XXII

Schwere Predigt braucht einen schweren Kopf.

Was für ein dummer Spruch, dachte Johann und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Sein Kopf dröhnte, er hatte noch den Beerengeschmack des Schnapses im Mund. Übelkeit schwappte durch seinen Körper, verklang und wurde stärker, seine Augen waren geschwollen und gerötet – er fühlte sich schrecklich.

Dass er in der Kirche war und der ausufernden Predigt von Kajetan Bichter folgen musste, verschlimmerte das ganze natürlich um ein Vielfaches. Die Kirche war voll, denn wie Franz Karrer angekündigt hatte, war bald Weihnachten, und der Pfarrer hatte für die kommende Zeit und ihre besonderen Riten viel zu sagen. Als Johann sich sicher war, dass er es keinen Augenblick länger in der Kirche aushalten würde, beendete Bichter die Predigt.

„Amen“, sagte die Gemeinde.

„Amen, Brüder und Schwestern.“ Bichter hielt kurz inne, zögerte. Sein Blick fiel auf die ersten Reihen der groben Holzbänke, auf Karrer und Riegler. Dann schien er sich ein Herz zu fassen und setzte erneut an.

„Noch ein Wort an alle Gläubigen –“

Johann stöhnte innerlich.

„Wie wir wissen, sind die Wege des Herrn unergründlich.“ Bichter holte tief Luft. „Er hat uns ein Rind genommen und Soldaten in unser Dorf geführt. Und ich verstehe, dass viele von euch besorgt sind. Aber wir werden in diesem viel zu frühen Winter deshalb weder Hunger noch Kälte leiden müssen.“ Wieder ein kurzes Innehalten. „Vielmehr hilft dieser Verlust denjenigen, die es am notwendigsten brauchen. Und der unter euch, der nicht barmherzig genug ist, auch in größter Bedrängnis zu teilen, möge sich jetzt erheben.“

Niemand sagte ein Wort, alle schauten betroffen zu Boden. Johann sah, dass Jakob Karrers Gesicht dunkelrot vor Zorn war.

„So lasset euch nicht von Hass, Angst oder Neid leiten, denn dafür ist kein Platz. Hier nicht, und im Himmelreich erst recht nicht!“

Ein kalter Luftzug fegte plötzlich durch die Reihen. Alle drehten sich um.

Der Kommandant stand in der Kirchentür, seine Männer hinter sich. Er klatschte in die Hände, und als er anhob zu sprechen, blitzte kurz ein Lächeln auf seinen schmalen Lippen auf. „Wohl gesprochen, Hochwürden, wohl gesprochen. Wenn dem so ist, werdet Ihr uns hoffentlich ebenfalls an der Messe teilhaben lassen. Meine Männer sind gute Christen und haben schon lange an keiner Eucharistie teilgenommen.“

Bichter zögerte.

Der Kommandant wartete ruhig auf eine Antwort. Gefährlich ruhig.

„Es ist nicht genug Platz in der Kirche. Seht ihr das nicht?“ Jakob Karrer hatte diese Worte gesprochen.

Der Kommandant musterte ihn unbeeindruckt, er sah Franz mit einem Verband neben seinem Bruder sitzen, blickte dann wieder Jakob Karrer an. „Einer wie der andere …“, sagte er leise und schüttelte den Kopf. Dann ging er langsamen Schrittes nach vorne, stellte sich von Angesicht zu Angesicht vor Bichter.

„Nun, ich würd sagen, es ist nur recht und billig, wenn einige Eurer Schäfchen, die jeden Sonntag hier sein können, Platz für meine Männer machen. Ein Sonntag bedeutet für die Euren nichts, für meine Männer alles.“

„Ich – ich …“, stammelte Bichter.

„Ausgezeichnet. Ich wusste doch, dass Ihr die Barmherzigkeit auch lebt“, sagte der Kommandant, drehte sich vor dem verblüfften Pfarrer um und fasste die Dorfbewohner ins Auge. Sein Blick fiel auf die sitzenden Bauern und die stehenden Knechte und Mägde, dann wandte er sich an Jakob Karrer. „Ich denk, Ihr seid lange genug gesessen. Vertretet euch am besten die Beine vor der Kirche.“ Als der ihn verständnislos anstarrte, hob der Kommandant die Stimme. „Na wird’s bald? Raus mit Euch, macht Platz für meine Männer!“

Jakob Karrer öffnete den Mund, schloss ihn wieder.

