|101|Fluchtpläne

Sinan stieg mit den beiden Wachtmeistern aus dem Transporter und ging durch den Innenhof des Gerichtsgebäudes zum Verhandlungssaal. Es war der zweite Verhandlungstag. Seit einem Monat saß er jetzt in dem Gefängnis in Chemnitz. Fluchtmöglichkeiten hat er dort nicht erkannt. Es blieb nur der Transport von und zu dem Gerichtssaal. Wenn es eine Schwachstelle gab, dann hier.

Die Gerichtsverhandlung war schon eine ziemlich große Sache. Vorne thronten drei Richter in ihren Roben, links und rechts von den beiden Schöffen eingerahmt. Dann noch der Staatsanwalt, die Protokollführerin und seine Verteidigerin. Es gab sogar zwei oder drei Zuschauer.

Er konnte sich an den Überfall jetzt wieder genau erinnern. Ein Juwelierladen, den sie kurz vor Ladenschluss überfallen hatten. Sie waren maskiert, trugen Handschuhe und hatten Pistolenattrappen. Sonst hatten sie immer Klebeband zum Fesseln benutzt. Doch diesmal hatte jemand Handschellen besorgt. Damit fixierten sie die Angestellten an den Heizkörpern. Er wusste noch, dass er mit diesen blöden Handschellen nicht wirklich zurechtgekommen war. Als er eine der Angestellten endlich an die Heizung gefesselt hatte, stellte er fest, dass sein Handschuh in der Handschelle eingeklemmt war. Entnervt riss er sich los, wobei ein Stück davon an der Handschelle hängen blieb. Darauf mussten sie |102|seine genetischen Spuren entdeckt haben. Sein Verteidiger hatte ihm gesagt, dass nach dem eingeholten Gutachten die am Tatort gefundene Spur mit einer Wahrscheinlichkeit von 12 Millionen zu 1 von ihm stammte. Hinsichtlich eines Freispruches machte der Verteidiger ihm wenig Hoffnung und meinte, dass er im schlimmsten Fall eine Strafe von über sechs Jahren zu erwarten habe.

Nach Schluss des Verhandlungstages führten ihn die Gerichtswachtmeister wieder über den Hof zu dem Transporter. Die beiden waren kaum größer als er und unterhielten sich. Sie hatten ihn bisher vier Mal bei dem Transport zum Gericht oder zurück zum Gefängnis bewacht. Er hatte sich immer folgsam verhalten und hoffte, dass sich eine gewisse Routine bei ihnen eingeschlichen hatte und so die Aufmerksamkeit minderte.

Rechter Hand befand sich im Hof des Gerichts ein nur brusthoher Zaun. Da konnte er trotz Handschellen schnell rüberkommen. Dahinter lagen ungefähr zwanzig Meter Rasen, gefolgt von einem zwei Meter hohen Zaun, der oben weder durch einen Stacheldraht noch ähnliche Vorkehrungen abgesichert war. Dann kam auch schon eine stark befahrene öffentliche Straße. Die Frage war, ob er es schnell genug über den hinteren Zaun schaffen konnte, oder ob ihn die Handschellen zu sehr behindern würden. Zweifellos war es die Chance, auf die er gewartet hatte. Beim nächsten Hauptverhandlungstermin würde er es probieren.