XXIX

Am nächsten Morgen lag dichter Nebel gleich einem Leichentuch über dem Dorf. Er hüllte die Häuser ein und dämpfte jedes Geräusch. Man konnte kaum zwischen Himmel und Erde unterscheiden, so dicht war das geisterhafte Weiß.

Die Tür von Jakob Karrers Haus öffnete sich, Elisabeth schlüpfte heraus. Sie schloss leise die Tür und ging eilig den schmalen Pfad zwischen den Häusern entlang. In der Hand hatte sie eine flache, eiserne Pfanne mit noch warmem Mus. Vielleicht würde ihr Vater heute etwas essen. Wenn er überhaupt noch –

Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken.

Er ist dein Vater.

Natürlich war er das, trotzdem gab es tief, ganz tief in ihr drinnen eine Stimme, eine Stimme mit verführerischem Klang, die ihr sagte, dass es ihm recht geschehe, wenn –

Nein!

So etwas durfte sie nicht einmal denken. Er war ihr Vater, den zu ehren ihre Pflicht war.

Vor Elisabeth tauchte jetzt der Stadl aus dem Nebel auf. Sie ging zur Vorderseite, wunderte sich, dass keine Wache zu sehen war. Dann erstarrte sie.

Das breite Tor war aus den Angeln gerissen und lag im Schnee.

Elisabeth kam näher, blickte in den Stadl hinein. Was sie sah, ließ sie entsetzt aufschreien: Vor ihr lagen die Körper der Wachsoldaten, grausam verkrümmt und von wuchtigen Hieben entstellt.

Elisabeth drehte sich um und rannte aus dem Stadl.

Neben den Leichen, kaum zu erkennen, führten zwei Fußspuren in den Wald hinauf …

„Wir haben Euch gewarnt, dass das geschehen wird“, rief Benedikt Riegler aufgebracht.

Johann, Elisabeth und der Großvater hatten sich mit anderen Dorfbewohnern und Soldaten beim Stadl versammelt und folgten dem Disput zwischen dem Kommandanten und Riegler. Die beiden standen neben den Leichen der Wachsoldaten.

„Vier meiner Männer sind tot, seit wir in euerm verdammten Dorf sind, und du kommst mir immer noch mit deinen abergläubischen Geschichten?“, stieß der Kommandant hervor.

„Eure Männer waren schon so gut wie tot.“

„Wenn das so ist, dann trifft euch ja keine Schuld“, meinte der Kommandant ironisch.

„Wenn ihr uns nicht glaubt, steigt doch zum Kloster hinauf und seht selbst nach“, sagte Riegler provozierend.

„Das werden wir, Bauer, verlass dich drauf“, entgegnete der Kommandant.

Riegler stutzte, dann huschte ein Grinsen über sein Gesicht. „Eine weise Entscheidung.“

Auch Alois Buchmüller konnte sich ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen. Wie es schien, würden die Bayern nun genau das tun, was Jakob Karrer damals in der Schenke angesprochen hatte. Für einen Augenblick war sich Buchmüller sicher, dass sich ihre Probleme nun endlich lösen würden, und zwar ohne ihr Zutun.

Aber der Augenblick währte nur kurz.

„Wie weise meine Entscheidung ist, wirst du dann schon selbst merken. Ihr werdet nämlich mitkommen“, sagte der Kommandant ruhig.

Benedikt Riegler riss die Augen auf, sein Mund klappte auf und zu. Der Kommandant wandte sich an die Dorfbewohner. „Alle Männer im waffenfähigen Alter ziehen mit uns. Und Gnade euch Gott, wenn wir nichts finden.“ Dann drehte er sich zu Albrecht um. „Abmarsch morgen Früh bei Sonnenaufgang. Und sieh zu, dass die feigen Bauern vollständig antreten.“

Kajetan Bichter trat erregt zu ihm. „Das sind einfache Leute und keine Soldaten. In Gottes Namen, lasst die Sache auf sich beruhen und zieht aus dem Dorf ab.“

„Pfarrer,“ der Kommandant machte eine unheilverkündende Pause, „Ihr solltet Euren Leuten lieber Mut machen, damit keiner auf die Idee kommt, sich seiner Verantwortung zu entziehen.“ Er lächelte, dass Bichter fror. „Wenn auch nur einer heut Nacht flieht oder sich drücken will, und wenn’s die Dorfratte ist, dann werde ich meinen Männern gestatten, sich mit Eurer Herde zu amüsieren.“

Er fuhr mit gestrecktem Zeigefinger die Menge ab und blieb bei Elisabeth stehen. „Und mit diesem hübschen Schäfchen fangen wir an …“

Elisabeth wurde blass, Johann, der neben ihr stand, nahm ihre Hand.

Der Kommandant drehte sich wieder zu Kajetan Bichter. „Haben wir uns verstanden?“

Der Pfarrer nickte langsam.

„Gut, wir sehen uns morgen früh.“ Der Kommandant gab seinen Soldaten ein Zeichen, dann verließen er und seine Männer den Stadl.

