XI

In den nächsten Tagen, als Johann und Albin gemeinsam auf dem Hof arbeiteten, den Stall sauber hielten, das Vieh fütterten und Brennholz schlugen, beherrschte Elisabeth Johanns Gedanken.

Er freute sich auf die gemeinsamen Mahlzeiten und vor allem auf die Abende, wenn sie alle zusammen waren und er Elisabeth in unbeobachteten Momenten ansehen konnte. Wenn dann alle in der Stube saßen, wenn nach dem Rosenkranz die Männer rauchten und Spanscheite schnitzten und Elisabeth und Sophie an den Spinnrädern saßen, wenn der eisige Wind um den Hof heulte, das Holz im warmen Ofen knisterte und das Kienholz, das in den Nischen an der Wand glomm, seinen harzigen Duft verbreitete und ein gedämpftes Licht warf – dann hätte Johann sich fast dazu hinreißen lassen, das ganze Dorfleben für eine zwar harte, aber heile Welt zu halten.

Wenn nicht –

Wenn nicht das Ave Maria gewesen wäre, mit dem ominösen Zusatz. Johann schien es, als würde dieser Satz das ganze Leben der Dorfbewohner beherrschen, ob bei der Arbeit, an den freien Tagen oder in der Kirche.

„Heilige Mutter Gottes, behüte uns vor der Bedrängnis und beschütze uns vor ihnen. Amen.“

Vor wem sollte die Mutter Gottes die Dorfbewohner beschützen?

Nun, er würde es herausfinden.

„O Herr, vergib uns unsere Sünden …“

Es war Sonntag, und die Dorfbewohner wohnten der heiligen Messe bei. Johann stand mit den anderen Knechten und Mägden hinter den vollbesetzten Sitzreihen, wo die Bauern und ihre Frauen saßen. Rechts saßen die Männer, links die Frauen, wobei die wohlhabenden Bauern wie Karrer und Riegler ganz vorne Platz genommen hatten.

In der Kirche wie im Leben.

Im Unterschied zur Messe, die während der Woche stattfand und der oft nur ein Mitglied pro Familie beiwohnte – vom Haus Karrer war das gewöhnlich Elisabeth –, hatten sich für die Sonntagsmesse alle herausgeputzt: die Bauern in dunklen Walkjankern, sauberen Hemden und dicken Lederhosen, die Bäuerinnen in dunklen Dirndln, die Haare sorgsam aufgesteckt. Das Gesinde trug schlichte, aber saubere Leinenhemden und -blusen. Alle, vom Bauern bis zum Knecht, waren ordentlich zurechtgemacht, gewaschen und gekampelt, wie es in Tyrol hieß.

Johann rieb sich die klammen Hände, es war eiskalt in der Kirche. Er beobachtete Kajetan Bichter, der mit zwei rotbäckigen Messdienern vorne am Altar stand und die einleitenden Worte zur Kommunion murmelte. Der Priester schien Johann nervös und abgelenkt. Er fragte sich, woran das lag, immerhin führte Bichter jede Woche dasselbe Ritual durch. Aber dann schwenkten Johanns Gedanken ab, verließen den Ritus, der ihm so vertraut war, und er ließ stattdessen seine Blicke durch die Kirche schweifen.

Der Bau war einfach gehalten, die bunten Fenster ließen nur wenig Licht herein, ihr spitz zulaufendes Ende wurde von dem allgegenwärtigen Symbol verziert. An den Wänden waren die Stationen des Kreuzwegs in blassen Fresken festgehalten, der Altar war zweckmäßig und schmucklos. Einzig die große Marienstatue links neben dem Altar stach Johann ins Auge, sie war wundervoll ausgearbeitet und in leuchtenden Farben bemalt.

Dann geschah etwas Wunderbares.

Es wurde heller in der Kirche, offenbar war draußen die Sonne hinter den Wolken hervorgetreten. Die Strahlen fielen durch die bemalten Fenster, warfen alle buntes Licht, bis auf eines: Hier brach sich das Licht und bündelte sich in einem weißen Strahl, der genau auf die Marienstatue fiel und sie engelsgleich erscheinen ließ.

Johann sah sich um, aber niemand schien davon Notiz zu nehmen. Er wandte sich an Albin, der neben ihm stand. „Das ist ja unglaublich“, flüsterte er ihm zu. „Was ist das für ein Fenster?“

„Das? Das haben sie vor langer Zeit aus der Klosterruine oben in den Bergen retten können“, flüsterte Albin. „Die einen sagen, dass es ein Wunder ist und an der Muttergottes liegt, dass durch das bunte Glas weißes Licht fällt, die anderen schreiben es der speziellen Maltechnik zu.“ Er grinste. „Kannst dir eh denken, zu welcher Gruppe ich gehör.“

„So viel wie du betest, würd ich sagen, zur ersten. Wundert mich, dass du nicht da vorne bei den Weibern hockst.“

„Wer würd das nicht gern“, entgegnete Albin grinsend und gab Johann einen so freundschaftlichen Rippenstoß, dass diesem die Luft wegblieb.

