XXVIII

Es war dämmrig geworden. Im Dorf war es sehr still, die Ereignisse des Tages hatten dazu geführt, dass die Bewohner zu Hause blieben und die Türen verriegelten.

Vor dem Stadl, in dem Jakob Karrer und der Soldat eingesperrt waren, patrouillierten zwei neue Wachposten. Sie hatten sich aus Schutz gegen den immer heftiger werdenden Schneefall dicke Mäntel umgehängt. Keiner sagte ein Wort, bis der eine den anderen in die Seite stieß und grinste.

„Da schau her! Hoher Besuch.“

Elisabeth näherte sich, sie trug einen kleinen irdenen Topf. Sie blieb vor den beiden Soldaten stehen.

„Was willst du?“, fragte sie einer der beiden barsch.

„Ich bring Essen für meinen Vater“, antwortete Elisabeth.

„Essen? Zeig mal her!“

Widerwillig hob sie den Deckel. Der Geruch von Fleischsuppe entströmte dem Topf, der Soldat sog den Duft tief ein. „Euch fehlt’s ja an gar nichts, wie mir scheint. Immer das gleiche mit euch Bauern. Z’erst heißt es, ihr habt nichts, und wenn man das Dorf schleift, findet man Vorräte, dass der Churfürst genug hätt.“

„Wir haben nur das Nötigste für den strengen Winter. Und von dem fresst ihr uns keinen geringen Teil weg“, antwortete Elisabeth verärgert.

Der Soldat zuckte ungerührt mit den Schultern. „Ich würd eh lieber dich fressen!“ Er setzte ein beinahe zahnloses Grinsen auf. „Aber meinetwegen, gib deinem Vater halt was. Zu ihm lassen kann ich dich aber nicht.“ Er klopfte mit dem Gewehrkolben gegen die Holzwand, die breite Spalten aufwies. „Karrer! Herkommen!“

Der andere Soldat musterte Elisabeth und grinste dreist. „Ich bin auch hungrig. Hast mir nichts mitgebracht?“

Elisabeth beachtete ihn nicht. Sie beugte sich vor, versuchte durch den Spalt in der Wand des Stadls etwas zu erkennen. Aber sie sah nichts, nur altes Stroh und –

Plötzlich schälte sich vor ihr das zornige Gesicht von Jakob Karrer aus der Dunkelheit.

Elisabeth zuckte zurück, fasste sich aber schnell wieder. „Vater, ich hab dir –“

„Was machst du hier? Scher dich weg!“, fuhr er sie scharf an.

„Aber ich wollt doch nur –“

„Hast du mich nicht verstanden? Mach, dass du heimkommst, und verriegle das Haus! Ich brauch keine Hilfe!“

Und so plötzlich, wie es aufgetaucht war, verschwand sein Gesicht wieder in der Dunkelheit.

Elisabeth stand reglos da. Auch in der Gefahr zeigt ihr Vater keine Spur von Menschlichkeit. Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie wollte sich vor den grinsenden Soldaten keine Blöße geben.

Oder hatte ihr Vater sie nur so angefahren, damit sie nach Hause ging und sich vor den Soldaten fernhielt?

Elisabeth atmete tief die eisige Luft ein, bis die Kälte ihre Lungen zu zerschneiden drohte. Dann ging sie langsamen Schrittes vom Stadl weg, den Topf achtlos in der Hand. Die Wachen blickten ihr nach.

„He, Dirne,“ rief der eine, „ich hab noch immer Hunger!“

Ohne anzuhalten warf Elisabeth den Topf in den Schnee und ging unbeirrt weiter.

„Ersticken sollst dran …“, murmelte sie zornig.

Die Dämmerung brachte die Kälte der Nacht mit sich, und der Wachposten vor Franz Karrers Haus stellte sich den Kragen auf. Von drinnen war kein Laut zu hören. Die Verwundeten versuchten zu genesen, und ihre Kameraden teilten mit ihnen die Ruhe, denn Ruhe war in ihrem Leben kostbar und vielleicht das einzige Wertvolle, das ihnen noch geblieben war.

Im obersten Stock warf eine Ölfunzel Licht durch das kleine Fenster.

„Ihr wolltet mich sprechen.“ Albrecht sah seinen Kommandanten fragend an. Dieser saß vor einem wuchtigen Tisch, auf dem er mehrere Karten ausgebreitet hatte. Er blickte auf und begann, sich eine Pfeife zu stopfen.

„Komm rein, Albrecht, und mach die Tür zu“, befahl er ruhig.

Albrecht tat, wie ihm geheißen.

„Setz dich.“

Der alte Soldat setzte sich auf einen wackligen Stuhl, der unter seinem Gewicht knarrte.

„Über ein Jahrzehnt kämpfen wir schon gemeinsam“, fuhr der Kommandant fort, „über ein Jahrzehnt, in dem ich es immer vermieden habe, Zivilisten unnötiges Leid zuzufügen, sofern es in meiner Macht stand. Das weißt du am besten, oder Albrecht?“

Albrecht nickte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. So nachdenklich hatte er seinen Vorgesetzten selten erlebt.

„Aber was soll ich mit diesen starrköpfigen Bauern machen? Ich denke fast, die tischen uns keine Lügen auf. Die glauben wirklich, dass es irgendeinen Fluch oder etwas in der Art gibt, und dass sie rechtens gehandelt hätten.“ Der Kommandant blickte seinen Adjutanten prüfend an.

„Der Meinung bin ich auch“, entgegnete dieser.