Der Pfarrer starrte ihnen hinterher, schüttelte resigniert den Kopf und blickte Benedikt Riegler fassungslos an. „Wie konntest du es nur wagen? Wie konntet ihr alle es nur wagen? Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.‘ Der Herr! Und nicht du, Benedikt Riegler. Wisst ihr denn nicht, was denen widerfährt, die das Schwert führen?“

Riegler und die anderen blickten ihn ungläubig an.

Ohne eine Antwort abzuwarten, wendete sich der Pfarrer ab und wollte zur Kirche gehen. Als er sich an Johann vorbeidrängte, hielt dieser ihn an der Schulter fest.

„Pater, wollt Ihr denn gar nichts tun?“

„Du hast wohl den Kommandanten nicht gehört? Jetzt liegt unser Schicksal in Gottes Hand allein. Aber die rechte Sache wird bestehen …“, sagte Bichter. „So bete ich …“, setzte er leise hinzu.

Johann packte ihn fester an der Schulter. „Tut etwas, verflucht noch einmal! Ich weiß, dass Ihr dazu imstande seid!“

Kajetan Bichter sah Johann entgeistert an, tiefe Furchen der Verzweiflung im Gesicht. „Es ist zu spät, Schmied, zu spät für mich, für das Dorf – für uns alle. Gott allein wird nun richten.“

„Wenn das so ist, dann betet wenigstens zu Ihm. Für die Euren“, sagte Johann kalt und ließ Bichters Arm los.

Ein verwirrtes Lächeln huschte über das Gesicht des Pfarrers. „Für die Meinen … das werde ich.“ Mit langsamen Schritten ging er zur Kirche.

Unter den übrigen Dorfbewohnern machte sich Panik breit.

„Wir werden alle getötet“, rief Josias Welter verzweifelt.

„Wir müssen das Dorf verlassen, sonst gehen wir alle drauf“, warf Alois Buchmüller ein.

„Bist verrückt? Dann schleifen sie das Dorf mit Mann und Maus, du hast den Kommandanten doch gehört“, entgegnete Riegler wütend und packte Buchmüller am Kragen.

„Seid ruhig!“ Johanns Stimme drang durch das Stimmengewirr, und die Autorität darin ließ die anderen verstummen.

„Was habt ihr denn an Waffen?“, fragte er Riegler.

Der schüttelte den Kopf. „Nichts Richtiges. Wir sind doch –“ Er blickte zu Alois Buchmüller, den er immer noch am Kragen hielt, und ließ ihn verlegen los. „Wir sind doch nur Bauern.“

„Gut, dann müssen wir uns mit dem behelfen, was da ist“, überlegte Johann. „Sensen, Beile, Hauen, bringt sie in die Scheune vom Karrer, ich werd sehen, was ich tun kann.“

„Vergelt’s Gott, Johann“, sagte Riegler dankbar und drückte ihm die Schulter.

„Schon recht. Eine Hand wäscht die andere.“

Riegler nickte, dann verließen er und die andern Bauern den Platz vor dem Stadl.

Johann und Elisabeth machten sich mit Albin und dem Großvater auf. Als sie den Dorfplatz überquert hatten, nahm Elisabeth Albin zur Seite. „Begleit du bitte den Großvater nach Haus. Und bring gleich seine Sense mit, ihr werdet sie brauchen.“ Albin nickte, die vier trennten sich.

„Bis später, Großvater.“

Der alte Mann nickte nur, sagte aber nichts.

Johann und Elisabeth gingen stumm eine Weile nebeneinander, dann ergriff sie seine Hand.

„Johann?“

„Ja?“

„Kannst du uns wirklich helfen?“ Elisabeth blieb stehen.

„Ich hoff schon. Einen Versuch ist’s allemal wert.“

„Aber –“ sie blickte ihm in die Augen. „Warum tust du das alles?“

„Weißt das noch immer nicht?“ Er strich ihr sanft über die Wange.

Sie schüttelte den Kopf. „Ist das der einzige Grund? Es ist nur, weil du – so wie du vorhin mit den Leuten geredet hast …“ Sie holte tief Luft. „Du bist doch nicht wirklich nur Schmied?“

Er lächelte. „Als Schmied kommst du herum in der Welt. Und überall lernst du etwas.“

„Johann, sei ernst.“

Sein Lächeln verschwand. „Ich werd’s dir einmal erzählen, Elisabeth, nur nicht jetzt. Eins kann ich dir aber sagen: Ich werd euch nicht im Stich lassen. Ich hab da einiges gutzumachen, und dieses Dorf ist vielleicht so etwas wie ein Neuanfang für mich.“

Sie drückte seine Hand, er zog sie näher zu sich. „Dieses Dorf und vor allem eine seiner Töchter“, sagte Johann leise, beugte sich zu ihr hin.

Elisabeth schreckte zurück. „Nicht, da sieht uns doch ein jeder! Was werden die Leut denken?“

Dass ich nichts auf ihre Meinung geb, dachte Johann.

„Entschuldige, hast Recht“, antwortete er zögernd.

Elisabeth ging zum Haus, Johann folgte ihr.

