|167|Der Vergewaltigungsprozess

Pünktlich um 9 Uhr begann der erste Tag des Vergewaltigungsprozesses. Der Fall wurde vor dem Schöffengericht verhandelt. Das Gericht bestand aus der Richterin und zwei Schöffinnen. Neben dem Angeklagten und seinem Verteidiger trat noch ein weiterer Rechtsanwalt für die Nebenklage auf. Er vertrat die Rechte des Opfers. Die Personalien des Angeklagten wurden abgefragt. Der dreißigjährige Peter Z. hatte ein Studium der Betriebswirtschaftslehre absolviert und arbeitete als Angestellter in einem Unternehmen. Von Anfang an machte er einen äußerst intelligenten Eindruck und gab sich gegenüber dem Gericht umgänglich und freundlich.

Ich verlas die Anklage. Die Mindeststrafe lag bei zwei Jahren Freiheitsstrafe. Würde die Strafe über dieses Mindestmaß hinausgehen, war klar, dass der nicht vorbestrafte Familienvater ins Gefängnis gehen musste. Eine Aussetzung des Vollzugs der Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt nach dem Strafgesetzbuch nur bei Strafen bis zu zwei Jahren in Betracht. Als Nächstes wurde zwischen Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidigung erörtert, ob die Verurteilung zu der Mindeststrafe (also doch noch Bewährung) in Betracht käme, sollte der Angeklagte die Vergewaltigung einräumen. Eine recht großzügige Belohnung eines Geständnisses ist gerade in Vergewaltigungsprozessen nicht unüblich. Es geht |168|nicht nur um die schwierige Beweislage, sondern auch darum, dem Opfer ein nochmaliges Erleben der Tat zu ersparen. Außerdem müssen sich Vergewaltigungsopfer im Zeugenstand einiges gefallen lassen, insbesondere was die Fragen der Verteidigung angeht. Manchmal kann man das schon als erniedrigend ansehen. Machen kann man dagegen allerdings nichts. Die unbeschränkte Verteidigung hat Vorrang.

Der Verteidiger verließ für kurze Zeit mit dem Angeklagten den Sitzungssaal, um diesen Punkt zu besprechen. Der war jedoch unter keinen Umständen zu einem Geständnis bereit und beteuerte seine Unschuld. Er gab nochmals ausführlich seine Darstellung der Geschehnisse wieder und unterstrich, dass sich die Zeugin hinterher von ihm zu einer Disco hatte fahren lassen. Er ging weiter in die Offensive und erklärte, dass er seiner Frau alles gebeichtet habe. Das sei schon sehr hart für ihn gewesen. Auch habe sein persönliches Umfeld von der Vergewaltigungsanzeige erfahren, sodass er jetzt ziemlich schlecht dastehe. Seine Frau habe ihm ihr Vertrauen geschenkt, dass es keine Vergewaltigung gegeben habe.

Dann kam natürlich die Frage, die in dieser Situation immer gestellt wird (und auch schon bei der polizeilichen Vernehmung gestellt worden war): Warum die Zeugin ihn denn vorsätzlich falsch einer so schrecklichen Tat bezichtigen sollte? Er wisse es auch nicht. Sie habe ihn mehrfach bedrängt, eine dauerhafte Beziehung einzugehen, was er immer abgewiesen habe. Wahrscheinlich habe sie gedacht, dass sie das durch Sex erreichen könne. Keine Ahnung, was in dem Kopf dieser Siebzehnjährigen vor sich gegangen sei. Vielleicht wolle sie sich jetzt rächen.

|169|Es passte alles, was er sagte. Er blieb während der Ausführungen bei dieser freundlichen und verbindlichen Art. Ganz die Ruhe selbst. Mir war das ein bisschen zu glatt und das eine oder andere Lächeln zu viel gegenüber dem Gericht. Insbesondere vor dem Hintergrund der erheblichen Strafandrohung wirkte mir das zu abgeklärt. Nicht, dass das etwas geändert hätte oder ich es hätte näher beschreiben können. Aber was ihn anging, hatte ich einfach ein ganz schlechtes Gefühl.