Alle starrten ihn an. Es herrschte Totenstille in der Kirche.

Der Kommandant legte die Hand an den Säbel.

„Brüder, bitte. Das ist ein Haus Gottes –“

Ein Rumpeln unterbrach die flehentliche Stimme von Kajetan Bichter. Jakob Karrer war so heftig aufgestanden, dass die Sitzbank fast umfiel. Wortlos drängte er sich durch die Reihen der Dorfbewohner nach draußen. Nach einer kurzen Pause folgten ihm Riegler, Buchmüller und die anderen.

„Warum nicht gleich so?“, kommentierte der Kommandant den Abgang der wichtigsten Männer des Dorfes ironisch, dann winkte er seine Soldaten nach vorne. Die setzten sich in die ersten Reihen. Der Kommandant wandte sich an Bichter. „Ihr mögt fortfahren.“

Dann setzte er sich neben seine Männer.

Alle in der Kirche hatten der Szene atemlos beigewohnt. Jetzt setzte leises Murmeln ein, das verstummte, als Bichter die lateinischen Worte zur Messeröffnung sprach.

Johann war beunruhigt. Nicht wegen der Soldaten, er wusste nach wie vor, dass dem Dorf nichts geschehen würde, wenn alle sich ruhig verhielten. Die Szene eben war nichts als eine Machtdemonstration gewesen, die Johann im Stillen gefallen hatte. Nein, es war der mörderische, schrankenlose Hass in Jakob Karrers Gesicht gewesen, der ihm Sorgen machte. Er kannte diesen Ausdruck.

Wo immer er ihn gesehen hatte, war der Tod alsbald gefolgt.

Johanns Blick fiel auf den Großvater, der hinten bei den Knechten und Mägden stand. Der alte Mann schien Johanns Blick zu spüren, wandte den Kopf und blickte ihn an.

Johann sah in den Augen des Großvaters die gleiche Art der Besorgnis, die er selbst empfand.

War er am Abend zuvor zu harsch zu Johann gewesen? Martin Karrer kamen Zweifel. Er blickte Johann an, dann Elisabeth.

Entscheidungen mussten getroffen werden.

Er wusste innerlich, dass etwas Folgenschweres bevorstand. Seine Sorge galt allerdings nicht sich selbst. Das Leben war, trotz aller bitteren Einschnitte, nicht schlecht zu ihm gewesen. Aber Elisabeth hatte das ihre noch vor sich.

Entscheidungen.

Sie hatte sich für Johann entschieden, und das sollte ihr niemand verwehren. Martin Karrer fuhr sich durch den Bart und zwirbelte die Spitzen nach unten. Nun hatte er sich zu entscheiden.

„So tretet nun vor, um den Leib des Herrn zu empfangen …“

Die Soldaten standen auf und gingen einer nach dem anderen Richtung Altar.

Als die Messe zu Ende war, verließen die Soldaten die Kirche, gefolgt von den Dorfbewohnern. Draußen standen die Leute in Gruppen zusammen und sprachen gedämpft miteinander. Es schneite, aber nur mehr ganz leicht, die großen Schneefälle waren offenbar vorbei.

Fürs erste.

Einige der Soldaten musterten die Frauen anzüglich. Diese blickten zu Boden, die Männer des Dorfes warfen den Soldaten finstere Blicke zu.

„Ab mit euch nach Hause, aber schnell!“, befahl Jakob Karrer Elisabeth und Sophie. Die anderen Bauern sagten ihren Frauen und Töchtern dasselbe, der Platz leerte sich schnell.

Karrer und die übrigen Bauern machten sich auf den Weg in die Schenke. Franz wandte sich an den Großvater. „Vater, kommst auch noch mit zum Buchmüller?“

„Nein, heut nicht. Ich fühl mich nicht so gut, ich werd heimgehen.“

„Wie du willst.“ Franz drehte sich um und folgte seinem Bruder.

Der Großvater ging quer über den Platz. Als er bei Johann war, blieb er stehen. „Komm später zu mir. Und nimm die Elisabeth mit“, flüsterte er Johann zu.

„Aber –“

„Tu, was ich dir sag!“ Die Stimme des alten Mannes war so beschwörend, dass Johann unwillkürlich nickte.

„Gut, ich schau, dass wir uns davonstehlen können.“

„Seid vorsichtig.“ Der Großvater ging langsam in die Richtung seines kleinen Hauses.

