|84|Haftakten und ihre Folgen

Ende März kündigten sich Neuigkeiten in unserer Abteilung an. Anna, wie ich auf Probe zur Staatsanwaltschaft abgeordnet, sollte nach über einem Jahr jetzt zu einem Gericht wechseln. Dafür sollte uns eine andere Proberichterin für zwölf Monate zugeteilt werden.

Ich hatte in diesen Tagen eine ganze Menge zu tun, da ich ein neues Ermittlungsverfahren mit zwei Beschuldigten aus Berlin-Neukölln zugewiesen bekommen hatte, die bereits in Untersuchungshaft saßen. In solchen Fällen muss sehr zügig ermittelt und möglichst schnell angeklagt werden. Die Strafprozessordnung schreibt vor, dass spätestens nach sechs Monaten die Anklage erhoben sein und das zuständige Gericht mit der Hauptverhandlung begonnen haben muss. Andernfalls droht die Freilassung der Beschuldigten. Nicht viel Zeit für den ermittelnden Staatsanwalt, zumal auch das zuständige Gericht einen Terminkalender hat und laufende Verfahren nicht einfach abbrechen kann.

Zudem bedeuten Untersuchungshäftlinge für den ermittelnden Staatsanwalt viel zusätzlichen Aufwand. So obliegt ihm zum Beispiel die Kontrolle der Briefe, die der Häftling nach draußen an Verwandte und Freunde verschicken will. Diese Briefe müssen durchgelesen werden. In der Untersuchungshaftanstalt Moabit sind die Untersuchungshäftlinge in sehr kleinen Zellen eingeschlossen. Teilweise können die |85|Häftlinge sich für zwei Stunden in einem begrenzten Bereich zwischen den Zellen hin und her bewegen oder sich in eine andere Zelle zu einem Gesprächspartner einschließen lassen. Den Rest des Tages verbringen sie allein oder – was die Regel ist – bei Mehrfachbelegung mit den Mithäftlingen in der Zelle.

Außerdem haben die Untersuchungshäftlinge eine Stunde täglich Freigang auf einem Innenhof der Vollzugsanstalt, wo sie beispielsweise, umgeben von Betonwänden, im Uhrzeigersinn ihre Runden um zwei Bänke drehen können. Dies ist eine wichtige Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu anderen Personen, die aber manchmal beschränkt wird. Insbesondere dann, wenn Verdunklungsgefahr besteht und zu befürchten ist, dass der Beschuldigte auf gleichfalls inhaftierte Mittäter, Anstifter oder Beihelfer der Straftat einwirken will, um die weitere Aufklärung der Tat zu verhindern. Es gilt auch, die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zu unbekannten Komplizen außerhalb der Haftanstalt einzuschränken. Diese könnten Tatwerkzeuge verstecken, die gesuchte Beute verschwinden lassen oder vielleicht sogar Zeugen bedrohen oder bestechen.

Alle Beteiligten wissen, dass die Untersuchungshaft in Moabit viel schlimmer als die eigentliche Strafhaft ist, die gewöhnlich in anderen Gefängnissen, zum Beispiel in der Justizvollzugsanstalt Tegel, vollzogen wird. Fast jedes Jahr gibt es in der Justizvollzugsanstalt Moabit mehrere Selbstmorde unter den Häftlingen. Es erfolgte wohl mal eine interne Anweisung, wonach nur noch »außergewöhnliche Fälle« der Öffentlichkeit mitgeteilt werden sollten. Aber die Presse bekam bald Wind davon und protestierte heftig.