 

Als Nächstes wurde das Opfer Nina R. als Zeugin vernommen. Sie sollte alles nochmals schildern. Ihre Darstellung der Tat war knapp und abgehackt. Die Richterin unterbrach sie und forderte eine viel ausführlichere Aussage. Wie oft hatte sie den Angeklagten vor der Tat gesehen? Wie war das genau mit der Verabredung? Die Zeugin reagierte unwillig und meinte, dass das doch alles in den Ermittlungsakten stehe, zweimal schon habe sie es der Polizei detailliert berichtet. Die Richterin erklärte ihr geduldig, dass diese Niederschriften im Prozess nicht verwertet werden können und das Gericht die Geschehnisse außerdem von ihr persönlich hören wolle, um sich selbst einen Eindruck machen zu können. Nina R. berichtete nun recht umfangreich von den Ereignissen jener Nacht. Als sie aber zu der eigentlichen Vergewaltigung kam, umschrieb sie nur kurz, dass »er es dann gemacht« habe. Die erneute Schilderung vor all den Menschen war ihr wohl peinlich. Es nutzte aber nichts. Sie musste nochmals ganz genau erklären, wie der Angeklagte sie aufs Sofa geworfen habe. Wie und wo genau habe er über ihr gelegen? Mit welcher Hand habe er was festgehalten und wo gezogen? Was habe er dabei gesagt? Wie und womit |170|habe sie sich gewehrt? In welcher Position genau sei er in sie eingedrungen? Wie lange habe der Geschlechtsverkehr gedauert und sei es zum Samenerguss gekommen? Nina R. zitterte und musste weinen. Es gab eine Verhandlungspause von 15 Minuten. Dann ging es genau dort weiter. Ja, sie sei noch Jungfrau gewesen. Sie sei in der Hinsicht vielleicht etwas altmodisch. Aber sie habe sich ihre Jungfräulichkeit bewahren wollen, bis sie den richtigen Mann kennenlernen und mit ihm eine feste Beziehung eingehen würde.

Schließlich hatte sie die Vernehmung überstanden. Vorerst! Jetzt war der Verteidiger des Angeklagten an der Reihe. Er ließ es sich nicht nehmen, nochmals auf die Vergewaltigung selbst einzugehen. Seine Vorgehensweise war geschickt, wobei manchmal nicht ganz klar war, ob er eine konkrete Frage an die Zeugin stellte oder nur seine schlechte Meinung von Nina R. dem Gericht mitteilen wollte. Es müsse doch ein Leichtes gewesen sein, sich erfolgreich gegen die Vergewaltigung zu wehren? Nina R. sagte, sie habe den Angeklagten immerzu gebeten aufzuhören. Aus seiner Umklammerung habe sie sich nicht befreien können und in der fremden Wohnung Panik bekommen. Ganz schwach und hilflos habe sie sich gefühlt. Der Verteidiger blickte ihr tief in die Augen und fuhr sie scharf an. Sie solle ehrlich sein und zugeben, dass sie den Geschlechtsverkehr irgendwie auch gewollt habe. Die Zeugin verneinte das. Sie hatte wieder Tränen in den Augen. Helfen konnte ihr jetzt niemand. Sie musste da durch. Der Verteidiger prangerte an, dass die Zeugin schon zwei Wochen nach der Tat wieder in eine Disco gegangen sei. Er präsentierte Fotos, worauf Nina R. mit kurzem Rock zu sehen war. So schlimm könne es wohl doch nicht gewesen sein. Die Zeugin erklärte, sie habe sich |171|geschämt, es zu Hause aber auch nicht mehr ausgehalten. Sie habe mit ihren Freunden zusammen sein wollen. Der Verteidiger legte nach. Habe sie den Angeklagten nicht schon länger angehimmelt und von einer »tiefen Beziehung« gesprochen? Habe sie nicht verärgert und hysterisch reagiert, als der Angeklagte ihr entnervt immer wieder eine Absage erteilte? Nina R. erklärte, dass das alles erlogen sei. »Erlogen?«, der Verteidiger wurde aggressiver und bestimmender. »Das können Sie sicherlich sehr gut beurteilen. Lügen ist ja Ihre Spezialität.« Er beugte sich von der Verteidigerbank zu der Zeugin hinüber: »Alles gelogen, wie sonst wollen Sie erklären, warum Sie sich nach einer angeblich so schlimmen Tat von dem Angeklagten in eine Diskothek fahren ließen. Jeder normale Mensch wäre sofort weggerannt und hätte die Polizei verständigt! Aber Sie steigen natürlich in sein Auto und lassen sich dann auch noch in eine Diskothek bringen! Erklären Sie das!«

