VI

Eine junge Frau beugte sich über Johann. Ihr Gesicht konnte er nicht genau erkennen, alles war verschwommen wie durch Beinglas, die Helligkeit pulsierte gleich dem Rhythmus seines Herzens. Es war ihm auch unmöglich, ganze Sätze zu hören, geschweige denn zu verstehen, es war, als würde er einer fremden Sprache lauschen, von der er nur wenige Wörter kannte. Trotzdem war ihm, als würde über ihn gesprochen.

Obwohl Johann nicht wusste, wo er war, fühlte er die Fürsorge, die ihn umgab. Er versuchte sich zu bewegen, aber er spürte seinen Körper nicht. Dann wurde sein Kopf mit einem Mal ganz leicht, er hob ihn langsam, blickte sich um.

Er stand vor einer Wand aus weißem Pulverdampf, eine Kakophonie aus Geschrei, Explosionen und Trommelwirbel umgab ihn, wurde immer lauter und verstummte in einem gleißenden Blitz.

So erdrückend und unerträglich Johann den Lärm empfunden hatte, so grausam schien ihm nun diese absolute Stille.

Gestalten zeichneten sich im Nebel ab, die dann genauso schnell verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Johann fühlte sich alleine, aber nicht fremd. All das hatte etwas Vertrautes, etwas, das zu benennen ihm jetzt die Worte fehlten.

Er hielt den Atem an.

Dann tauchte der Preuße aus dem Nebel auf, rief etwas und winkte ihm warnend zu, aber Johann konnte ihn nicht verstehen. Er versuchte auf ihn zuzulaufen, aber er kam nicht von der Stelle, und

Plötzlich fegte ein Sturm aus abgerissenen Körperteilen von Tier und Mensch um ihn herum, vermischt mit Holzsplittern, Erdklumpen und scharfkantigen Schrapnells aus Metall. Er war also dort, wo er schon immer gewesen war, mitten im

„Ich glaub, er kommt zu sich!“

Johann hörte wieder die Stimme der jungen Frau, sie klang aufgeregt.

„Großvater!“

Johann sah den alten Mann hereinhumpeln. Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf dem wettergegerbten Gesicht des Greises breit.

„Das ist zumindest ein Anfang. Wenn er jetzt auch noch –“

Ein Poltern hinter ihnen ließ ihn mitten im Satz verstummen. Im Türrahmen stand ein bulliger Mann.

„Hast ihn also doch bei dir aufgenommen, du alter Narr!“ Der Mann spuckte die letzten Worte verächtlich aus.

Die junge Frau versuchte sich mit gesenktem Haupt zu rechtfertigen. „Aber er ist keiner von –“

Ein wuchtiger Fausthieb gegen die Holztür ließ sie eingeschüchtert verstummen. „Hab ich mit dir geredet?“

Der Greis sprach beruhigend auf den Mann ein. „Jakob, der Bursch war schwer verletzt, der wär noch in derselben Nacht gestorben. Vielleicht kriegen wir ihn ja durch. Außerdem ist er keiner von denen. Und in meinem Haus –“

„In deinem Haus?“ Der andere wurde wütend. „In deinem Haus? Soweit ich weiß, ist das mein Haus, in dem du wohnen darfst. Du hättest damals alles verloren gehabt, Herr Vater. Alles!“

Der Greis senkte den Kopf.

Der Mann schlug erneut wütend mit der Faust gegen die Tür. Dann überlegte er und grinste hinterhältig. „Von mir aus. Wenn der da wieder gesund ist, wird er für seine Schuld bei mir einstehen, verstanden?“ Er wandte sich zu der Frau. „Und du vernachlässige ja nicht deine Pflichten im Haus!“

Der Mann verließ die Stube und warf die Tür hinter sich mit einem lauten Knall zu.

„Nicht alle Kinder sind Gottes Segen“, grantelte der Greis, die junge Frau seufzte resignierend.

Liebevoll strich er ihr über die Wange. „Nur manche.“

Johann schloss die Augen.

Irgendwann in dieser Nacht wachte Johann noch einmal auf: Durch den kleinen Spalt seiner Augen sah er die junge Frau an seiner Seite sitzen. Die schwach leuchtende Ölfunzel neben ihr umgab sie mit einem sanften, beinahe engelsgleichen Schein.

Johann wollte etwas sagen, konnte aber nur schwach den Mund öffnen. Gluthitze strömte durch seinen Körper, seine Stirn brannte, gleichzeitig fühlte er eiskalten Schweiß auf seinem Rücken.

Wundfieber.

Das Wort dröhnte durch seine Benommenheit.

Tod.

Die Frau beugte sich zu ihm, stützte seinen Kopf und gab ihm zu trinken. Es war heiß und bitter, scheußlich schmeckend, aber gut tat es allemal. Die Frau lächelte und sagte etwas, das Johann nicht verstehen konnte. Dann schwanden ihm die Sinne, und Dunkelheit verschluckte ihn.

Für lange Zeit.