Die unerträgliche Situation in der Untersuchungshaft |86|wirkt sich direkt auf die Menge und Länge der geschriebenen Briefe aus. Sie sind eine der wenigen Möglichkeiten, der Enge der Mauern, der Einsamkeit und dem psychischen Druck ein wenig zu entfliehen. Für den ermittelnden Staatsanwalt gibt es also eine Menge Gefangenenbriefe zu lesen. Will der Beschuldigte Informationen nach draußen schaffen, um Beweise zu vertuschen oder sogar seine Flucht vorzubereiten? Sind die Briefe in ausländischer Sprache geschrieben, müssen sie zunächst von einem Dolmetscher übersetzt werden, um eine Kontrolle zu ermöglichen. Natürlich kann der Staat nicht jeden Tag fünf lange Briefe eines Beschuldigten übersetzen lassen. Die verursachten Kosten wären zu hoch. Eine akzeptable Lösung zu finden ist schwer. Häufig beantragt der Beschuldigte bei einer Ablehnung dann eine Ausnahmegenehmigung oder beschwert sich. Nicht selten mit Erfolg. Die Gerichte prüfen dann im Einzelfall, wie viele Briefe es täglich sind, ob sie an Familienangehörige gerichtet sind oder was der Beschuldigte sonst an Gründen vorträgt.

 

Die beiden Neuköllner Jungs aus meinem neuen Ermittlungsverfahren waren für ihr noch recht junges Alter von 22 Jahren schon ziemlich abgebrüht. Sie hatten einen knallharten Banküberfall durchgeführt. Morgens fingen sie die erste Angestellte am Hintereingang der Bank ab und zwangen sie mit vorgehaltener Pistole, einer Attrappe, die Zahlenkombination zum Öffnen der Tür einzugeben. Die Banken sind auf solche Überfälle jedoch vorbereitet. In dem Moment, als die Täter die Angestellte durch die sich öffnende Tür in die Bank schoben, lag bei der nächsten Polizeidienststelle bereits ein stummer Alarm vor. Während einer der Täter oben an der Tür blieb und einen Angestellten nach dem anderen |87|mit der Waffe in Empfang nahm und in Schach hielt, zwang der andere die Bankangestellte unten im Tresorraum mit vorgehaltener Pistolenattrappe und brutalen Schlägen mit einem Schlagstock zur Öffnung des Tresors. Dann gab es oben an der Hintertür Probleme. Ein Postbote hatte geklingelt und wurde von dem Täter unter Waffenandrohung aufgefordert hereinzukommen. Das tat er auch, fing aber sofort an, mit dem Täter zu ringen, obwohl der ihm dabei die ganze Zeit die Pistole vors Gesicht hielt und rief: »Ich schieße!« Kämpfend gelangten beide auf den Innenhof. Später gab der Postbote an, dass er die Pistole zwar nicht als Attrappe erkannt, es aber nicht für möglich gehalten habe, dass der Täter so dreist sein und schießen würde.

Dem anderen Täter gelang es, 80 000 Euro aus dem Tresor zu nehmen, in einer Plastiktüte zu verstauen und zur Eingangstür zu rennen. Dort wurde er von der Polizei in Empfang genommen. Wenig später war auch sein Kompagnon auf dem Innenhof gefasst. Bei einer Wohnungsdurchsuchung – beide lebten noch bei ihren Eltern – fand man in ihren Zimmern Prospekte für ein BMW Cabriolet zu einem Kaufpreis von 37 000 Euro.

Die beiden waren für die Polizei keine Unbekannten. Zu ihrer Person fanden sich Einträge wie Diebstahl, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer im Bundeszentralregister. Diese Taten waren aber alle unter das Jugendstrafrecht gefallen, das bei Tatbegehung vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahres immer und bis zum Erreichen des 22. Lebensjahres meistens zur Anwendung kommt. Die verhängten Sanktionen waren Weisungen, Jugendarrest und schließlich auch eine Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war.

