XLI

Der Wolf, der sich auf seinem nächtlichen Beutezug befand, schlich lautlos über den verschneiten Waldboden.

Der Wald war sein Revier.

Plötzlich vernahmen seine scharfen Ohren ein Geräusch – er stutzte. Dann roch er etwas. Der Wolf kannte den Geruch von Menschen, aber er kannte auch diesen Geruch.

Dann sah er Lichter, die von oben auf ihn zukamen. Schnell glitt der Wolf hinter einen Baum, drückte sich in den Schnee.

Das Licht der Fackeln schnitt sich durch den Wald, die vermummten Gestalten huschten fast geräuschlos durch das verschneite Unterholz, vorbei an dem Baum, hinter dem sich der Wolf versteckt hatte.

Als sie vorbei waren, kam der Wolf wieder hinter dem Baum hervor und blickte den Gestalten nach.

Fast schien es, als ob hier ein Raubtier dem anderen ausgewichen wäre …

In Albins Kammer warf Johann seine Habseligkeiten in den Rucksack und verschnürte ihn fest. Er blickte sich noch einmal um, sah Albins leeres Bett, sah –

Albin zwischen zwei Baumstämmen aufgespannt.

Die Kleidung in Fetzen gerissen.

Dieses Bild im nebligen Wald würde er nie mehr vergessen können. Johann fühlte Trauer in sich aufsteigen. Er hatte den Freund nicht einmal mehr zur letzten Ruhe betten können.

„Warst ein guter Kamerad, Albin. Danke dir“, sagte Johann leise und bekreuzigte sich.

Dann verließ er die Kammer.

Schneller, schneller.

Die vermummten Gestalten hatten den Rand des Waldes erreicht, Jakob Karrer vorneweg.

Gnade euch Gott. Wir werden euch alle töten.

Johann trat vor Jakob Karrers Haus und schmauchte sich eine Pfeife an. Die Häuser des Dorfes waren hell erleuchtet, die Bewohner packten ihre Habseligkeiten zusammen. Wie sie über die verschneiten Wege kommen würden, war eine andere Frage, aber irgendwie würden sie es schon schaffen, da war Johann sich sicher.

Sein Blick streifte die Wälder hinter dem Dorf. Fast war ihm, als hätte er ein Licht gesehen, aber –

Nichts.

Er musste sich getäuscht haben. Johann dämpfte seine Pfeife aus und ging wieder ins Haus.

Die Ausgestoßenen bewegten sich lautlos aus dem Wald auf das Dorf zu und warfen ihre Fackeln in den Schnee.

Elisabeth packte gerade ihre wenigen Habseligkeiten in eine Truhe, als Johann hereinkam und sich ans Fenster stellte. Konzentriert blickte er hinaus.

„Ich bin froh, dass der Großvater mitkommt“, sagte Elisabeth.

Johann reagierte nicht.

„Johann?“

Er wandte sich ihr zu, schien sie erst jetzt wieder bewusst wahrzunehmen. „Wir dürfen das Buch nicht vergessen“, sagte er.

Elisabeth nickte. „Das hab ich beim Großvater liegen lassen. Soll ich’s schnell holen?“

Die vermummten Gestalten hatten den Rand des Dorfes erreicht. Geräuschlos zogen sie ihre Waffen.

Plötzlich fühlte Johann die Gefahr so stark, dass es ihn siedendheiß durchfuhr. Sein Instinkt hatte ihn noch nie getrogen, seine Sinne schrien geradezu, dass sie so schnell wie möglich weg mussten.

Aber auch, dass es eigentlich schon zu spät war.

Johann trug Elisabeths Truhe zur Tür. „Wir müssen gehen. Jetzt sofort!“

„Aber die Frauen und Kinder –“

„Die auch! Hol den Großvater und das Buch, ich spann den Schlitten an!“

Sie verließen die Kammer und eilten die Treppe hinunter Richtung Eingangstür, als sie von draußen Rufe und Lärm hörten.

