|203|Erika L.

Ich verlas die Anklage in dem Raubprozess gegen Sinan H., nachdem das Gericht die Personalien des Angeklagten erörtert hatte. Das Gericht hatte nun einige Zeit für eine mögliche Einlassung des Angeklagten freigehalten. Der Verteidiger teilte jedoch mit, dass »derzeit« keine erfolgen sollte. Nach einer kleinen Pause wurden daher schon die Geschädigten Erika und Werner L. als Zeugen vernommen.

Der Gerichtswachtmeister rief zunächst Erika L. herein. Sie nahm auf einem kleinen Stuhl Platz. Vor ihr befand sich ein Tisch für Unterlagen, nicht größer als ein kleiner Schminktisch. Links von ihr saßen auf Augenhöhe der Verteidiger und der Angeklagte. Vor ihr stand erhöht die große Richterkanzel und rechts genauso erhöht die Kanzel des Staatsanwalts. Um das Gericht anzusehen (es waren zwei Berufsrichter, eine Berufsrichterin und zwei Schöffinnen), musste sie den Kopf zwar nicht in den Nacken legen, aber schon erheblich nach oben recken. Im Zusammenspiel mit der riesigen Decke konnte dies doch ein wenig einschüchternd wirken. Der Saal hatte noch dieselbe Innenausstattung wie vor hundert Jahren und drückte aus, um wie viel höher als Angeklagte und auch Zeugen Richter und Staatsanwalt damals eingeschätzt wurden und dass das auch so empfunden werden sollte.

Nach den Angaben zu ihrer Person ließ das Gericht der |204|Zeugin ausreichend Zeit für ihre Ausführungen zu den Tatvorgängen, die mittlerweile schon viele Jahre zurücklagen. Man merkte, wie Erika L. aufblühte, als sie von dem kleinen Ladengeschäft erzählte. Es war beeindruckend, wie sie sich mit ihrem Mann gegen die Arbeitslosigkeit gewehrt hatte und es schaffte, sich in der »neuen Zeit« trotz aller Widrigkeiten eine kleine Existenz aufzubauen. Die Frau hatte einen starken Willen und Charakter, was sie mir sofort sympathisch machte. Und ich hatte nicht das Gefühl, dass sie beim Gericht einen anderen Eindruck hinterließ.

Dann schilderte sie den Verlauf der Tat erstaunlich detailliert. Wie sie Feierabend machen wollten und die Tür öffneten. Wie sie erschraken, als die maskierten Täter sie in das Ladengeschäft zurückdrängten und mit einer Pistole bedrohten. Wie sie sah, dass sich ihr Mann wehrte und mit der Pistole geschlagen wurde. Wie sie aus ihrer Starre erwachte, als das Blut über das Gesicht ihres Mannes strömte und sie sich zu wehren begann. Wie sie selbst geschlagen wurde und ihre schöne neue Brille, die sie sich quasi vom Munde abgespart hatte, zersplitterte und zu Boden fiel.

Die Berufsrichterin stöhnte leise auf und meinte: »Das ist ja furchtbar.« Sie schaute kurz zu mir rüber, so als wollte sie sich vergewissern, ob ich auch alles mitbekommen hätte und was ich dagegen unternehmen wollte. Ja, ich hatte alles gehört, aber verurteilen musste das Gericht schon selber, dachte ich. Sollte sich der Tatverdacht in der Hauptverhandlung bestätigen, würde es jedenfalls keinen zu niedrigen Strafantrag meinerseits geben.

Erika L. wurde schließlich nach den Auswirkungen der Tat auf ihr weiteres Leben gefragt. Ja, sie hätten den materiellen Schaden von der Versicherung erstattet bekommen. |205|Sogar eine Entschädigung für die vorübergehenden Umsatzeinbußen. Trotzdem hätten sie den Laden schließen müssen. Sie sei einfach nicht mehr in der Lage gewesen, freundlich und aufgeschlossen auf Kunden zuzugehen. Genau das, was doch einen kleinen Laden an der Ecke ausmache. Schlimmer noch, sie habe regelrecht Angst vor Kunden gehabt. Jedes Mal, wenn ein Kunde den Laden betrat, habe sie sich fürchterlich erschrocken. War es womöglich einer der Täter? Sie berichtete von ihren Albträumen, die sie immer noch mehrmals in der Woche heimsuchten. Wie sie dann wieder mit den maskierten Tätern kämpfen musste. Sie erzählte von dem kleinen Imbissstand, in dem sie jetzt arbeitete und wo sie nur Speisen zubereitete, jedoch nie und unter keinen Umständen mit Kunden in Kontakt treten wollte. Sie beweinte nicht das Unglück, das die Täter über sie gebracht hatten, sondern pries das Glück, so verständnisvolle Arbeitgeber gefunden zu haben. Sie würden nie die Bedienung der Gäste von ihr verlangen.

Als sie mit ihrer Schilderung fertig war, hing einen Moment lang Schweigen in dem großen Saal mit seinen sieben Meter hohen Wänden und seinem großen Zuschauerbereich. Dem großen Saal, in den sich nicht ein einziger Zuschauer verlaufen hatte, um sich für das Unrecht zu interessieren, das Erika und Werner L. widerfahren war.

Alle mussten das Gehörte erst mal sacken lassen. Erika L. vergoss bei ihrer Zeugenaussage nicht eine Träne. Und ich war mir sicher, dass ich nicht der Einzige bei dieser Gerichtsverhandlung war, der nach diesen Ausführungen innerlich eine Träne wegdrückte. Es gab noch vereinzelte Nachfragen, und dann war Erika L. als Zeugin entlassen. Sie erhob sich, schaute dem Angeklagten kurz ins Gesicht, drehte sich um |206|und verließ den Gerichtssaal. Sie kam auch an den weiteren Verhandlungstagen nicht mehr zurück. Ein Rechtsanwalt vertrat jedoch in ihrem Interesse die Nebenklage gegen den Angeklagten.

Als Nächstes wurde Werner L. als Zeuge vernommen. Auch er konnte sich noch gut an die Tat erinnern. Die Platzwunde am Kopf war gut verheilt. Im Übrigen hatte er sich jedoch einer langwierigen kieferorthopädischen Behandlung unterziehen müssen, um die Folgen der Schlagverletzungen zu beseitigen. Gesichtszüge habe er damals leider nicht erkennen können, obwohl er einem der Täter die Maske vom Kopf gezogen habe. Sie lag dann wohl in dem Hausflur. Dann sei ja schon die Kriminalpolizei gekommen. Als es keine weiteren Fragen mehr gab, war der erste Verhandlungstag beendet.