansteigende Unterholz, ständig seine Umgebung beobachtend. Kein Tier, nichts war zu hören, und auch die Sonne fand nur mühsam einen Weg durch die dichten Bäume.

Setz dich keiner Gefahr aus.

Gewöhnlich wusste Johann Situationen richtig einzuschätzen. Doch etwas trieb ihn an, er ging tiefer in den Wald hinein.

Albin hatte fast zu ihm aufgeschlossen, als sie ein leises Knacksen hörten, wie von brechenden Ästen.

Die beiden erstarrten.

Schatten huschten von Baum zu Baum.

„Wir müssen hier weg“, flüsterte Albin panisch und zog Johann am Ärmel. Johann zögerte. Das Knacksen kam jetzt von allen Seiten, wurde lauter.

„Ich glaub, du hast Recht“, entgegnete Johann leise.

Die beiden drehten um, gingen langsam wieder zurück.

Jetzt waren Schritte zu hören, hinter ihnen im Schnee. Johann wollte sich umdrehen, aber Albin zog ihn heftig am Ärmel. „Nein, lass es – lauf, sonst sind wir tot!“ Er begann zu rennen.

Jetzt konnte auch Johann es ganz deutlich fühlen – etwas war hinter ihnen her, und es kam rasch näher.

Johann rannte Albin hinterher, der hatte den Rand des Waldes schon erreicht. Die Schritte kamen näher, Johann spürte jemanden in seinem Rücken atmen, etwas griff nach ihm – dann hatte er den Wald hinter sich gelassen und stand in der Wiese, im gleißenden Sonnenlicht. Vitus war noch da, er hatte sich hinter dem Kadaver der Kuh tief in den Schnee geduckt.

Schwer atmend blickte Johann in die Dunkelheit des Waldes zurück.

Nichts war zu sehen.

Plötzlich bekam er einen Schlag auf die Schulter, der ihn taumeln ließ.

„Na, du Idiot, was hab ich dir gesagt? Wir hätten beide draufgehen können.“ Albin war die Panik ins Gesicht geschrieben.

Johann blickte ihn an, noch immer außer Atem. „Beruhig dich. Ist ja gut gegangen.“ Er machte eine Pause. „Wer –“

„Ich sag kein Wort mehr. Und jetzt komm, wir müssen zurück.“ Albin schüttelte verärgert den Kopf und ging los, die Wiese hinab.

Johann blieb zurück, starrte in den Wald.

Vitus tollte übermütig neben Albin durch den Schnee. Das Bellen des Hundes riss Johann aus seinen Gedanken.

Langsam stapfte er den beiden hinterher.