|88|Die Bestrafung Jugendlicher und Volljähriger bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres (zwischen 18. und 21. Lebensjahr spricht man von Heranwachsenden) wirkt auf Außenstehende oft zu milde und lasch. Das zugrunde liegende Konzept ist aber unbestreitbar richtig. Im Vordergrund steht der Gesichtspunkt, dass das Urteil gegen den Jugendlichen vor allem eine Erziehungsmaßnahme darstellt. Es gilt, dort weiterzumachen, wo Eltern oder hilfreiche Institutionen, wie zum Beispiel gemeinnützige Vereine und schulische Einrichtungen, die Jugendlichen nicht mehr erreichen können. Es ist nicht nach der schuldangemessenen Strafe zu suchen, sondern danach, durch welche Maßnahmen die noch formbare Seite des jungen Menschen am besten angesprochen werden kann. Immer wieder müssen Jugendstaatsanwälte und Jugendrichter dabei über ihren Schatten springen und dem jungen Angeklagten noch eine Chance geben. Oft ist es auch schon die zweite oder dritte. Da, wo eine harte Strafe die logische Konsequenz zu sein scheint und jede Milde auf Unverständnis bei den Opfern stößt, muss der Jugendrichter sich unerschütterlich in seinem Glauben an das Gute und Wertvolle in jeder einzelnen jungen Persönlichkeit zeigen. Auch bei schweren Straftaten und entsprechenden Vorstrafen fragen sich Jugendstaatsanwalt und Jugendrichter dreimal, ob eine Jugendstrafe verbüßt oder deren Vollstreckung nicht doch zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Besteht die Möglichkeit, dass der junge Mensch vielleicht noch ohne Freiheitsentzug seinen Weg ins bürgerliche Leben findet? Wird er in der Jugendhaftanstalt nicht erst recht an ein kriminelles Leben gewöhnt? Würde er seine Lehrstelle verlieren oder daran gehindert, eine solche anzutreten? Der Jugendrichter ist von Berufs wegen Optimist und es kann für |89|ihn nie ein »Ende der Geduld« geben. Allerdings wird diese »Geduld« nirgendwo in der Bundesrepublik so sehr auf die Probe gestellt wie in Berlin mit seinen Problembezirken und unglaublich brutalen Jugendbanden. Der Vollzug von Jugendstrafe lässt sich da nicht immer vermeiden, aber der Richter muss es als Niederlage empfinden. Er verkündet ein Versagen, das schon bei den Eltern beginnt.

Das deutsche Jugendstrafrecht ist vor diesem Hintergrund und im Rahmen seiner Möglichkeiten sehr erfolgreich. Die Rückfallquote einmal sanktionierter Jugendlicher oder Heranwachsender liegt bei unter 5 Prozent. Utopie wäre es jedoch zu glauben, dass jeder straffällige Jugendliche oder Heranwachsende vor einer kriminellen Karriere bewahrt werden kann. Trotzdem kämpfen die Jugendgerichtshilfe, Jugendstaatsanwälte und Jugendrichter jeden Tag dafür. Bei den beiden Bankräubern hatte es leider nichts genützt. Ihnen würde nun ein anderer Wind entgegenwehen. Die gesetzliche Mindeststrafe für den Banküberfall lag bei fünf Jahren Freiheitsstrafe.

 

Ich hatte den Inhalt der Anklage bereits mit Jens abgesprochen. Sie musste wegen der hohen Straferwartung vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin erhoben werden. Das war in einer Buchstabenabteilung schon etwas Besonderes. Wir gingen sie Punkt für Punkt durch. Jens meinte, dass jeglicher Fehler bei dieser schweren Anklage unbedingt vermieden werden müsse. Sonst gäbe es mit Sicherheit einen »Extratermin« bei Dr. Ring.

