|216|Geständnis als Verteidigungsstrategie

Meine letzte Woche bei der Staatsanwaltschaft Berlin begann. Am Montag gab ich meinen Ausstand. Ich hatte etwas zu trinken und Kuchen mitgebracht und die Kaffeerunde dauerte etwas länger. Oberstaatsanwalt Berndt grinste mich an und klopfte mir auf die Schulter: »Dit wirt aba Szeit, dit wa Se loswern. Jen Se ma zum Amtsjericht. Die wern sich freun.« Ich lachte mit, hatte aber doch ein mulmiges Gefühl, da ich am Dienstag ja noch mein Beurteilungszeugnis für die Zeit bei der Staatsanwaltschaft von ihm bekommen sollte. Das Zeugnis war dann aber doch sehr nett geschrieben. Die Kollegen wünschten mir viel Glück für die Zukunft. Dass ich lieber bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten als Richter schlichten wollte, konnten sie dann aber doch nicht verstehen. Gerlinde sagte, wenn ich beim Amtsgericht einen versuchten Prozessbetrug mitbekommen würde, müsse ich die Akte sofort rüberschicken. Sie würde die Typen dann schon »drankriegen«. Jens lachte und meinte, Gerlinde solle sich bloß nicht überanstrengen, sonst müssten sie wieder andere Kollegen vertreten. Gerlinde fasste sich nachdenklich an den Rücken. Wir verabredeten, dass ich auf jeden Fall mal wieder vorbeischauen würde, wenn ich in der Nähe wäre. Schließlich war das Café Jura »extended version« vorbei. Ich schaute auf die Uhr und merkte, dass ich bald in den Gerichtssaal musste. Über das Wochenende |217|hatte ich mein Plädoyer vorbereitet. Schuldig in allen Anklagepunkten, eine schlimme Tat bei einschlägiger Vorstrafe des Täters und schweren Folgen für die Opfer. Ich würde eine sehr hohe Strafe beantragen.

 

Doch ich kam vorerst nicht dazu. Kurz nachdem die Verhandlung begonnen hatte, kündigte die Verteidigung eine Einlassung an. Nicht der Angeklagte äußerte sich, sondern der Verteidiger verlas eine von Sinan H. unterzeichnete Erklärung. Danach gab er die Beteiligung an der Tat zu. Der Angeklagte sei einer der beiden Täter gewesen, welche die Zeugin Erika L. festgehalten hatten (und auch geschlagen, dachte ich). Der Angeklagte habe nicht gewusst, dass ein anderer Beteiligter eine Pistolenattrappe dabeihatte. Er habe auch nicht mitbekommen, dass diese Attrappe hervorgeholt und damit auf den Zeugen Werner L. eingeschlagen wurde. Der Angeklagte sei völlig damit beschäftigt gewesen, die Zeugin Erika L. in Schach zu halten. Der Plan sei es gewesen, die Zeugen zu überrumpeln und mit Klebeband zu fesseln. Die Folgen dieser Tat bedauere er zutiefst.

Einen Moment lang herrschte atemloses Schweigen im Gerichtssaal. Dann fragte die »lächelnde Guillotine« (der Vorsitzende Richter) freundlich, ob dies alles sei. Der Verteidiger bestätigte dies. Es sei die vollständige Erklärung, mehr würde nicht kommen.

Die Mitglieder des Gerichts schauten sich an, ob noch jemand Fragen habe. Dann wurde mir das Fragerecht erteilt. Ich wollte natürlich die Namen der Mittäter wissen. Sie sollten gleichfalls ihrer Strafe zugeführt werden. Erika L. sollte die Chance haben, auch in ihre Gesichter zu schauen. Aber die Nennung weiterer Namen lehnte die Verteidigung |218|rundweg ab. Ich wies den Angeklagten darauf hin, dass die Reichweite der strafmildernden Wirkung des Geständnisses auch davon abhänge, ob der Angeklagte sich umfänglich äußere und zur vollständigen Aufklärung der Straftat beitrage. Die Verteidigung lehnte nochmals ab.