Benedikt Riegler, der mit Josias Welter und Alois Buchmüller vor der Schenke stand, sah Johann und Elisabeth aus einiger Entfernung. „Schau, schau, was passiert, wenn die Katz aus dem Haus ist …“, murmelte er nachdenklich. „Wenn der Jakob das sehen könnt. Da würd nicht viel übrig bleiben von unserem Schmied.“

Josias Welter schüttelte den Kopf. „Wär ich mir gar nicht so sicher. Der Johann – irgendwas hat der. Ich glaub, ich werd mich da oben eher bei ihm halten.“

„Benedikt – müssen wir da hinauf? Was ist, wenn wir uns gegen die Bayern auflehnen? Lass den Johann die Sensen und Messer scharf machen, und dann jagen wir die Sauhunde aus dem Dorf“, drängte Buchmüller.

„Viel zu riskant“, entgegnete der Dorfvorsteher bestimmt. „Da verlieren wir vielleicht schon hier im Dorf, denk an die Weiber und Gschrappen. Nein, vielleicht gelingt es uns schon am Weg hinauf, die Bayern umzustimmen. Vergiss nicht, dass es morgen sicher stürmen wird. Dann kommt wahrscheinlich eh keiner durch den Wald, und wir müssen so und so umkehren. Und wenn nicht“, er schwieg für einen Augenblick, „wenn wir doch ganz zum Kloster rauf müssen, mit den Soldaten, dann ist das vielleicht wirklich die beste Möglichkeit, mit ihnen endgültig aufzuräumen. Dann ist die Sache erledigt, ein für alle Mal. Keine gestohlenen Vorräte mehr, keine toten Viecher, keine Gottesgeißel.“ Er spuckte aus, dann grinste er hinterhältig. „Vielleicht hat der Herr uns die Soldaten nicht zufällig geschickt. Und weil wir gerade beim Herrn sind – passt ab jetzt auf, was ihr unserem Hochwürden gegenüber sagt. Der scheint nicht mehr ganz zu wissen, zu wem er gehört.“

„Amen.“ Buchmüller und Welter stimmten in das Grinsen mit ein.

Die Männer kehrten wieder in die Schenke zurück.

Gottfried stand am Ende des Dorfes Wache und fror im schneidenden Wind. Bis nach Mitternacht musste er hier noch ausharren, um dann vielleicht ein paar Stunden Schlaf zu ergattern. Vor dem Strafzug. Einer völlig sinnlosen Aktion, dessen war er sich sicher, und er war nicht der einzige in seiner Einheit, der so darüber dachte. Sollten die verfluchten Tyroler ihre Probleme doch alleine bewältigen.

Hatte es nicht gereicht, dass sie hier einmarschieren mussten, um des Churfürst Ehre?

Hatte es nicht gereicht, dass sie fast vollständig aufgerieben wurden, weil sie in einem Gelände kämpfen mussten, das ihnen nicht vertraut war?

Und hatte es nicht gereicht, dass sie nun auch noch hier überwintern mussten, in diesem düsteren Tal, in dem der Aberglaube jegliche Vernunft bezwang?

Das Geräusch von Schritten riss Gottfried aus seinen finsteren Gedanken.

Sophie näherte sich ihm zögernd und stellte sich dann neben ihn.

Eine Zeit lang sagte keiner der beiden ein Wort, sie teilten das Sausen des Windes und den Blick auf die Nebelwand, die durch das Tal unaufhaltsam auf sie zukam.

„Die anderen werden dich sehen, Sophie“, begann Gottfried.

„Ist mir egal“, gab sie kurz von sich. „War’s mir immer schon.“

Das Auf- und Abbrausen des Windes überbrückte die Stille, gaukelte ihnen vor, sie wären die einzigen Menschen auf Gottes Erde.

„Ich versteh, wenn du jetzt deine Meinung über mich geändert hast“, brachte Gottfried zögernd hervor. Sophie überlegte eine Weile.

„War ja nicht deine Schuld, hast ja auch keine Wahl. Niemand hat eine.“

„Mein Versprechen steht noch. Ich weiß, dass wir uns eigentlich gar nicht kennen, aber –“

„Dafür haben wir dann noch genug Zeit. Wenn du nur heil wieder zu mir zurückkommst.“

Gottfried griff ihre Hand. „Das werd ich. Der Strafzug kann auch nicht schlimmer sein als das, was ich hinter mir hab. Außerdem hat mich der Herrgott doch nicht umsonst hierhergeführt. Zu dir. Und ich versprech, dass ich immer für dich da sein werd.“

Die Nebelwand hatte sie erreicht und vollständig eingehüllt. Sophie gab Gottfried einen zärtlichen Kuss auf den Mund. „Dann hast mich ab jetzt am Hals, du bayerischer Depp. Hier hält mich nichts mehr.“

Gottfried sah sie mit freudestrahlenden Augen an. „Du weißt ja nicht, wie glücklich du mich damit machst.“

Sophie drückte ihn fest an sich, dann löste sie sich von ihm. „Ich muss wieder zurück zum Hof. Wir sehen uns morgen.“ Sie eilte davon.

Gottfried sah ihr nach, dann lächelte er. Es gab wieder eine Zukunft für ihn.