„Aber was heißt das für uns, Albrecht?“ Der Kommandant nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und blies die Rauchschwaden langsam in die Luft. „Wenn ich den fetten Bauern morgen hinrichten lasse, dreht vielleicht das ganze Dorf durch. Wir würden mit Sicherheit alle Verwundeten verlieren und hätten ein unvorstellbares Blutbad zu verantworten. Wir würden das gesamte Dorf schleifen müssen.“ Er machte eine kurze Pause. „Frauen, Alte, Kinder. Wir könnten es uns nicht leisten, auch nur eine Seele am Leben zu lassen.“

Albrecht fuhr sich mit der Hand nachdenklich übers Gesicht. „Ich weiß, Kommandant, ich weiß.“

„Und wofür das alles? Wegen einer Narretei, vor der ein jeder hier die Augen verschließt. Und den Verstand, Herrgottsakra!“ Er stand abrupt auf und ging zum Fenster. Unten sah er den Wachmann immer wieder leicht in die Hocke gehen, um sich aufzuwärmen.

Albrecht zögerte kurz. „Allerdings –“

Daraufhatte der Kommandant gewartet. „Ja, Albrecht?“

„Allerdings – was wäre, wenn Ihr morgen Gnade vor Recht ergehen lassen würdet? Sowohl was den fetten Bauern betrifft, als auch bei unserem eigenen Mann? Als Geste sozusagen.“

„Eine Geste?“ Der Kommandant musste leicht grinsen. Albrecht war nicht nur ein treuer Kampfgefährte, er war auch stets ein aufrichtiger Berater, der Situationen oft besser beurteilen konnte als er selbst. Er nickte. „Eine Geste, die selbst ein Tyroler Bauer, aber noch wichtiger, eine jede Bäuerin verstehen würde.“

„Nur so ein Gedanke“, spielte Albrecht seinen Vorschlag herunter.

Der Kommandant trat zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. „Gnade vor Recht. Eine vorweihnachtliche Geste. Ist gut, Albrecht.“

Dieser verstand und verließ den Raum.

Der Kommandant ging wieder zum Fenster und betrachtete das Dorf.

So soll es sein.

Und hoffte zugleich, dass bis morgen Früh niemand eine Dummheit begehen würde.

Jakob Karrer und der Soldat saßen sich stumm gegenüber. In der dunklen Scheune war es totenstill.

Karrer fixierte angespannt sein Gegenüber. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte die Veränderungen im Gesicht des Soldaten sehen: die schwarzen Verästelungen, die sich unaufhaltsam ausbreiteten, die blasse Haut …

Er wusste, was er zu tun hatte. Wieder einmal lag es an ihm.

Der Soldat schwitzte, war unruhig, außerdem kämpfte er mit dem Schlaf. Er nickte immer wieder kurz ein, und schreckte dann sofort wieder hoch. Er wusste instinktiv, dass er wach bleiben musste, spürte die Gefahr, die von der großen, stummen Gestalt ihm gegenüber ausging.

Die Zeit verging quälend langsam.

Schließlich verlor der Soldat den Kampf. Der Schlaf übermannte ihn, sein Kopf fiel nach vorn auf die angezogenen Knie.

Auf diesen Moment hatte Jakob Karrer gewartet.

Leise stand er auf. Fast beiläufig nahm er den wuchtigen Stiel einer abgebrochenen Haue, die neben ihm an der Wand lehnte, und glitt durch die Dunkelheit langsam auf den schlafenden Soldaten zu, bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden.

Er starrte auf den gleichmäßig atmenden Körper unter sich, der für ihn kein Mensch mehr war. Er war einer von ihnen, mit der Krankheit, die er so sehr hasste.

Tod und Verderben über euch.

Dann hob er den Stil und holte aus.

Genau in diesem Moment erwachte der Soldat, als hätte er den Tod gerochen. Er sah Karrer über sich, rollte sich blitzschnell auf die Seite und konnte so dem mörderischen Schlag gerade noch ausweichen. Dann schnellte er hoch und schlug Karrer den Stiel aus der Hand. Der stürzte sich auf ihn, der Kampf begann.

Stumm und unerbittlich.

Bis ein Schrei durch die Scheune gellte.

Draußen schreckten die beiden Wachsoldaten aus ihrem Halbschlaf auf.

„Was war das?“

„Ich weiß nicht. Ist das von drinnen gekommen?“

„Kann ich nicht sagen.“ Der Soldat spähte in das Innere der Scheune, konnte aber nichts erkennen. „Karrer? Was macht ihr da?“

Jakob Karrer sah entsetzt auf seinen Arm. Eine tiefe Bisswunde zeichnete sich ab, schwarz und unheilverkündend. Panisch versuchte er die Bissspuren abzuwischen, aber vergeblich.

Er blickte von seinem Arm zu dem Soldaten, der ihm gegenüber kauerte. Sah dessen blutigen Mund.

Er wusste, was die Verletzung bedeutete.

Nichts würde mehr sein, wie es war. Kein Hof, Grund und Boden, keine Elisabeth, keine Sonne, kein Leben mehr. Im Zwielicht dahinvegetieren.

Er würde wie sie werden …

Sein Arm pulsierte, ein warmes Brennen breitete sich schnell von der Wunde aus, über seine Brust und dann weiter, in seinen Kopf hinein. Er fühlte die Hitze, fühlte den roten Nebel, der sich hinter seinen Augen ausbreitete.

Jakob Karrer stieß ein Knurren aus.

Dafür würden sie büßen, sie alle, die ihm nicht geholfen hatten. Das gesamte Dorf.

Plötzlich war ein polterndes Geräusch zu hören. Das Tor wurde entriegelt, fahles Licht fiel herein. Dann stürmten die Wachsoldaten in den Stadl, blieben aber stehen, als sie die beiden Gestalten sahen, die sich reglos gegenüberstanden.

„Karrer? Was zum Teufel –“

Langsam, in einer gemeinsamen Bewegung, drehten sich Jakob Karrer und der Soldat zu den Wachsoldaten um …