 

Wie konnte ich nun an die Namen der Mittäter kommen? Ich gab nochmals zu bedenken, dass ich eine hohe Strafe fordern würde und mein Antrag vielleicht niedriger ausfiele, wenn ich Namen erführe. Jetzt schaltete sich der Vorsitzende Richter ein und meinte, dass das Gericht bei der Strafhöhe auch noch ein Wort mitzureden habe. Egal. Angeklagter und Verteidiger wollten keine weiteren Angaben machen. Mir war das letztlich auch verständlich. Schließlich würde der Angeklagte von der Nennung der Mittäter nicht nur profitieren. Nach den betreffenden Personen würde zunächst gefahndet und bei Ergreifung ein DNA-Test durchgeführt werden. Sodann musste abgewartet werden, ob sich die Angaben des Angeklagten anhand der am Tatort gefundenen DNA-Spuren bestätigten. Allein die Aussage des Sinan H. würde wohl nicht für eine Verurteilung ausreichen. Jedenfalls war nicht auszuschließen, dass die Mittäter ihrerseits Sinan H. wegen anderer Raubtaten belasten würden. In den folgenden Ermittlungsverfahren würde man dann auch noch mal genauer nach einer DNA-Spur von Sinan H. suchen.

Besonders gut zu sprechen würden sie auf den »Verräter« bestimmt nicht sein. So konnte sich eine Preisgabe der Namen zu einem echten Bumerang für den Angeklagten entwickeln. Wie auch immer, da es nichts weiter zu verhandeln gab, verlas der Vorsitzende den Bundeszentralregisterauszug |219|des Angeklagten. Er ging dabei genau auf die Vorstrafe wegen schweren Raubes ein und zitierte die damaligen Urteilsgründe. Es handelte sich um einen Banküberfall, bei dem die Täter, genau wie im jetzigen Fall, mit selbst gemachten Masken agierten. Der Angeklagte war geständig gewesen, was nicht weiter verwunderlich war, da er auf frischer Tat erwischt worden war. Auch damals hatte eine Bankangestellte wegen psychischer Probleme, die aus dem Überfall resultierten, ihre Arbeit aufgeben müssen. Sie war teilweise erwerbsunfähig geworden. Diesen Umstand hatte das Gericht dem Angeklagten in der Urteilsbegründung strafschärfend vorgehalten. Allein ohne jeglichen Erfolg. Der Angeklagte war zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nach einem Jahr und elf Monaten Gefängnisaufenthalt wurde der Rest der Strafe zur Bewährung ausgesetzt und der Angeklagte nach Algerien abgeschoben. Die jetzt verhandelte Tat ereignete sich bereits gut drei Monate nach der Abschiebung. Der Angeklagte hatte genau da weitergemacht, wo er vor dem Gefängnisaufenthalt aufgehört hatte. Er war vielleicht nicht unbelehrbar, aber nah dran!

Schließlich unterbrach der Vorsitzende die Verhandlung für dreißig Minuten. Danach sollte ich das Abschlussplädoyer der Staatsanwaltschaft halten. Bei mir überwog insgesamt die Erleichterung über das Geständnis des Angeklagten. Einen Freispruch würde es jedenfalls nicht geben. Ungeschickt war das Geständnis aber nicht. Die Verteidigung wollte hier ganz offensichtlich von dem hohen Strafmaß des § 250 Abs. 2 Strafgesetzbuch herunter (mindestens fünf Jahre Gefängnis).

Ich nahm letzte Veränderungen an meinen Notizen vor, dann war die halbe Stunde um. Die Tür in der aus Eichenholz |220|geschnitzten Wandvertäfelung hinter der Richterkanzel öffnete sich. Die Richter traten aus dem Beratungszimmer und nahmen Platz. Ich erhob mich und begann mit meinem Plädoyer.