Am nächsten Tag stellte ich die Anklageschrift fertig. Nur noch die Gegenzeichnung fehlte. Jens war jetzt jedoch für zwei Wochen im Urlaub, sodass ich Jörg die Anklage vorlegen |90|musste. Der befand, dass sie nochmals neu formuliert werden müsse, da es sich nicht um einen schweren Raub, sondern eine räuberische Erpressung handle. Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Straftatbeständen ist einer der umstrittensten Bereiche des Strafrechts. Ich war mir ziemlich sicher, dass ein Raub vorlag und wies darauf hin, dass der Fall mit Jens abgesprochen sei. Das interessierte Jörg jedoch nicht. Dann müsste ich eben bis zur Rückkehr von Jens warten. Das aber konnte ich nicht, da es eine dringende Haftsache war, und ohne Gegenzeichnung konnte ich keine Anklage erheben. Schließlich lenkte Jörg etwas ein und meinte, dass wir den Abteilungsleiter, Herrn Berndt, konsultieren könnten. Der reagierte auf diese fachliche Frage jedoch äußerst ungehalten: Das sei keine Sache, womit man einen Abteilungsleiter behelligen sollte. Wir hätten das unter uns zu klären. Ich war etwas verwundert über die schroffe Reaktion von Herrn Berndt. Zwar hatte er sich auch sonst bei Antworten zurückgehalten und war oft auf seine alten Fälle oder Urlaubserlebnisse ausgewichen. Diesmal war er jedoch richtig verärgert und hielt mir die Sache noch wochenlang vor. Als Jens später aus dem Urlaub zurückkam, erklärte er mir, dass Herr Berndt nicht mehr lange bis zur Pensionierung habe und die letzten Jahre überwiegend mit Verwaltungsangelegenheiten beschäftigt gewesen sei. In bestimmten Einzelfällen des Strafrechts sei er nicht mehr hundertprozentig fit und fürchte, sich mit einer falschen Antwort eine Blöße zu geben.

Nachdem Herr Berndt sich herausgehalten hatte, schilderte ich bei der Kaffeerunde am nächsten Morgen Gerlinde und Mona den Fall. Beide plädierten auf Raub und so konnte ich schließlich Jörg umstimmen. Er zeichnete die Anklageschrift gegen.

 

|91|Froh und erleichtert wandte ich mich, nachdem die letzten Besucher unser morgendliches Café Jura verlassen hatten, meinem täglichen Aktenstapel zu. Der Kriminalitätsalltag einer Millionenmetropole. Was lag heute an? Die Stimmung konnten die Strafakten schon kraft ihrer Natur nicht aufhellen. Beim Lesen der zweiten Akte war die Laune aber wieder mal endgültig im Keller.

Es ging um einen kleinen Fernsehreparaturdienst namens Schulz. Ein ordentlich geführtes Geschäft in einem Wohnviertel. Meister Schulz trat in den verdienten Ruhestand und verkaufte den kleinen Laden an Hamsa C. Wie sich aus der Akte ergab, hatte weder dieser noch sein »Mitarbeiterstab« Ahnung von der Reparatur elektronischer Geräte. Hamsa C. ließ kleine Werbekärtchen in Briefkästen werfen, abgedruckt war eine Deutschlandfahne, er selbst gab sich als »Meister Schulz« aus. Es lagen zahlreiche Betrugsanzeigen vor, wonach Vorschusszahlungen entgegengenommen, an den Geräten jedoch nie Reparaturen ausgeführt worden waren. Nirgendwo in der umfangreichen Akte (sie umfasste sechs Bände) war ein Fall zu finden, wo eine Reparatur auch nur in Ansätzen erfolgreich gewesen wäre. Insofern war es keine ungewöhnliche Betrugsakte. Übelkeit kam jedoch auf, wenn man las, wie sich »Meister Schulz« gegenüber älteren Kunden (meist Rentnern jenseits der 70) verhalten hatte. Er hatte dann eine unglaubliche »Fürsorglichkeit« an den Tag gelegt. Etwa gegenüber der 91-jährigen Rentnerin, deren Fernbedienung für den Fernseher plötzlich nicht mehr funktionierte. Da das Geschäft von »Meister Schulz« gleich im Nachbarhaus war, begab sie sich in den Laden.

