|74|Das Interessante und das Langweilige am Sitzungsdienst

Mitte März bekam ich meinen ersten »Ritterschlag«. Ich erhielt das »kleine Zeichnungsrecht«. Nunmehr durfte ich meine Akten selbstständig, ohne Gegenzeichnung von Jens, bearbeiten. Nur Anklagen, Strafbefehle oder Verfahrenseinstellungen musste ich weiterhin Jens vorlegen. Ich war darüber recht glücklich, da es eine erhebliche Arbeitserleichterung bedeutete. Die Aktenbearbeitung ging jetzt deutlich schneller.

Auch an die Sitzungsvertretung in den Strafverhandlungen hatte ich mich mehr als nur gewöhnt. Es war eine willkommene Abwechslung zu der sonst eher monotonen Schreibtischarbeit, irgendwie das Salz in der Suppe. Meist wurden mehrere kleine Verfahren an einem Sitzungstag verhandelt. Manchmal gab es aber auch größere Fälle, die sich über Tage hinzogen.

Ende März musste ich für einen Kollegen zwei Hauptverhandlungstermine eines solchen »Mammutverfahrens« wahrnehmen. Telefonisch versicherte er mir, dass ich im Wesentlichen nur herumsitzen müsse, da ein »Konfliktverteidiger« in der Verhandlung sein Unwesen treibe. Auf meine Nachfrage erklärte er nur kurz, dass ich alles Weitere schon selbst mitbekommen würde. Aus der Handakte konnte ich ersehen, dass es sich um ein Verfahren gegen |75|Drogendealer handelte. Nicht die Leute, die in der U-Bahn oder gelegentlich im Park standen und verkauften, sondern schon etwas weiter oben in der Kette.

Ihr Revier war einer der größeren Parks in Berlin. Als »Operationsbasis« benutzten sie die Wohnung eines deutschstämmigen Drogenabhängigen, Bernd K. Er stellte seine Wohnung zur Verfügung und erhielt dafür täglich seine Drogenration und 10 Euro. In der Wohnung ging die Bande ein und aus. Größere Mengen an Drogen wurden dort in kleinste Kügelchen verpackt und anschließend in den Park zum Verkauf gebracht, wobei auch Bernd K. half. Der Drogenhandel im Park war natürlich kein Geheimnis und auch der zuständigen Polizeidirektion bekannt. Diese hatte ebenso wie andere Polizeidienststellen erhebliche Personalprobleme. Es gab viel zu wenige Polizeibeamte für viel zu viele Straftaten. Die Beamten versuchten im Wechsel, so gut es ging, das Geschehen im Park im Auge zu behalten. Sie wussten, dass es nicht viel brachte, einen Dealer mit drei bis fünf Kügelchen zu erwischen. Die dafür zu erwartende Strafe war viel zu gering. Am Tag darauf würde ein anderer Dealer seinen Platz einnehmen.

Zu der Zeit war der Drogenabsatz im Park fest in arabischer Hand. Und so fiel den Beamten der deutschstämmige Drogenabhängige auf, der mehrmals täglich die Dealer »besuchte«. Sie beobachteten ihn und bemerkten den regen Publikumsverkehr in seiner Wohnung. Nach mehreren Tagen Observation warteten sie auf eine günstige Gelegenheit. Als Bernd K. allein zu Hause war und es ihnen gelang, einen größeren Teil der Beamten der Polizeidirektion zusammenzuziehen, klingelten sie bei ihm. Kaum hatte er geöffnet, drangen sie in die Wohnung, verschlossen die Tür und |76|warteten auf die Bandenmitglieder. Der Fehler war, dass sie keinen richterlichen Durchsuchungsbeschluss erwirkt hatten. Die Unverletzlichkeit der Wohnung stellt ein hohes Rechtsgut dar, in das nur mit richterlicher Genehmigung eingegriffen werden darf. Eine Ausnahme gilt in besonderen Eilsituationen, wenn der Richter nicht mehr rechtzeitig informiert werden kann. Dies war hier sicherlich nicht der Fall, da die Beamten die Wohnung schon mehrere Tage im Visier hatten.