Zunächst ging es um die Festlegung des Strafrahmens, und da der Angeklagte zumindest den einfachen Raub des § 249 Abs. 1 Strafgesetzbuch gestanden hatte, begann ich damit darzulegen, warum auch die höheren Strafqualifikationen des § 250 Strafgesetzbuch erfüllt waren. Es müsse festgestellt werden, dass die Tat nicht spontan, sondern gut geplant durchgeführt wurde. Die Täter kannten den Seiteneingang und schlugen kurz nach Ladenschluss zu. Außerdem benutzten sie verschiedene Fluchtwege. Sie hatten die Örtlichkeiten und die Öffnungszeiten des Ladens vorher ausspioniert. Sie agierten arbeitsteilig mit Maskierung. So gut organisiert und dann wollten sie die Frage der Tatwerkzeuge nicht geregelt haben? Ich erklärte, dass dies ausgeschlossen sei. Wie wollten die Täter die Ladenbesitzer in Schach halten? Durch Hochheben einer Rolle Klebeband oder durch bloße Muskelkraft? Nein, die Einschüchterung durch die Pistolenattrappe passte genau ins Tatbild. Sie war eindeutig Teil des Plans.

Es war zulasten von Sinan H. nicht nachweisbar, dass er einer der beiden Täter war, die auf Werner L. eingeschlagen hatten. Schließlich lagen zwei Masken im Hausflur, und eine konnte von demjenigen stammen, der mit Erika L. beschäftigt gewesen war. Erika L. blutete stark und hatte es mit zwei Tätern zu tun. Und trotzdem hatte sie gesehen, wie ihr Mann mit der Pistole geschlagen wurde. Ihre beiden Widersacher hatten mit ihr eher leichtes Spiel und waren auf die Situation vorbereitet. Und sie sollten nichts von dem |221|mitbekommen haben, was sich vielleicht drei Meter neben ihnen ereignete? Dort spielte schließlich die Musik. Werner L. war der ernstzunehmendere Gegner. In seiner Nähe befand sich auch die Kasse. Natürlich hatten die beiden Täter, die bei Erika L. standen, beobachtet, was da passierte! Also sei die Mindeststrafe von fünf Jahren des § 250 Abs. 2 Strafgesetzbuch zugrunde zu legen, erklärte ich dem Gericht.

Innerhalb dieses Strafrahmens (fünf bis 15 Jahre Gefängnis) waren nun alle strafmildernden und strafschärfenden Gesichtspunkte abzuwägen und eine gerechte Strafe zu finden. Ich hätte überall gesucht, aber strafmildernde Gesichtspunkte gäbe es meines Erachtens nicht. Da sei allenfalls das Geständnis, welches strafmildernd berücksichtigt werden könnte. Im konkreten Fall sei es jedoch ziemlich entwertet. Schließlich habe der Angeklagte zunächst die gesamte Beweisaufnahme abgewartet und sich erst dann zum Geständnis entschlossen, als er mit dem Rücken zur Wand stand. Das Geständnis habe eher taktische Gründe, als dass es eine Distanzierung von der Tat zeige. Hinzu komme, dass er durch das Geständnis nicht zur weiteren Aufklärung der Straftat beitrage. Auch die erbeutete Summe von 1500 Euro sei nicht gerade gering. Für die Opfer stelle das jedenfalls viel Geld dar. Strafschärfend seien zudem die erheblichen Folgen für die Opfer zu berücksichtigen, fuhr ich fort. Ich erklärte, dass ich bis heute nicht verstanden hätte, wie es Erika L. geschafft habe, die zwei Täter abzuschütteln und durch den kleinen Laden- und den gesamten Hausflur bis zur Haustür zu gelangen und um Hilfe zu schreien. Ich könne mir das nur so erklären, dass sie in wahrer Todesangst gekämpft und zusätzliche Kräfte entwickelt hätte. Und kämpfen, das müsse sie auch heute noch. Jede Nacht, wenn die maskierten |222|Täter wieder in ihren Albträumen erschienen. Ich dachte an Erika L. und mir versagte etwas die Stimme. Ich bekam feuchte Augen. Verdammt! Ich schaute nach unten und biss die Zähne zusammen. Völlig unprofessionell. Was war denn jetzt los? Zu Hause hatte ich das Plädoyer zur Probe gehalten. Da hatte es keinerlei Probleme gegeben. War ich noch nicht abgebrüht genug, fehlte da noch Berufserfahrung oder war ich einfach zu viel Weichei für diesen Job? Ließ ich den Fall zu dicht an mich heran? So oder so, ich musste weitermachen. Mit leiserer Stimme und gesenktem Kopf hangelte ich mich durch. Es wurde dann auch wieder besser, aber erst, als ich im Rahmen meines Plädoyers nicht mehr weiter auf Erika L. eingehen musste. Vorher hatte ich das Gericht aber nochmals daran zu erinnern, dass Erika L. bis heute unter den Folgen der Tat litt. Dass sie ihren Laden hatte schließen müssen. Der Laden, für den sie und Werner L. so hart gearbeitet hatten. Und dass sie jetzt in einer Imbissbude als Angestellte Pommes und Würstchen zubereitete, aber sich vor jedem Kundenkontakt fürchtete. Schlimme Narben einer Tat, die niemand sieht und die wohl niemals verheilen würden.