Ich wollte zum Verteidiger hinüberzischen, woher er denn so genau wisse, wie sich ein Vergewaltigungsopfer »normalerweise« verhalte. Aber das hätte nichts genutzt. Ich hätte für diese Unterbrechung nur einen Rüffel von der Richterin bekommen. Wie quälend diese Vernehmung für Nina R. war, konnten alle Beteiligten spüren. Ich hatte das Gefühl, irgendwie helfen zu müssen. Allein die Möglichkeiten fehlten mir. Nina R. lag angeschnallt auf einem Zahnarztstuhl und musste zusehen, wie der Verteidiger ein ums andere Mal den Bohrer ansetzte.

Die letzten Sätze hatte der Verteidiger in immer schnellerer Abfolge zur Zeugin hinübergebrüllt. Nina R. konnte ihr Verhalten nicht erklären. Sie habe damals nicht nachdenken können und sei kaum fähig gewesen, dem Angeklagten |172|zuzuhören oder etwas zu sagen, als dieser sie fragte, ob er sie irgendwohin bringen könne. Der Verteidiger zog weiter seine Bahnen um Nina R. Breit wälzte er es aus, dass sie mehrere Stunden in der Diskothek verbrachte, bevor sie zur Polizei ging. Schließlich kam er zu ihren »sexuellen Kontakten zu Männern«. Die Zeugin erklärte, dass es keine gegeben habe, schließlich sei sie noch Jungfrau gewesen. Der Verteidiger rief ihr aufbrausend zu, sie solle bloß nicht so scheinheilig tun. Sie wisse ganz genau, dass es auch andere Möglichkeiten wie Anal- oder Oralverkehr gebe. Nina R. entgegnete empört und mit vor Wut zitternder Stimme, dass er ein Schwein sei. Der Verteidiger grinste nur. Auf seine wiederholte Frage musste sie antworten und verneinte entsprechende Kontakte. Schließlich war er mit ihr fertig und sie konnte den Zeugenstand verlassen.

Damit war der erste Sitzungstag in diesem Prozess zu Ende. In der folgenden Woche sollten weitere Zeugen vernommen werden.

 

Während ich zu meinem Zimmer zurückging, ließ ich noch mal den Verhandlungstag Revue passieren. Hatte der Angeklagte sie nun vergewaltigt oder nicht? Der Knackpunkt war für mich, dass ich einfach keinen Grund erkennen konnte, warum Nina R. den Angeklagten fälschlicherweise einer so schweren Tat bezichtigen sollte. Natürlich gab es diese Fälle. Es war ein uraltes Problem. Von ihm wird schon in der Bibel (Buch Genesis, Kapitel 39) berichtet.

 

Josef kommt als Sklave nach Ägypten und wird an Potifar, einen Hofbeamten des Pharao, verkauft. Dieser lässt seinen ganzen Besitz in Josefs Hand und kümmert sich, wenn Josef |173|da ist, um nichts als nur um sein Essen. Josef ist schön von Gestalt und Aussehen. Nach einiger Zeit wirft die Frau des Herrn einen Blick auf Josef und sagt: »Lege dich zu mir!« Er weigert sich aber und spricht zu ihr: »Siehe, mein Herr kümmert sich, da er mich hat, um nichts, was im Hause ist, und alles, was er hat, das hat er unter meine Hände getan; er ist in diesem Hause nicht größer als ich, und er hat mir nichts vorenthalten außer dir, weil du seine Frau bist. Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?« Obwohl sie Tag für Tag auf Josef einredet, bei ihr zu schlafen und ihr zu Willen zu sein, hört er nicht auf sie. Eines Tages kommt er ins Haus, um seiner Arbeit nachzugehen, und niemand vom Gesinde ist anwesend. Da packt sie ihn an seinem Gewande und sagt: »Lege dich zu mir!« Er lässt sein Gewand »in ihrer Hand« und läuft hinaus. Da ruft sie nach ihrem Hausgesinde und sagt zu den Leuten: »Seht, er hat uns den hebräischen Mann hergebracht, dass der seinen Mutwillen mit uns treibe. Er kam zu mir herein und wollte sich zu mir legen; aber ich rief mit lauter Stimme. Und als er hörte, dass ich ein Geschrei machte und rief, da ließ er sein Kleid bei mir und floh hinaus.« Als ihr Mann nach Hause kommt, erzählt sie ihm dieselbe Geschichte: »Der hebräische Knecht, den du uns hergebracht hast, kam zu mir herein und wollte seinen Mutwillen mit mir treiben.« Als Potifar das hört, wie seine Frau ihm schildert: »So hat dein Knecht an mir getan!«, packt ihn der Zorn. Er lässt Josef ergreifen und ins Gefängnis bringen.