In der Wohnung fanden die Beamten das typische Werkzeug für das Verschneiden und Verpacken der Drogen. Kurze Zeit später erschienen die ersten beiden Bandenmitglieder. Sie hatten sich per Handy angekündigt und Bernd K., neben dem Polizeibeamte standen, hatte versichert, dass »alles in Ordnung« sei. Die Besucher wurden an der Wohnungstür überwältigt. Sie hatten einen hohen vierstelligen Eurobetrag in szenetypischer Stückelung dabei, also Hartgeld und kleine Scheine (nicht größer als Zehn-Euro-Scheine). Abwechselnd klingelten die Handys der beiden, die routinemäßig die Lage in der Wohnung überprüfen sollten. Schließlich zwangen die Beamten sie, sich am Telefon zu melden. Doch zu spät – die Anrufer, die ständig untereinander Kontakt hielten, wussten schon Bescheid. Es kam niemand mehr mit Drogen in die Wohnung.

Die Wohnungsdurchsuchung ohne richterlichen Beschluss stellte einen schweren Verfahrensverstoß dar. Er hatte zur Folge, dass deren Ergebnisse nicht gegen die Beschuldigten verwendet werden durften. Dies galt aber nicht für die sonstigen Verdachtsmomente, so zum Beispiel die gestückelten Geldbeträge, die ein wichtiges Indiz für den Drogenhandel darstellten. Erschwerend kam hinzu, dass |77|Bernd K. gegenüber der Polizei alles gestanden hatte. Dies war alles verwertbar und konnte unter Umständen für eine Verurteilung reichen.

Nach angloamerikanischem Recht hätte es für die Beschuldigten deutlich besser ausgesehen. Ohne die rechtswidrige Durchsuchung der Wohnung wären die Beamten wahrscheinlich nicht an das auffällig gestückelte Geld und vor allem nicht an die geständige Einlassung von Bernd K. gelangt. Daher könnte man diese Beweismittel, »Früchte des verbotenen Baumes«, in den USA nicht verwerten. Diese strenge Ahndung von Regelverstößen der Polizei basiert auf der Annahme, man könne Polizeibeamte anders nicht wirkungsvoll von solchen rechtswidrigen Methoden abhalten. In Deutschland ist dies jedoch anders. Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen ausgeführt, dass eine dienstrechtliche Konsequenz (z. B. Abmahnung, im Wiederholungsfalle sogar drohende Entlassung) für die entsprechenden Beamten ausreicht. Es sei nicht angemessen, deshalb den gesamten Strafprozess lahmzulegen.

Der Fall gewann weitere Brisanz, da mittlerweile zwei der ermittelnden Polizeibeamten vorläufig vom Dienst suspendiert waren. Der Tatvorwurf lautete auf Drogenhandel.

Das Gericht wollte eigentlich nur sieben Zeugen vernehmen und hatte insgesamt drei Verhandlungstage anberaumt. Dies war aber nicht zu schaffen, da der »Konfliktverteidiger« ständig neue Fragen an den ersten Zeugen hatte. Aufgrund von Terminüberschneidungen mit weiteren anberaumten Strafverhandlungen musste das Gericht den Prozess deshalb nochmals von vorn aufrollen. Er lief mittlerweile über zwei Monate, wobei pro Woche zwei Verhandlungstage von 9:00 bis 15:30 Uhr angesetzt waren. In der Hauptverhandlung |78|sah es dann so aus, dass der Verteidiger (aus meiner Sicht) jede Menge belanglose Fragen an den Zeugen stellte. Wenn sich der Vorsitzende des Gerichts nach dem Sinn der Frage erkundigte, antwortete der Verteidiger barsch, dass er nicht in seiner Vernehmung des Zeugen gestört werden wolle und alle Fragen einen tieferen Sinn ergäben. Das würde sich später zeigen. Schließlich reichte es dem Vorsitzenden, und er wies eine Frage des Verteidigers an den Zeugen zurück. Der Verteidiger gab sich empört und fing an zu diskutieren. Schließlich beantragte er einen Gerichtsbeschluss. Das Gericht (Richter und Schöffen) zog sich zur Beratung zurück. Kurze Zeit später wurde die Frage durch Gerichtsbeschluss zurückgewiesen. Der Verteidiger war außer sich und beantragte eine kurze Unterbrechung. Er wolle eine Gegenvorstellung einreichen und müsse diese erst mit den Angeklagten besprechen. Das Gericht gab ihm fünfzehn Minuten. Anschließend beriet es über die Gegenvorstellung und verwarf sie. Der Verteidiger spielte den Geschockten und bat um eine kurze Unterbrechung, da er die Richter wegen Befangenheit ablehnen wolle. Dazu müsse er sich wieder mit den Angeklagten besprechen. Genervt gewährte das Gericht eine weitere Unterbrechung von zwanzig Minuten. Als die Zeit um war, erklärte der Verteidiger, dass er den Ablehnungsantrag auf seinem Laptop geschrieben habe und sein Drucker nicht funktioniere. Der Laptop lasse sich leider nicht an andere Drucker im Hause anschließen. Er brauche nochmals zwanzig Minuten, um den Antrag per Hand abzuschreiben. Auch dieser Antrag wurde nach kurzer Beratung des Gerichts zurückgewiesen. Der Verteidiger meinte, er verstehe jetzt die Welt nicht mehr und wolle eine Gegenvorstellung bringen. Die müsse er aber erst mit den |79|Angeklagten besprechen, was sicherlich zwanzig Minuten in Anspruch nehmen werde. Als schließlich auch diese abschlägig beschieden wurde, erklärte der Verteidiger unbeeindruckt, dann könne er wohl nichts machen. Und stellte die nächste Frage. Das Spiel begann von Neuem.

