|154|Der neue Zellennachbar

Es war früher Nachmittag. Rainer und Sinan lagen träge auf ihren Betten. Rainer las einen Roman und Sinan hatte eine Zeitung aufgeschlagen. Es war ziemlich warm und sie unterhielten sich nicht viel. Die Stimmung war gereizt. Um die Hitze zu ertragen, hatten sie stets die Fenster zum Gefängnishof geöffnet. Der Nachteil war, dass ständig irgendein Idiot aus seiner Zelle irgendwelches Zeug in den Gefängnishof brüllte, was vor allem nachts schier unerträglich war, wenn man am Schlafen gehindert wurde.

Plötzlich rasselte der Schlüssel und die Zellentür ging auf. Wärter schoben einen weiteren Häftling in die Zelle, zeigten ihm das leere Bett und wollten die Zellentür von außen wieder verschließen. Sofort sprang Rainer wütend an die Tür und schlug mit den Fäusten dagegen:

»Das könnt ihr vergessen. Hier ist alles voll. Drei Leute in der kleinen Zelle bei dieser Hitze. Ihr spinnt wohl!« Die Wärter öffneten nochmals die Tür und erwiderten gelangweilt, dass Rainer ja Beschwerde einlegen könne. Für die hohen Belegungszahlen könnten sie schließlich auch nichts.

Jetzt schaltete sich der neue Häftling ein. Sinan schätzte ihn auf höchstens fünfundzwanzig Jahre. »Ich verwahre mich gegen diese Behandlung. Ich bin ein politischer Gefangener. Ich lasse an mir kein Exempel statuieren. Sie können mich doch nicht mit gewöhnlichen Kriminellen zusammensperren. |155|Das hat ein Nachspiel. Und wenn ich bis zum Europäischen Gerichtshof gehen muss.«

Die Zellentür fiel ins Schloss. Ungläubig starrte der neue Häftling auf die Tür. Als er sich umdrehte, hatte er in zehn Zentimetern Entfernung das wütende Gesicht von Rainer vor der Nase: »Gewöhnliche Kriminelle, ja?« Rainer ging wieder zu seinem Bett zurück und zischte ihm mit zusammengekniffenen Augen zu: »Am besten, du fängst noch mal ganz von vorne an, Kumpel. Das ist Sinan und ich bin Rainer.« »Benjamin«, erwiderte der Häftling kleinlaut mit rotem Gesicht. »Nichts gegen euch, aber den Kampf gegen die Globalisierung und die Kapitalistenschweine führen wir schließlich auch für euch. Mit diesen Maßnahmen hier versucht man uns mundtot zu machen. Das Gericht wird schon bald die Rechtfertigung für mein Handeln erkennen und mich freilassen.« »Ja, klar«, gähnte Rainer. Benjamin erzählte, was ihm »zugestoßen« war. Er war 23 und nach Berlin gekommen, um Soziologie zu studieren. Hier hatte er sich schnell einer Gruppe angeschlossen, die sich gegen die Globalisierung sowie Hab- und Machtgier der Reichen richtete. Durch spektakuläre Aktionen in der Berliner Innenstadt wollten sie auf ihre Ziele aufmerksam machen. Zunächst hatten sie sich an Ampelanlagen von Hauptstraßen postiert. Sie lauerten teuren Cabriolets auf und warfen während der Rotphase, wenn die Autos warten mussten, gefüllte Plastiktüten mit übel riechenden Fäkalien in die Fahrzeuge. Die Tüten platzten und liefen in den Fahrzeugen aus. Solche Aktionen alleine reichten natürlich nicht aus. Vor einiger Zeit waren sie ins Ausland gefahren, um in Göteborg zu demonstrieren, wo gerade der EU-Gipfel stattfand. Sie waren der Ansicht, dass nur klar sichtbare Aktionen in der |156|Nähe der Regierungschefs etwas brachten. Das widersprach nun wieder dem Sicherheitskonzept der Polizei und führte schließlich zu regelrechten Straßenschlachten. Dabei hatte Benjamin »aus reiner Notwehr« auch ein paar Pflastersteine auf Polizeibeamte geworfen. Außerdem hatte er sich an Steinwürfen »gegen das Kapital« beteiligt. Sinan und Rainer hatten so eine Ahnung, dass damit so ziemlich jeder gefährdet gewesen war, der sich an diesem Tag in einer Bankfiliale aufgehalten hatte.

