XVII

„List, lass uns leben!“

Eine kalte Vollmondnacht, Fresken an dicken Steinwänden, die den Sensenmann zeigten, den grimmigen Schnitter, im Totentanz mit seinen Opfern.

Und darunter: ein blasses Antlitz, das vergebliche Betteln um Gnade, Blut, das an die Wände spritzte und sich über die Fresken ergoss, schwarz im bleichen Licht des Mondes.

Als die Blutfäden hinabrannen, schien es, als hätten die Wände pulsierende Adern …

Johann wachte keuchend auf, sah sich verwirrt um. Alb in schlief ruhig im Bett neben ihm.

Nur ein Alptraum. Es war immer der gleiche, der ihn verfolgte, seit –

Du sie alle umgebracht hast.

Johann presste die Hände gegen die Schläfen.

Manchmal hat man keine Wahl.

Aber er wusste, dass er sich selbst etwas vormachte. Es gab immer eine Wahl, das hatten er und der Preuße genau gewusst. Nicht aber, ob sie die richtige getroffen hatten.

Plötzlich polterte es an die Tür.

„Albin! Johann! Raus mit euch faulem Gesindel!“ Elisabeth versuchte, die tiefe Stimme ihres Vaters zu imitieren, was ihr nur bedingt gelang. Sie konnte sich dann ein Kichern nicht verkneifen.

Johann stieg aus dem Bett und zog seine Hosen an, während Albin sich noch schlaftrunken herumwälzte. Johann rüttelte ihn unsanft, Albin machte eine abwehrende Handbewegung.

„Willst, dass dich der Karrer höchstpersönlich wachküsst?“, fragte Johann ungeduldig.

Albin setzte sich schnell auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

Johann stieg die Treppe hinunter, lehnte sich an die Kuchltür. Drinnen bereitete Elisabeth die Jause vor. Sophie stand schlaftrunken an der Feuerstelle und schürte die spärlichen Flammen.

Jetzt kam auch Albin die Treppe heruntergewankt. „Zwei Uhr morgens ist eindeutig drei Stunden zu früh zum Aufstehen“, murrte er.

„Glaubst, dass ich mich wieder hinlegen kann?“, entgegnete Elisabeth patzig.

„Na, können schon …“ murmelte Albin, setzte sich seinen Filzhut auf und ging zur Tür.

„Das wird mir dann schon der Herr Vater sagen, du!“ Sie lächelte, dann gab sie Johann das Bündel mit der Jause. „Lasst es euch schmecken. “

Johann nahm das Bündel und schnürte sich seinen Ledermantel zu. Dann verharrte er.

Sag es ihr.

„Elisabeth –“

„Johann, gehen wir!“ Albin hielt die Haustür auf. Ein eisiger Windstoß fegte durch den Hausgang.

Johann wandte sich von Elisabeth ab.

„Johann?“ Elisabeth hatte sehr leise gesprochen.

„Ja?“

„Passt auf euch auf. Es ist gefährlich da oben.“

Johann nickte wortlos, dann verließ er mit Albin das Haus.

Ein klarer Sternenhimmel umspannte das Dorf. Albin und Johann stapften zuerst zur Scheune, wo sie Ketten und Schlepphaken auf den Langschlitten luden. Dann zogen sie den Schlitten zum Dorfplatz, wo die anderen Knechte und nur wenige Bauern bereits warteten. Alle hatten sich warm angezogen, manche hatten Steigeisen dabei.

„Hätt mich ja gewundert, wenn der Albin mal als Erster hier gewesen wär“, feixte Ignaz.

„Hab halt so gut von deiner Schwester geträumt“, entgegnete Albin trocken.

„Und mehr wirst du auch nie machen, du Lump.“ Ignaz grinste Albin an.

„Na dann, auf geht’s.“ Mit diesen Worten stellte sich Josias Welter, einer der Bauern, an die Spitze. Der Zug setzte sich in Bewegung, zog durch das Dorf und dann am Friedhof vorbei, von wo ein bereits geebneter Weg den Berghochführte …

Die Hornschlitten, die wie riesige Holzrodeln wirkten, hatten eine Länge von ungefähr fünf Ellen. Die Kufen der beiden hölzernen Laufschienen waren mit Eisen beschlagen und hatten auf jeder Seite Holzstangen, mit denen man das beladene Ungetüm steuern konnte. Jeweils zwei Mann zogen mühsam einen Langschlitten den steilen Bergweg hinauf.