»Meister Schulz« sah die Fernbedienung in der Hand der alten Frau und konnte schon per Ferndiagnose erkennen, |92|dass der Fernseher kaputt war und es am besten war, wenn er gleich mit in die Wohnung kam. Dort erklärte er nach einem Blick auf den Fernseher, dass dieser sofort ausgetauscht werden müsse. Er sei nicht mehr zu reparieren. »Meister Schulz« versprach, einen neuen Apparat zu besorgen. Wenig später stellte er der Rentnerin ein neues Gerät aus einem Elektrogroßmarkt, wo es etwa 700 Euro kostete, für 2800 Euro hin. Aber damit war das segensreiche Wirken von »Meister Schulz« noch nicht beendet. In überraschtem Ton berichtete er der alten Frau, dass die Waschmaschine einen Blitzschlag abbekommen habe und umgehend ausgetauscht werden müsse. Auch diesmal lieferte er ein ähnliches »Schnäppchen«. Als die alte Dame per Überweisung bezahlen wollte, forderte »Meister Schulz« das Geld sofort in bar. Widerworte ließ er nicht zu. Die 91-Jährige meinte hilflos, dass sie in der Wohnung nur noch ihren Notgroschen aufbewahre, der für ihre Beerdigung vorgesehen sei. Außerdem sei sie aufgrund ihres Alters nicht mehr in der Lage, das Bargeld abzuzählen. Das übernahm »Meister Schulz« nun wieder gerne! Wie sicher nicht überrascht, musste er feststellen, dass noch 200 Euro auf den Kaufpreis fehlten. Glücklicherweise konnte »Meister Schulz« sofort eine Lösung präsentieren. Er fuhr sein Opfer mit seinem Pkw zur Sparkasse, wo er der Frau am Geldautomaten beim Abheben der 200 Euro half. Erst viel später wurde ihr mitgeteilt, dass nicht 200, sondern 1000 Euro entnommen worden waren. Kurz darauf gingen weitere 5000 Euro per Überweisung vom Konto der alten Frau für eine Kücheneinrichtung ab. Das Geld landete auf dem Konto des Vaters von »Meister Schulz«. Eine Kücheneinrichtung wurde niemals geliefert.

|93|Beinahe erleichtert stellte ich fest, dass die »Serviceleistung« für die Rentnerin schließlich ein Ende gefunden hatte. Nachdem ich über zwei, drei weitere Opfer des Fernsehdienstes gelesen hatte, ließ ich erst mal frische Luft ins Zimmer. Irgendwie sah ich das Bild einer riesigen Wanderheuschrecke vor mir. Gab es wirklich Täter, die noch ruhig schlafen konnten, nachdem sie derart wehr- und schutzlosen alten Mitmenschen das letzte Geld für die Beerdigungskosten abgenommen hatten? Gab es nicht ein absolutes Mindestmaß an Erbarmen und Mitleid, das einem irgendwann Einhalt gebietet? Gab es keine »Verbrecherehre« und Grenzen der Skrupellosigkeit? So naiv diese Fragen wirken mögen, viel erschütternder waren die Antworten, die mir in Form von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten um die Ohren geschlagen wurden. Akten, welche alle Dimensionen menschlicher Bosheit offenbarten. Die beim Lesen den Klang eines Trauermarsches heraufbeschworen, der Tag für Tag die Räume des Kriminalgerichts durchzog.

Beim Mittagessen erzählte ich Gerlinde und Mona von dem Fall – irgendwie wusste ich schon, dass ihnen der Appetit nicht vergehen würde. Mit Appetitlosigkeit hatte ich selbst aber auch nicht zu kämpfen, ich war da gut vorbereitet. Schließlich ist mein Vater Toxikologe in der Rechtsmedizin. Des Öfteren drehte sich mittags bei uns zu Hause das Gespräch um gewisse pathologische Themen. Leichen zum Beispiel sind nicht einfach nur tot. Dort ist auch noch sehr viel Leben, insbesondere im Sommer.