Johann stieß die Tür auf.

Elisabeth schrie.

Es war, als hätte sich die Hölle vor ihnen aufgetan.

Flammen schossen in den Himmel empor, einige der Bauernhäuser brannten bereits lichterloh. Schreiend liefen die Einwohner um ihr Leben, Mütter hatten ihre Kinder unter den Armen und suchten Schutz. Und um sie herum, wie Raubvögel: vermummte Gestalten, die alles töteten, was ihnen vor die Waffen kam.

Die Ausgestoßenen waren gekommen, um ihre Vergangenheit endgültig auszulöschen.

„Großvater! Wir müssen ihn holen!“, schrie Elisabeth und stürmte los.

„Elisabeth, bleib hier!“ Johann rannte hinter ihr her, wurde aber nach wenigen Schritten von einem Ausgestoßenen angefallen und zu Boden geworfen. Johann sprang auf, schlug seinem Gegner die Faust auf die Kehle, zog seine Axt und streckte einen anderen mit einem schnellen Hieb nieder. Der Vorgang hatte nur wenige Augenblicke gedauert.

Wo war Elisabeth? Johann bemühte sich, im Chaos des Gemetzels etwas zu erkennen, aber dichter Rauch verringerte die Sicht.

„Elisabeth!“ Seine Stimme verlor sich in den Todesschreien, die von überallher zu kommen schienen.

Johann zog sein Messer.

Elisabeth hatte das Haus ihres Großvaters erreicht. Sie wollte gerade die Tür öffnen, als sie von hinten gepackt und herumgerissen wurde. Eine vermummte Gestalt stand vor ihr und hob eine zugespitzte Haue. Elisabeth duckte sich, die Haue fuhr in die Tür und blieb stecken. Der Angreifer zog wütend daran, Elisabeth nutzte die Gelegenheit, hob einen Holzscheit vom Boden auf und zog ihn dem Ausgestoßenen über den Kopf.

Er fiel schwer zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Elisabeth riss die Tür auf und stürmte durch die Labe in die Stube. Die Tür zur Stube war aus den Angeln gerissen, Elisabeth erstarrte, als sie das Bild der Verwüstung vor sich sah: Stühle und Tische waren umgeworfen, die Holzvertäfelung eingeschlagen. Am Boden lag das große Kruzifix, das jahrhundertelang vom Herrgottswinkel aus über die Stube gewacht hatte. Jetzt war es in zwei Hälften geschlagen, der Corpus des Heilands zersplittert, das Holz mit feinen roten Tropfen übersäht.

Blut.

Elisabeth sah erst jetzt die Gestalt in der Ecke liegen, seltsam verkrümmt, leblos. Sie ging zitternd zu der Gestalt und kniete sich hin.

Nicht!

Sie berührte vorsichtig den Kopf –

Bitte nicht!

– drehte ihn zu sich, dann schrie sie auf.

Das fahle Gesicht ihres Großvaters starrte sie an.

Elisabeth schluchzte verzweifelt, sie wurde von einem alles erdrückenden Gefühl des Verlustes übermannt, der ihr das Herz zerriss. Nicht er, der ihr mehr Vater gewesen war als ihr leiblicher.

Oh Gott, warum er?

Elisabeth begann bitterlich zu weinen.

So viel, das sie noch zu sagen hatte. So wenig, das ihr nun blieb. So tief, dass ein unaussprechlicher Hass in ihr aufkeimte. Gegen sie.

Ein kalter Luftzug streifte ihren Nacken, als ob sich die Stubentür geöffnet hätte.

Schritte.

„Elisabeth …“ sprach eine dunkle und doch schrecklich vertraute Stimme, die sich tief in ihr Innerstes bohrte.

Ein Schatten fiel auf sie, hüllte sie und die Leiche ihres Großvaters ein.