Johann hatte sein Haupt gesenkt und sah den Schnee unter sich dahinziehen. Er war bereits jetzt außer Atem, sein Blick fiel auf Albin, dem die Anstrengung nichts auszumachen schien.

Wie weit würde es noch sein? Und vor allem – würde er durchhalten?

Albin spürte Johanns Blick, sah die Anstrengung in dessen Gesicht. Er erinnerte sich daran, wie er zum ersten Mal ins Holz mitgenommen worden war, an den quälenden Aufstieg. Er war damals vielleicht acht Jahre alt gewesen. Kurz davor war er zu Jakob Karrer gekommen, da seine Eltern nicht mehr alle Mäuler stopfen konnten und so einen Platz für ihren Ältesten suchten. Also hatte ihn Karrer von Landeck hierher mitgenommen, und seither verdingte er sich unter ihm, was zumindest einen vollen Bauch sicherstellte.

Albin fragte sich trotzdem oft, ob es das wert war, in diesem Tal mit ihnen zu leben.

Immer wieder kam der Trupp an eingeschneiten Marterln vorbei, manche davon mussten Jahrzehnte alt sein. Einige waren nur simple Holzkreuze, in die Sprüche und Namen geschnitzt worden waren, andere waren mit geschmiedetem Eisen prunkvoll verziert, hatten ein kleines Dach und einen Behälter für eine Kerze.

„Ist das hier so eine Art Kreuzweg?“, wollte Johann wissen.

Albin schüttelte den Kopf. „Die Marterln sind für die, die nicht mehr heil heruntergekommen sind.“

Johann pfiff durch die Zähne. „Sind aber auch nicht grad wenig.“

Albin zuckte mit den Schultern.

Bei der nächsten Kurve warteten die anderen auf sie, verschnauften und rauchten Pfeife. Johann war dankbar für die Pause, er war außer Atem, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er zog sich den Mantel aus und legte ihn zu den Schlepphaken auf den Schlitten.

„Bist ja ein hitzköpfiger Geselle“, sagte Ignaz.

Albin legte seinen Arm um Johann. „Ach was, der will sich doch nur wieder pflegen lassen, was?“

Johann spielte mit und gab sich erbost. „Dann müsste ich ja auf eure werte Gesellschaft verzichten. Wie könnt ich denn nur?“

Josias gab seinem Knecht ein Zeichen, sie spannten sich vor den Schlitten. „Wenn ihr genug Luft habt zum Tratschen, dann können wir ja weiter.“

Langsam erhellte sich der Himmel. Die Sonne kletterte über den Bergkamm und durchflutete das gesamte Tal mit warmem Licht.

Die Sonnenstrahlen blinzelten durch die Baumwipfel und ließen den Schnee gleich einem Meer aus Diamanten funkeln. Johann und Albin blieben unwillkürlich stehen und genossen die Stimmung und die unbeschreibliche Ruhe, die in der Luft lag.

„Heut wird ein prächtiger Tag, wirst sehen“, kommentierte Albin das Naturschauspiel vergnügt.

„Wenn wir erst mal oben sind, bestimmt“, gab Johann zurück.

Sie gingen wieder weiter. Bald fiel Johann etwas auf: Je höher sie stiegen, desto öfter blickten die Männer vor ihm in den Wald zu ihrer Rechten, als würden sie etwas suchen. Ihre Gesichter waren unruhig, die Männer wirkten, als ob sie Angst hätten, dass irgendjemand aus dem Unterholz brechen und sie verschlingen könnte.

Irgendjemand – oder irgendetwas …

Johann verbiss es sich aber, Albin danach zu fragen. Er wusste, dass er nur wieder irgendeine Geschichte zu hören bekäme. Und dafür hatte er jetzt keinen Nerv, er brauchte seine ganze Kraft, um diesen verfluchten Berg hochzukommen.

