|14|Die Abordnung

Einige Jahre später.

Jetzt war es also doch passiert. Ungläubig las ich das Schreiben nochmals durch. Da stand es schwarz auf weiß: »Abordnung zur Staatsanwaltschaft Berlin – Melden Sie sich am 15. Dezember um 9:00 Uhr in der Personalabteilung der Staatsanwaltschaft in der Turmstraße 91 – Sie tragen ab diesem Zeitpunkt die Dienstbezeichnung Staatsanwalt.« Das war schon in zehn Tagen!

Ich hatte mich erst mit fünfundzwanzig Jahren (nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann und Tätigkeit als Immobilienmakler) entschieden, Jura zu studieren. Kurz vor meinem 30. Geburtstag legte ich das erste Staatsexamen ab und begann drei Monate später mit dem Referendariat, das zwei Jahre dauerte. Nach dessen Abschluss, also dem zweiten Staatsexamen, begann ich in einer internationalen Großkanzlei zu arbeiten. Gleichzeitig hatte ich mich jedoch auch bei der Senatsverwaltung für Justiz für das Richteramt beworben. Die Senatsverwaltung legte meine Bewerbung dem Richterwahlausschuss vor, und es klappte. Wenig später hatte ich meine Ernennungsurkunde als Richter in der Hand. Die Ernennung bedeutete zunächst eine Probezeit von rund drei Jahren, in der verschiedene Stationen zu absolvieren waren, regelmäßig Beurteilungen erfolgten und, im schlimmsten Fall, auch eine Entlassung drohen konnte.

|15|Als ich das Abordnungsschreiben zur Staatsanwaltschaft erhielt, waren bereits zweieinviertel Jahre meiner Probezeit verstrichen. Ich hatte die Zeit in verschiedenen Amtsgerichten zugebracht. Zunächst war ich dafür zuständig, psychisch Kranken Betreuer zuzuordnen, später für allgemeine zivilrechtliche Streitigkeiten, Verkehrsordnungswidrigkeiten und so weiter. Als Amtsrichter bearbeitete ich meine Fälle völlig selbstständig. Wenn ich Fragen hatte, konnte ich meine Kollegen aufsuchen, die sich immer Zeit für eine Antwort nahmen. Einmal hatte ich sogar einen Kollegen, der über ein »Zauberregal« verfügte. Das lief dann so ab: Ich schilderte ihm einen Fall (über dem ich schon eineinhalb Stunden in der Bibliothek mit Gesetzeskommentaren und Urteilen verschiedener Gerichte gebrütet hatte). Der Kollege sagte knapp: »Ja, ich weiß schon.« Dann holte er die Kopie einer Entscheidung oder Kommentarstelle aus einem der zahlreichen Aktenordner des »Zauberregals«. Er erklärte mir kurz die Lösung und gab mir die Kopie mit, die immer genau auf mein Problem zutraf. Dauer des Gesprächs: zwei Minuten. Man kann sich sicher vorstellen, wie schwer es mir fiel, ihn mit einem Problem mal nicht zu belästigen und stattdessen stundenlang in der Bibliothek zu suchen. Zumal der Mann jeden Tag von früh bis spät im Gericht war und stets freundlich auf Fragen reagierte. Da vor Ort aber mehrere Proberichter tätig waren, musste ich mich zügeln. Manchmal gab es in seinem Zimmer sogar einen kleinen Stau. Man wartete dann geduldig die Frage des Vordermanns ab (und lernte gleich etwas für den potenziellen nächsten Fall).

Mit dieser Tätigkeit am Amtsgericht war ich sehr zufrieden. Ich genoss die Freiheit, meine Entscheidungen selbstständig zu treffen und mir die Arbeitszeit einteilen zu |16|können. Einer Abordnung zur Staatsanwaltschaft stand ich daher eher ablehnend gegenüber. Es konnte eigentlich nur schlechter werden, oder? Dort war man in eine streng hierarchische Behördenstruktur eingebunden und hatte eine Unmenge von Dienstanweisungen, Richtlinien und Ähnlichem zu beachten. Hinzu kam, dass es bedrohliche Gerüchte über Proberichter gab, die mit der Fülle der zu bearbeitenden Akten nicht klarkamen, obwohl sie von früh bis spätabends arbeiteten. Über Proberichter mit Weinkrämpfen und diabolische Oberstaatsanwälte, die diese quälten (ich muss allerdings hinzufügen, dass die Gerüchte meist von Kollegen kamen, die selbst noch gar nicht bei der Staatsanwaltschaft gewesen waren).

Ich hatte den Abordnungsbrief gerade weggelegt, als mich auch schon ein Kollege, gleichfalls Proberichter, in meinem Zimmer aufsuchte. Ihn hatte dasselbe Schicksal ereilt. Gemeinsam ergingen wir uns noch eine Viertelstunde in düsteren Vorahnungen, wie es denn bei der Staatsanwaltschaft Berlin werden würde (Riesensauerei so kurz vor Weihnachten, wir kommen da nie wieder weg usw.).

Die anstehende staatsanwaltschaftliche Tätigkeit machte auch in meinem Freundeskreis die Runde. Eine Freundin kam begeistert auf mich zu und meinte, ich müsse ja ein richtiger Fuchs sein. Ein cleverer und mit allen Wassern gewaschener Ermittler oder so. Bei vielen hatte ich aber den Eindruck, dass sie irgendwie wortkarg wurden und meinem Blick auswichen. Das kam mir jetzt wiederum verdächtig vor. Hatten sie etwas zu verbergen? Erschrocken fragte ich mich gleich darauf, ob Staatsanwälte einsame Menschen sind. Die letzten Tage vor dem Abordnungstermin verbrachte ich mit leichtem Bauchgrummeln.