Wir saßen in der Kantine im fünften Obergeschoss des C-Baus, einem der zahlreichen Anbauten des Kriminalgerichts. Es gibt noch eine weitere Kantine, ganz unten im Altbau. Früher, als Staatsanwälte, Richter, Verteidiger und |94|Angeklagte ihre Tomahawks vor dem Eingang der Kantine begruben und drinnen in den verqualmten riesigen Hallen gemeinsam aßen und auch mal zechten, war das die einzige Restauration. Sie war viel größer als heute, wo orange Plastikstühle auf Linoleumboden stehen und von fahlem Neonlicht beleuchtet werden. Vor allem Zeugen und Angeklagte, manchmal auch Verteidiger verkehren hier. Die alteingesessenen Richter und Staatsanwälte essen gewöhnlich in der anderen Kantine oben im C-Bau. Es gibt sogar eine ungeschriebene Sitzordnung. Als ich einmal mit Oberstaatsanwalt Berndt die Kantine betrat, ging ich ein Stück vor und setzte mich an einen schönen Tisch am großen Panoramafenster mit Blick über die Dächer. Oberstaatsanwalt Berndt kam verdutzt hinter mir her: »Wollen Sie etwa hier bei den Wachtmeistern Platz nehmen?« Ich sah mich um und konnte keinen Wachtmeister entdecken. Mein Abteilungsleiter erklärte mir, dass die Richter und Staatsanwälte immer im rückwärtigen Teil der Kantine sitzen. Er wollte dorthin, um Kollegen zu treffen. Ich kam mit, obwohl die Gerichtswachtmeister aus meiner Sicht eindeutig die besseren Plätze hatten.

 

Gerlinde und Mona schauten mich fragend an. Sie fanden den Fall mit dem Fernsehreparaturdienst auch ziemlich mies. Gerlinde meinte, »Meister Schulz« müsse ein riesiges A…… sein. Sie wollten wissen, ob ich ihn »drankriegen« konnte. Bei wirklich niederträchtigen Taten das Verfahren einstellen zu müssen, da einfach nicht genügend Beweismittel für eine Verurteilung zu finden sind, ist eine bittere und deprimierende Erkenntnis, die Staatsanwälte regelmäßig ereilt. Ich erwiderte zögernd, dass es für eine Verurteilung |95|wohl reichen würde. Insgesamt sah die Beweislage aber alles andere als gut aus. »Meister Schulz« agierte häufig gar nicht selbst. So erzählten die Zeugen oft von Tätern mit polnischem oder rumänischem Akzent. Manchmal sei sogar ein Afrikaner für »Meister Schulz« gekommen. Die ausgetauschten Geräte der Opfer waren alle verschwunden, sodass man nicht sagen konnte, ob sie wirklich defekt gewesen waren. Die Erinnerungen der oft hochbetagten Zeugen waren meistens dürftig. Die 91-jährige Dame litt mittlerweile unter einer schweren Demenz und war vernehmungsunfähig. Kaum jemand konnte bei Vorlage verschiedener Lichtbilder »Meister Schulz« als Täter identifizieren. Er hatte zwar Vorstrafen, welche jedoch vor allem im Bereich der Gewaltkriminalität (gefährliche Körperverletzung usw.) lagen. Ich kratzte aus den Ermittlungsakten das zusammen, was irgendwie nach einer Verurteilung roch. Es kamen sechs Fälle zusammen. Später erfuhr ich, dass der Angeklagte im Rahmen eines sogenannten »Deals« sechs Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung erhalten hatte. Gemäß der Absprache gestand er zwei Fälle, woraufhin im Gegenzug die anderen vier eingestellt wurden. Keine hohe Strafe, aber immerhin eine Verurteilung. Ob sie imstande war, »Meister Schulz« Einhalt zu gebieten, oder ob die Wanderheuschrecke weiterzog (bzw. ob Hamsa C. vielleicht als Hintermann bei weiteren »Reparaturarbeiten« agierte), habe ich nie erfahren.