IV

Er stand vor einer Wand aus weißem Pulverdampf, eine Kakophonie aus Geschrei, Explosionen und Trommelwirbel umgab ihn, wurde immer lauter und verstummte in einem gleißenden Blitz.

So erdrückend und unerträglich Johann den Lärm empfunden hatte, so grausam schien ihm nun diese absolute Stille.

Gestalten zeichneten sich im Nebel ab, die dann genauso schnell verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Johann fühlte sich alleine, aber nicht fremd. All das hatte etwas Vertrautes, etwas, das zu benennen ihm jetzt die Worte fehlten. Er hielt den Atem an, etwas schien auf ihn zuzukommen, es sah aus wie

Johann erwachte schweißgebadet, er zitterte am ganzen Leib. Sein Atem ging stoßweise, bildete weiße Wolken, die wie Rauchzeichen in der eisigen Luft aufstiegen und sich gleich wieder verflüchtigten. Johanns Blick fiel auf das Regenwasser, das gestern Nacht eine Pfütze vor ihm auf dem Bretterboden gebildet hatte – es war gefroren. Dann sah er in der gegenüberliegenden Ecke einen großen Haufen Schnee.

Der Winter war angebrochen.

Johann stand hastig auf, schwankte aber und musste sich an dem Holzträger über ihm festhalten. Die linke Seite seines Körpers glühte, er hörte das Blut in seinem Kopf rauschen, spürte, wie Arme und Beine schwächer wurden, ihm den Dienst zu versagen drohten.

So kann es nicht enden, so darf es nicht enden – reiß dich zusammen! Fass dir ein Ziel!

Das tat Johann. Er konzentrierte sich auf sein heutiges Ziel – eine feste Unterkunft, wo er gesund werden konnte. Obwohl Tyrol dünn besiedelt war, gab es in diesen Tälern doch hin und wieder eine kleine Siedlung, ein Bergdorf oder zumindest eine Ansammlung von Weilern oder Hochalmen.

Dann los!

Johann drückte sich mit einem Ruck vom Träger weg, öffnete den Verschlag und blickte hinaus. Es hatte gut eineinhalb Ellen hoch geschneit, und der graue Wolkenhimmel schüttete die Schneeflocken noch immer aus, als hätte Gott alle Schleusen geöffnet. Dick tanzten die Flocken durch die Luft und hüllten alles in ein gleißend helles Kleid.

Johanns Mut sank, als er die frische Schneedecke sah. Jetzt würde jeder Schritt noch mühsamer werden. Aber es half nichts, er musste weiter.

Johann packte sein Bündel und trat aus dem Heustadl hinaus. Nach wenigen Schritten schon sank er tief in den Schnee. Kälte drang durch seine zerschlissenen Stiefel, seine Zehen wurden taub.

Das würde ein schlimmer Tag werden.

Johann drehte sich um, blickte ein letztes Mal auf den Stadl, der ihm zumindest für eine Nacht Unterkunft gegeben hatte. Gerade als er sich auf den Weg machen wollte, fiel ihm eine Schnitzerei im Pfosten oberhalb der Tür auf. Hier hatte jemand sorgfältig mit einem Stechbeitel einen Kreis geschlagen, doch anstatt ihn nur mit einem fünfzackigen Drudenfuß zu füllen, der in den ländlichen Gegenden vor nächtlichen Kobolden schützen sollte, enthielt dieser noch mehr Symbole: ein Kreuz, das den Kreis der Höhe nach durchtrennte, überlagert von zwei nach außen gekrümmten Linien, die ihren Ursprung am Fuße des Kreuzes hatten und deren Enden in die Punkte des Querbalkens ragten, wo sich die Nägel der Hände befinden sollten. Links und rechts des Kreises waren die griechischen Buchstaben X und P eingeritzt, die für Christus, den Erlöser standen.

Johann war diese Symbolik völlig unbekannt, es musste sich wohl um einen lokalen Ritus handeln.

Nachdenklich starrte er das Symbol an. Es übte eine eigenartige Anziehung auf ihn aus, wirkte unheilverkündend, schicksalhaft …

Ein dumpfes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Eine Ladung Schnee war vom eingestürzten Dach des Heustadls gerutscht. Johann nahm das als Mahnung, nicht zu viel Zeit zu verlieren, und machte sich auf den Weg.

Das Schneetreiben wurde von Minute zu Minute dichter. Es erschwerte die Sicht, und bald schien Johann von einer weißen Wand eingehüllt. Der Wind peitschte eine weiße, eiskalte Gischt über die Schneedecke, und es gelang ihm mühelos, jede sich bietende Öffnung in Johanns Gewand zu entdecken. Kälte breitete sich über Johanns ganzen Körper aus, aber nicht unangenehm – sie schien seine glühende Seite zu kühlen.

Gegen Mittag – war es Mittag? Er konnte es nicht sagen – ließ der Sturm ein wenig nach, was Johann als gutes Zeichen deutete. Weniger gut war, dass er nicht mehr sagen konnte, wie weit er sich von seiner Nachtstätte entfernt hatte oder wo er überhaupt war. Es würde ihn nicht wundern, wenn er gleich wieder auf den Heustadl stoßen würde, weil er im Kreis gelaufen war.

Aber spielte das noch eine Rolle?

