|184|Sinan wird zu meinem Fall

Der September kam und mit ihm ging Frau Eggers, unsere »neue« Staatsanwältin, in den Ruhestand. Kurz vor ihrem Ausscheiden hatte sie noch ihr vierzigjähriges Dienstjubiläum begangen. Vierzig Jahre Staatsanwaltschaft. Ich fand, die hatte sie gut weggesteckt. Sie war sehr freundlich und hatte eine fröhliche Art, die irgendwie mitreißend war. Zum Abschied veranstalteten wir eine kleine Feier in ihrem Zimmer, zu der auch unser Hauptabteilungsleiter Dr. Ring kam. Es gab Kuchen, Kaffee und auch ein Gläschen Sekt. Dr. Ring machte einen gut gelaunten Eindruck. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er Maja oder mich mit einem mahnenden Blick bedachte. Vorsorglich hielten wir uns jedoch im Hintergrund. Einen zweiten Termin hatten weder Maja noch ich bisher wahrnehmen müssen. Trotzdem hatten wir irgendwie ein schlechtes Gewissen. So als würde Dr. Ring mit erhobenem Zeigefinger vor uns stehen: »Sie hier beim Kaffeekränzchen und nicht bei Ihren Akten?«

Auch Gerlinde war seit einer Woche braungebrannt aus dem Urlaub zurück. Von ihrem Bandscheibenvorfall erholt, hatte sie mittlerweile die beiden Schleuserverfahren angeklagt. Im Café Jura gelobte sie hoch und heilig, keine schweren Akten oder gar Aktenkartons mehr ohne Hilfe herumzuschleppen.

Mitte September wurde mir telefonisch mitgeteilt, dass |185|ich die Sitzung in einem Prozess vor der Großen Strafkammer übernehmen sollte, für den mehrere Termine angesetzt waren. Kurz darauf suchte mich ein Kollege auf, der eigentlich für den Fall vorgesehen war, jedoch während mehrerer Sitzungstage Urlaub hatte, weshalb er den Fall abgab. Er meinte, eigentlich sei es ein »schöner« Raubfall. Ohne Frage stand dieses Adjektiv für die Beweislage und eine hohe Straferwartung. Eine DNA-Spur war aufgegangen. Der Angeklagte, einschlägig vorbestraft, hatte die Tat während seiner Bewährungszeit begangen. Der einzige Haken bei der Sache sei, dass der Angeklagte in einem gleich gelagerten Fall in Chemnitz freigesprochen worden war. Und das, obwohl der Angeklagte dort einen Fluchtversuch unternommen und »am Zaun gehangen« hatte. Er ließ mir die drei Bände Akten zurück und verschwand.

Ich las mir die Akten am Wochenende zu Hause durch. Angeklagter war ein Sinan H., der aus meiner Sicht nach Aktenlage klar zu verurteilen war. Dann telefonierte ich mit dem Kollegen in Chemnitz, der mir eine Urteilsabschrift schickte. Er erklärte, dass er gegen den Freispruch in Revision vor den Bundesgerichtshof gehen wolle. Nach dem Lesen der Urteilsgründe wurde ich hinsichtlich einer Verurteilung vorsichtiger. Musste ich in meinem Verfahren mit entsprechender Begründung auch einen Freispruch befürchten? Unter der Voraussetzung, dass Masken bei mehreren Überfällen eingesetzt werden, könnte man ja immer argumentieren, dass die Spur zwar von dem Beschuldigten stammte, es jedoch bei einer anderen Tat oder beim Anprobieren der Maske zu der DNA-Ablagerung gekommen sei. Und dass bei der hier angeklagten Tat ein anderer die Maske trug, ohne selbst Spuren zu hinterlassen.

|186|Am nächsten Tag suchte ich Jens auf, um mir in diesem Fall »die Karten legen« zu lassen. Jens hörte sich meine Fallschilderung an und meinte, dass ein Freispruch nicht ausgeschlossen sei. Er habe auch schon mal so einen Freispruch mit einer DNA-Spur erlebt und sich diesen »ganzen Mist mit letzten Zweifeln und Rechtsstaatsprinzip« anhören müssen, obwohl er sicher war, dass der Angeklagte der Täter war. Er schaute auf den Aktendeckel und meinte, dass der Fall aber vor einer angesehenen Kammer verhandelt werde. Sie habe bei der Staatsanwaltschaft einen guten Ruf und würde durchaus auch harte Strafen aussprechen. Der Vorsitzende sei während der Verhandlung immer recht freundlich und zugänglich gegenüber dem Angeklagten, würde dann aber »eiskalt« harte Strafen verhängen. Sein Spitzname sei die »lächelnde Guillotine«. Jens meinte, ich müsse den Vorsitzenden anrufen und über den Fluchtversuch informieren.

Der Vorsitzende entscheidet, welche Sicherungsmaßnahmen im Gerichtssaal getroffen werden und ob die Handschellen abgenommen werden können. Ich setzte ihn über Sinans Vorgeschichte in Kenntnis, er bedankte sich für meinen Anruf und versprach vorsichtig zu sein.