Um 15:30 Uhr ging der Sitzungstag zu Ende und in den sechseinhalb Stunden war wirklich nichts passiert. Ich bewunderte die Richter, wie sie die ganze Zeit über äußerlich gelassen geblieben waren. Empört fragte ich mich, wie lange der Verteidiger wohl den Zeugen noch befragen wollte. Eine Woche oder sogar zwei?

 

Zum Glück musste ich diese Termine nicht mehr absitzen. Für die folgende Woche wurden mir andere Fälle zugeteilt. Im ersten Verfahren (unerlaubter Waffenbesitz) erschien der wichtigste Zeuge nicht, sodass ein neuer Termin notwendig war. Der zweite (gefährliche Körperverletzung) endete schnell, da der Angeklagte ein Geständnis ablegte. Beim dritten Fall handelte es sich um sexuelle Belästigung. Tatort war die Damentoilette des Arbeitsamtes Berlin-Reinickendorf. Dort sind die einzelnen Abteile durch ungefähr 2,30 Meter hohe Trennwände voneinander abgegrenzt. Darüber sind es nochmals etwa 1,50 Meter bis zur Decke. In der mittleren Kabine hatte sich eine etwa fünfundvierzigjährige Frau auf die Toilette gesetzt. Kurze Zeit später ging eine männliche Person in die rechte Kabine. Der Mann stellte sich auf die Toilettenschüssel und zog sich mit den Händen vorsichtig die Trennwand hoch, sodass sie ihm nur noch bis zum Gürtel reichte. Er beugte sich leise zu der Frau hinunter, die nichts bemerkte. Dann strich er ihr vorsichtig über die Wange und raunte: »Du geile alte Sau!« Die Frau rannte |80|schreiend aus der Damentoilette und musste sich später in psychiatrische Behandlung begeben. Der Mann verschwand spurlos, jedoch gelang es der Spurensicherung, im oberen Bereich der Trennwand auf beiden Seiten identische Fingerabdrücke festzustellen. Die Überprüfung ergab einen Treffer, der Täter war bereits wegen sexueller Belästigung in einem Zugabteil der Deutschen Bahn vorbestraft. Der Angeklagte ließ sich über seine Verteidigerin dahingehend ein, dass er in den letzten Monaten mehrmals die Damentoilette des Arbeitsamtes aufgesucht habe, da die Herrentoilette immer überfüllt sei. Ihm sei wohl auch mal schlecht geworden, sodass er sich an der Wand abstützen musste. Für den Richter war das zu viel Zufall (mehrfach überfüllte Herrentoilette; mehrfach in die Damentoilette gegangen und zwei Mal oben – in zwei Metern Höhe! – Abstützen wegen Übelkeit). Hinzu kam, dass nach Aussage des Reinigungspersonals die Trennwände auch im oberen Bereich wöchentlich gründlich gereinigt wurden. Die einschlägige Vorstrafe war ebenfalls nicht hilfreich, um eine Verurteilung zu verhindern.