Schließlich – nach einer Ewigkeit, wie es Johann schien – näherten sie sich mehreren riesigen Schneehaufen und damit dem Ziel ihres Aufstiegs. Unter den Schneehaufen waren die Bloche vergraben, sie maßen mehrere Fuß im Durchmesser und waren bis zu drei Klafter lang. Die Bloche waren im letzten Spätsommer gefällt und rund um das kleine Plateau aufgeschichtet worden. Der erste Schnee hatte sie beinahe völlig begraben.

Mittlerweile lachte die Mittagssonne vom wolkenlosen Himmel, und die Männer begannen, die Bloche vom Schnee zu befreien. Dann fingen sie mit der Verladung der massigen Stämme an. Sie schlugen die an Ketten befestigten Schlepphaken in die Bloche und wuchteten sie auf die Hornschlitten. Vier Männer waren pro Stamm vonnöten, die Schlitten ächzten unter der Last. Bis zu sechs Stämme kamen auf einen Schlitten, wurden mit Rinden und Taxen bedeckt, mit Ketten festgezurrt und mit Schlepphaken gesichert. Die untersten Bloche waren vorgeschoben und dienten als Sattel.

Als alle Stämme verzurrt waren, setzten sich die Männer und begannen, ihre Jausen auszupacken. Johann öffnete erwartungsvoll das Bündel mit dem Essen, und als er sah, was drin war, begann sein Magen zu knurren. Elisabeth hatte ihnen Brote gemacht, aber dem Duft nach zu schließen keine gewöhnlichen. Johann teilte die Brote, gab die Hälfte Albin, dann biss er gierig in eines hinein. Schweineschmalz quoll zwischen der harten, würzigen Rinde hervor, Johann leckte es ab und schloss die Augen. Allein dafür müsste man diese Frau heiraten, dachte er.

„Allein dafür lohnt es, sich unterm Karrer zu verdingen, was?“, bestätigte Albin Johanns Gedanken.

„Zumindest unter seinem Töchterchen“, entgegnete Johann leise genug, dass die anderen es nicht hörten.

Albin lachte. „Du gibst nicht auf, was?“

Je länger die Jause dauerte, desto unruhiger wurden manche der Männer, besonders Josias Welter. Johann beobachtete sie eine Weile, dann konnte er sich nicht mehr beherrschen. „Was ist es denn, das euch so sehr beunruhigt?“

Die Männer blickten ihn an, als wären sie bei etwas Verbotenem erwischt worden, alle schwiegen.

„Was für eine Gefahr lauert in diesen Wäldern?“, setzte Johann nach. „Eber? Bären? Oder etwas anderes, das –“

„Im Wald ist nichts“, erwiderte Ignaz wie aus der Pistole geschossen.

„Wenn du nicht drüber reden willst, kannst du das auch sagen, aber anlügen brauchst mich nicht, Ignaz.“

„Ich lüg?“ Das ließ dieser nicht auf sich sitzen. „Ihr habt das alle gehört, das ist Ehrabschneiderei!“

„Ach komm“, versuchte Albin ihn zu beruhigen. „Der Johann ist ja nicht blind.“

„Albin, halt dich zurück!“, maßregelte ihn Josias scharf.

„Hab schon verstanden, dann halt nicht“, entgegnete Johann verärgert.

Unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Nach einer Weile räusperte sich Ignaz. „Es geschieht nur in den besonders kalten Wintern …“

„Ignaz, ich hab doch –“

„Was soll’s, Josias? Der Johann wird zumindest die nächsten Monate mit uns verbringen müssen, da ist es nur recht, wenn er es weiß“, nahm Albin Ignaz in Schutz.

Josias drückte mit einem Knurren sein Unverständnis aus, holte eine silberne Dose aus seiner Lodenjacke und zog lautstark eine Prise Schnupftabak. Er nieste dröhnend, dann nickte er in Richtung Ignaz. „In Gott’s Namen, dann erzähl’s ihm halt. Aber mach schnell.“

Ignaz sah Johann ernst an. „In den kältesten Wintern kommen sie von oben und holen sich was zu fressen.“

„Wer?“, fragte Johann ungeduldig.

In diesem Moment hörten die Männer ein Schreien aus dem Wald.