Johann setzte sich auf einen Stein, der durch die Schneedecke ragte, atmete tief ein und aus. Die Anstrengung und das Fieber hatten ihn völlig ausgetrocknet, und obwohl er immer wieder Halt gemacht und eine Hand voll Schnee im Mund hatte zergehen lassen, plagte ihn der Durst.

Johann schätzte die Lage realistisch ein – er würde hier in dieser weißen Hölle sterben.

Seltsamerweise schien ihm die Vorstellung jetzt, als er darüber nachdachte, nicht mehr so schlimm wie noch vor ein paar Stunden. Er hörte den Wind heulen, spürte den Schnee in seinem Gesicht – irgendwie schien alles zu verschwimmen, alles war gedämpft, die Bäume um ihn herum, die Lichtung vor ihm, der Schatten auf der Lichtung …

Ein Schatten?

Johann sprang auf. In einiger Entfernung sah er, schemenhaft verschwommen, eine Gestalt. Er öffnete den Mund, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Mit letzter Kraft ging er der Gestalt entgegen.

Und musste erkennen, dass er einer grausamen Täuschung erlegen war.

Es war kein Mensch, der da vor ihm stand – es war ein hölzernes Kruzifix, fast völlig zugeschneit. Johann war zunächst tief enttäuscht, dann begannen seine Gedanken zu rasen. Führten nicht Wege zu einem Kruzifix? Er ließ sich zu Boden fallen und begann, den Schnee mit beiden Händen wegzuschaufeln. Er arbeitete verbissen, dann hatte er den Platz um das Kruzifix vom Schnee befreit.

Natürlich war da kein Weg.

Johann stieß ein hysterisches Lachen hervor, das nichts gegen Wind und Schnee ausrichten konnte, ein Mitleid erregender Laut, der sofort wieder im Sturm verklang.

Er sah sich um, dann blickte er das Kruzifix an. Mit langsamen Bewegungen befreite er den Heiland vom Schnee. Er erkannte, dass das Kreuz von einem Weidengeflecht umgeben war, das dem Symbol im Heustadl glich. Es strahlte etwas Fremdartiges, Ungeheuerliches aus. Trotzdem kniete sich Johann vor dem Kruzifix nieder – und dann betete er, mit voller Innbrunst, wie er seit Jahren nicht mehr gebetet hatte.

Johann war zwar christlich erzogen worden, aber die Erfahrungen der letzten Jahre hatten ihn immer mehr daran zweifeln lassen, ob alles Unrecht in Seinem Willen geschehe. Für ihn bedeutete die Religion entweder Zufluchtstätte der Verzweifelten oder Machtausübung für den korrupten Klerus. Nur in äußerster Not besann Johann sich auf seinen Glauben und rechnete sich somit zur ersten Gruppe, zu den Verzweifelten.

Das Kruzifix blickte stumm auf Johann herab. Er betete weiter um den richtigen Weg.

Dann hob er den Kopf und bekreuzigte sich langsam.

Hilf mir, Gott!

Eine kaum merkliche Bewegung im Unterholz zu seiner Rechten.

Johann wirbelte blitzschnell herum und suchte den Waldrand mit seinen Blicken ab.

Nichts.

Vielleicht war es ein Rotwild gewesen? Das bedeutete Nahrung – oder ein Mensch, das bedeutete Rettung.

„Ist da wer?“, rief Johann, aber er bekam keine Antwort außer dem Brausen des Windes. „Ich brauche Hilfe!“, versuchte er es erneut, als ihn ein heftiger Hustenanfall schüttelte.

Nachdem der Husten abgeklungen war, fiel Johann etwas auf. Auf der rechten Talseite war eine Spalte erkennbar, vielleicht ein kleines Seitental, das einen Ausgang aus dieser verlassenen Gegend bildete.

Warum sah er das erst jetzt?

Johann blickte schnell auf das Kruzifix, dann wieder auf die Spalte. Hoffnung keimte in ihm auf, vielleicht war noch nicht alles verloren. Die Spalte war nicht weit entfernt, in wenigen Stunden könnte er sie erreicht haben. Obwohl ihm das Vorhaben lächerlich erschien – er schätzte, dass er nicht einmal mehr eine volle Stunde schaffen würde –, fixierte er die Geländemarke und ging los …

Nach einer Stunde schleppte er sich nur mehr auf allen Vieren, aber er war immerhin noch in Bewegung. Johanns Verwundung sandte in regelmäßigen Abständen Signale aus, die sich wie eine angezündete Lunte durch seinen Oberkörper brannten.

Aber Johann beachtete den Schmerz nicht mehr.

Manchmal schien ihm, als wär er nicht mehr allein – der Wind heulte von den vergletscherten Einöden der Gebirgskette herab, sprach zu ihm, und immer wieder konnte er lachende Gesichter und höhnische Fratzen im aufkommenden Schneegestöber erkennen.

Schwindelgefühl überkam ihn. Johann blieb stehen, atmete tief durch.

Der Schwindel wurde stärker, Johann sackte vornüber in den Schnee. Er wollte sich aufrichten, schaffte es aber nicht mehr. Es war vorbei – und mit einem Male überkam ihn tiefe Ruhe, eine Geborgenheit, die er schon lange nicht mehr gefühlt hatte.

Hier war es gerade recht zu verweilen.