In Göteborg waren derartige Massenausschreitungen bis dahin nicht vorgekommen. Die Polizei war jedenfalls auf die vielen gewalttätigen Demonstranten nicht vorbereitet. Sie bekam die Straßenschlachten nicht in den Griff, und so zogen sie sich über Stunden in der gesamten Innenstadt hin. Zweitausend Polizeibeamte waren drei Tage lang im Einsatz. Bei späteren EU- und G8-Gipfeln sah man sich aufgrund dieser Vorfälle gezwungen, den Sicherheitsstandard erheblich zu erhöhen.

Da die Polizei die Lage kaum beherrschte, war an Festnahmen oft gar nicht zu denken. Die Demonstranten waren meist vermummt, sie trugen Kapuzen oder Skimasken. Konnte die Polizei im Nachhinein noch Täter überführen? Sie konnte es mit beachtlichem Erfolg! Polizeibeamte hatten die Randalierer von Dächern aus mit ausgezeichnetem Filmmaterial aufgenommen. Am Tag nach den Krawallen führte die Polizei in erheblichem Umfang Personenkontrollen in der Innenstadt durch. Besonders von Verdächtigen im Alter bis 30 Jahre, die aus dem Ausland oder anderen Städten stammten, wurden die Personalien festgestellt und Fotografien gefertigt. Festnahmen konnte es zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht geben. Aber mit Hilfe der Fotografien |157|wurden später in akribischer Kleinarbeit die Filmaufnahmen von den Ausschreitungen ausgewertet. Es konnten eine Menge Täter überführt werden. Zwar waren die Gesichter der Randalierer häufig vermummt oder nur schlecht erkennbar. Sie trugen aber oft dieselbe Kleidung wie am Tag darauf, als sie bei den Personenkontrollen identifiziert wurden. Bei Benjamin waren es Turnschuhe, Jeans, ein Kapuzenpullover mit einem auffälligen Druckmotiv und ein militärisch aussehender Rucksack, die ihn überführten. Auf einigen Aufnahmen war er in Großformat und gestochen scharf bei Steinwürfen auf Polizeibeamte und die Scheibe einer Bankfiliale zu sehen.

Gegen Benjamin wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und die Angelegenheit schließlich den deutschen Polizeibehörden übergeben. Man erwartete eine Berichterstattung darüber, wie und mit welchen Ergebnissen der Fall hier weiterverfolgt wurde. Benjamin war schließlich schon wieder seit über einem Jahr in Berlin, als er in seiner Studenten-WG überraschend verhaftet und in Untersuchungshaft genommen wurde.

»Ich soll einen schweren Landfriedensbruch begangen haben. Der Richter hat beim Hafttermin gesagt, dass mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe droht. Das ist einfach lächerlich! Meine Organisation kümmert sich bereits um einen Verteidiger. Ihr werdet sehen, morgen werde ich hier rausgelassen. Ich bin schließlich kein Straftäter wie ihr, sondern habe nur von meinem aktiven Demonstrationsrecht Gebrauch gemacht«, verkündete Benjamin belehrend. Er hatte im Laufe seiner »Rede« immer mehr an Sicherheit gewonnen. Sinan fand, dass Benjamin sich recht gut hielt. Immerhin war es sicherlich sein erster Kontakt mit Strafverfolgungsbehörden. |158|Er kam bestimmt aus einem guten Elternhaus und die Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Moabit dürfte für ihn ein echter Kulturschock sein.

»Du bist genauso schuldig wie wir. Ein ganz gewöhnlicher Krimineller«, rief Rainer wütend. »Das Gefasel von deiner Organisation und dem Demonstrationsrecht geht mir ganz schön auf den Wecker. Bild dir bloß nicht ein, dass du was Besonderes bist.« Er schaute Benjamin grinsend ins Gesicht: »Du fährst genauso in den Bau wie wir.«

»Woher willst du das wissen«, erwiderte Benjamin aufgebracht und verzweifelt. »Du hast doch von Weltpolitik überhaupt keine Ahnung. Ich habe Politikseminare an der Uni besucht. Da muss man schon über ein bisschen Bildung verfügen, wenn man zu dem Thema den Mund aufmachen will.«

Sinan sprang von seinem Bett und schob Rainer zur Seite, der schon die Hände zu Fäusten geballt hatte. Er sah Benjamin fest in die Augen: »Du hältst jetzt besser die Klappe. Wir bestimmen, wie das hier in der Zelle abläuft, und nicht du. Daran kannst du dich schon mal gewöhnen. Mach hier bloß keinen Ärger, sonst kannst du was erleben. Bis morgen früh kommt dir jedenfalls keiner zu Hilfe.« Er versetzte Benjamin einen Stoß vor die Brust, sodass dieser rückwärts zu Boden fiel. »Und wehe, du lässt noch einen blöden Spruch über meine Bildung ab«, rief Rainer wütend.