Johann hätte schwören können, dass der alte Mann Todesangst hatte.

„Los jetzt, Männer. Aufstellung, und dann zurück ins Quartier.“ Albrecht, der nicht in der Kirche gewesen war, war auf einmal auf dem Kirchplatz aufgetaucht. Johann hätte darauf wetten können, dass der alte Haudegen keinen Wert auf den Leib des Herrn legte.

Die Männer gehorchten murrend. Der Kommandant trat jetzt aus der Kirche heraus und nickte Albrecht zu. „Schon recht. Sonst kommen sie noch auf dumme Gedanken.“ Sein Blick schweifte über die Dorfbewohner, die noch auf dem Kirchplatz standen, und verweilte schließlich auf Johann.

Bleib unauffällig. Sieh zu Boden.

Vernunft gegen Stolz.

Der Stolz behielt die Oberhand.

Johann blickte den Kommandanten ruhig an. Der stutzte, kam dann langsam auf ihn zu und stellte sich direkt vor ihn. „So … da ist einer mit ein wenig Mumm in den Knochen, wie mir scheint.“

Johann sagte nichts.

Der Kommandant rief über die Schulter zurück: „Albrecht! Zu mir!“

Albrecht bewegte sich mit einer Schnelligkeit, die man dem alten Kämpfer nicht zugetraut hätte. „Kommandant?“

„Sieh dir den Burschen da an. Was siehst du?“

„Der ist mir schon aufgefallen, als er uns das Essen gebracht hat.“

Der Kommandant nickte. „Was machst du hier im Dorf, Bursche?“

„Schmiedearbeiten.“

„Du bist hier geboren?“

Johann wusste, dass es keinen Zweck hatte zu lügen. Der Kommandant konnte seine Aussagen jederzeit überprüfen. „Nein, ich bin erst seit kurzem hier.“

„Und was hat dich hierher verschlagen? Du hättest überall mehr Arbeit als in diesem gottverlassenen Tal.“

Johann zögerte. „Das gleiche Schicksal wie das Eure.“

„Also verirrt? So, so ...“, murmelte Albrecht.

„Albrecht, was meinst du, könnte einen Mann dazu bewegen, sich hierher zu – verirren?“, fragte der Kommandant spöttisch.

„Ich würd mich nur zu einem Zweck hier aufhalten.“

„Nämlich?“

„Ist ein gutes Versteck …“

„Das würd ich wohl auch meinen.“ Der Kommandant war auf einmal wieder so gefährlich ruhig wie vorhin in der Kirche. „Zum Beispiel, wenn einer keine Lust mehr zum Kämpfen hat.“ Er starrte Johann jetzt direkt in die Augen. „Was meinst du, Schmied?“

„Ihr irrt Euch. Ich war nie bei den Sturmscharen.“

„Er war nie bei den Sturmscharen, Albrecht.“

„Sind ja nicht die einzigen Tyroler Kämpfer, Kommandant. Die Fronten ziehen sich überall hindurch. Ich hab gehört, dass der Kaiser nicht wenige tüchtige Gebirgskämpfer in seinen Reihen hat, Freiwillige und weniger Freiwillige.“

Der Kommandant und Albrecht starrten Johann an.

„Ich sag es Euch noch einmal – ich bin kein Soldat.“

„Natürlich bist du jetzt kein Soldat mehr“, erklärte der Kommandant.

Schweigen breitete sich aus.

Dann traf der Kommandant eine Entscheidung. „Aber letzten Endes zählt das für mich nicht. Wenn du ein bayerischer Deserteur wärst, würdest du hier auf dem Platz baumeln. Aber ein Tyroler Deserteur ist ein Tyroler Kämpfer weniger an der Front.“

„Wenn er denn Schmied bleibt“, warf Albrecht ein.

„Ganz recht, Albrecht. Wenn er denn Schmied bleibt.“ Er fixierte Johann. „Wirst du das bleiben – Schmied?“

„Ihr habt mein Wort“, sagte Johann ruhig.

Die beiden musterten ihn noch einen Augenblick. Dann nickte der Kommandant. „Du wirkst wie ein besonnener Mann. Ich glaub dir. Du kannst jetzt gehen.“

„Ich danke Euch.“ Johann entfernte sich rasch.

Der Kommandant und Albrecht sahen Johann nach.

„Albrecht?“

„Jawohl?“

„Den Mann im Auge behalten.“

„Natürlich, Kommandant.“ Der alte Kämpfer grinste.