„Psssst …“, tadelte sie der Knecht neben ihnen und deutete mit den Augen nach vorn.

Johann folgte seinem Blick – Jakob Karrer hatte sich umgedreht und maß ihn und Albin mit wütendem Blick. Die beiden verstummten, Karrer drehte sich wieder um.

Kajetan Bichter hob am Altar feierlich den Kelch. „So kommet und empfanget nun den Leib des Herrn …“

Nach der Messe standen die Dorfbewohner vor der Kirche beisammen, ihr Atem dampfte in der eiskalten Luft. Die Wolken hatten sich verzogen, es war ein prachtvoller Wintermorgen geworden. Die Sonne stand hell am tiefblauen Himmel und glitzerte auf der dicken Schneeschicht, die das Dorf und seine Umgebung zudeckte.

Die meisten der Dorfbewohner, unter ihnen Karrer und Riegler, gingen zur Schenke. Johann sah, dass Elisabeth und Sophie bei den Gräbern hinter der Kirche standen, er blieb stehen.

Elisabeth wischte den Schnee von einem der Grabsteine, zündete das Licht im Lichtstein wieder an und kniete sich hin.

„Das Grab ihrer Mutter“, flüsterte Albin, der hinter Johann aufgetaucht war. „Sie ist bei Elisabeths Geburt gestorben. Obwohl ich nicht glaub, dass sie es lang beim Karrer ausgehalten hätt. Sie soll nämlich eine sehr nette Frau gewesen sein.“

Johann sagte nichts.

„Was ist mit dir, kommst noch mit in die Schenke?“, fragte ihn Albin.

„Gleich.“

„Wir werden über das morgige Eisschießen reden. Da solltest nicht fehlen.“

Johann blickte ihn verständnislos an.

„Kennst das nicht? Eis? Stock? Bier? Dann wird’s ja lustig!“ Albin rieb sich die Hände.

„Ich kenn’s schon, aber –“

„Aber?“

„Geh du schon mal vor, ich bleib noch einen Augenblick hier“, sagte Johann ernst.

„Wie du meinst“, antwortete Albin achselzuckend und folgte den anderen.

Elisabeth stand vom Grab auf und bekreuzigte sich. Johann sah sich um – sie waren allein. Er zögerte, dann nahm er sich ein Herz und trat zu den beiden Frauen.

„Elisabeth …“

„Ja?“ Sie drehte sich um.

„Ich wollte dir für alles danken, was du für mich getan hast. Als ich krank war und –“

„Das hätt doch ein jeder getan“, sagte Elisabeth kühl und blickte dann nervös in Richtung Schenke, in die ihr Vater gegangen war.

„Ja, aber du –“

„Ich hab jetzt keine Zeit, Johann. Wir müssen das Essen vorbereiten“, unterbrach ihn Elisabeth, nicht böse, aber doch bestimmt. Mit Sophie verließ sie den Friedhof. Sophie drehte sich noch einmal kurz um und warf Johann ein Lächeln zu, aber der war mit seinen Gedanken bereits woanders.

Was sollte er von Elisabeths Reaktion halten? Ihre Hingabe schien einer Notwendigkeit gewichen, ihre Wärme erkaltet. Johann war sich nicht bewusst, etwas Unredliches gesagt oder getan zu haben – was zugegebenermaßen bei Frauenzimmern nicht viel heißen mochte. Launisch wie Aprilwetter, hatte es ein Kamerad genannt, und nach der Szene vorhin war Johann geneigt, dem Manne zuzustimmen.

Mittlerweile war Johann allein zwischen den verschneiten Gräbern, Stille herrschte auf dem alten Friedhof.

Plötzlich hörte er knarrende Schritte hinter sich. Rasch drehte er sich um: Die alte Frau, die damals in der Schenke gewesen war, als er sein Hemd ausziehen musste, stand vor ihm. Maria Salzmüller.

Die Alte maß ihn schweigend. Johann fühlte sich unter ihrem durchbohrenden Blick unwohl.

Dann machte sie ein Kreuzzeichen, küsste Mittel- und Zeigefinger, streckte sie erst in Richtung der Wälder, die das Dorf umgaben, und zuletzt gegen Johann.

Johann kannte das Zeichen. Es war mala fide – das alte Zeichen gegen das Böse.

Die Frau spuckte ihm vor die Füße und verließ den Friedhof mit schlurfenden Schritten.

Alte Vettel, dachte Johann, während er sich am Kopf kratzte. Abergläubisch bis ins Mark. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine religiöse Eiferin, die das Dorf gegen ihn aufhetzte.

Beunruhigt ging Johann zur Schenke.