 

Die intimen Tatumstände, bei denen es meist keine unbeteiligten Zeugen gibt, machen eine unzutreffende schwerwiegende Verdächtigung relativ »einfach«. Auch das spätere |174|Durchstehen eines Prozesses und Inkaufnehmen einer Verurteilung des vermeintlichen Täters stellt für das fest entschlossene vermeintliche Opfer kein unüberwindbares Hindernis dar. Deshalb sind Vergewaltigungsprozesse auch so unglaublich kompliziert. Rache, Auseinandersetzungen in der Familie, Trennungskonflikte oder Streit um das Umgangsrecht mit gemeinsamen Kindern können das Motiv für eine Falschaussage bilden. Es gibt auch falsche Anzeigen, die quasi aus dem Nichts kommen und in keiner Weise ein Motiv erkennen lassen. Sie können das Ergebnis eines übersteigerten Geltungsbedürfnisses und einer massiven psychischen Störung sein. Diese Fälle sind besonders schwierig, vor allem, wenn die anzeigende Person sich ansonsten in ihrem Umgang mit anderen völlig normal verhält. Dann kann der Angeklagte zum Opfer werden. Bei einer Verurteilung stehen schwere wirtschaftliche Folgen und eine soziale Ausgrenzung (auch in der eigenen Familie) bevor.

Das menschliche Verhalten bei Falschverdächtigungen kann sehr komplex motiviert sein und eine Vielzahl von Beweggründen können eine Rolle spielen. Selbst in aussagepsychologischen Gutachten bereitet es Sachverständigen oft Schwierigkeiten, eine halbwegs gesicherte Stellungnahme zur Motivsituation anzugeben.

 

Bei diesem Fall stach natürlich ins Auge, dass Nina R. sich nicht massiv gewehrt hatte. Außerdem ließ sie sich hinterher von dem Angeklagten in eine Diskothek fahren.

War dieses Verhalten rational? Auf den ersten Blick sicher nicht. Aber was ist in einer solchen Situation schon normal? Das Fehlen massiven Widerstandes hielt ich jedenfalls nicht für verdächtig. Immerhin befand sie sich mit dem Angeklagten |175|allein in einer Wohnung und war körperlich weit unterlegen. Da konnte leicht das Gefühl entstehen, dass größerer Widerstand zwecklos war. Außerdem musste Nina R. befürchten, bei heftigerer Gegenwehr auch stärkere Gewaltanwendung erdulden zu müssen. Schwieriger war schon die Frage zu beantworten, warum sie nach der Tat in sein Auto gestiegen war. Das Verhalten eines Opfers gegenüber dem Täter bei Gewalttaten ist jedoch häufig schwer nachvollziehbar. Hinzu kamen der Schock und Gefühle wie Furcht und Scham. Die Traumatisierung durch diesen gewaltsamen erstmaligen Geschlechtsverkehr lieferte für mich auch eine Erklärung, warum die Zeugin zunächst mehrere Stunden blutend in der Diskothek saß, bevor sie auf Drängen von Freunden die Anzeige erstattete.

Schließlich hatte Nina R. ausführlich und gleichbleibend dreimal (zweimal bei der Polizei und einmal vor Gericht) die Tat geschildert. Und das unter erheblichem Druck. Im Falle einer Falschverdächtigung wäre das schon ein ziemlich abgebrühtes Verhalten für eine Siebzehnjährige gewesen. Ich konnte mir das nach meinem Eindruck in der Hauptverhandlung einfach nicht vorstellen.