Außerdem müsse man bei den strafschärfenden Gründen auch die Persönlichkeit des Angeklagten berücksichtigen. Er sei einfach skrupellos und selbst die Verurteilung zu einer hohen Freiheitsstrafe habe ihn bisher nicht stoppen können. Das zeige schon der zeitliche Zusammenhang der Tat mit der vorherigen Verurteilung. Kurz nach der Entlassung habe er wieder zugeschlagen. Er kenne auch die schweren psychischen Auswirkungen auf die Opfer seiner Gewalttaten. Aus der schriftlichen Begründung seiner eigenen Verurteilung! Aber das spiele für ihn ja keine Rolle. Andere sollten |223|bluten für die finanziellen Wünsche und Erwartungen des Angeklagten.

Wie sollte er nun bestraft werden? Ich beantragte eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren und die Fortdauer der Untersuchungshaft. Ich setzte mich erleichtert, nachdem ich mein Plädoyer beendet hatte. Es war wohl Mitleid mit der Zeugin Erika L., die so tapfer die Folgen dieser Gewalttaten ertrug und die Wut über den Angeklagten, der solche Schicksale wahrscheinlich regelmäßig in Kauf nahm, was mir die Tränen in die Augen getrieben hatte. Die Art, wie Erika L. ihren Schmerz ohne Tränen ertrug, ließ andere weich werden. In diesem Moment bekam ich mit, dass nun wirklich jemand weinte. Es war der Angeklagte selbst, der hemmungslos in Tränen ausbrach. Das wurde nun auch dem Vorsitzenden zu viel: »Benehmen Sie sich doch mal wie ein Mann. Was soll das denn jetzt? Als Sie auf die Zeugin Erika L. einschlugen, haben Sie doch auch nicht geweint!«

Es folgte das Plädoyer des Verteidigers. Er meinte, dass das Plädoyer des Staatsanwalts sicher nicht »unsympathisch« wirke. Die beantragte Strafe sei aber absurd hoch. Zum einen greife nur eine Mindeststrafe von einem Jahr. Sein Mandant habe die Tat eingeräumt. Niemand könne ihm nachweisen, dass er von der Pistolenattrappe gewusst, geschweige denn ihren Einsatz gebilligt habe. Ja, der Angeklagte sei einschlägig vorbestraft. Aber das Geständnis müsse stark strafmildernd berücksichtigt werden. Eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren sei durchaus angemessen. Der Angeklagte hatte sodann das letzte Wort und bat unter Tränen darum, ihm keine hohe Strafe zu geben. Es sei die einzige Tat, die er nach der Verurteilung begangen habe und er werde nie wieder straffällig werden. Das Gericht zog sich zur Beratung |224|zurück. In etwa dreißig Minuten sollte das Urteil verkündet werden.

Der Angeklagte verschwand mit zwei Gerichtswachtmeistern in der Seitenwand des Sitzungssaales. Verschluckt von den Innereien dieses riesigen Baukörpers. Die Wachtmeister hatten die Sicherheitsvorkehrungen erhöht, als sie hörten, dass zehn Jahre Gefängnis beantragt worden waren und nachdem am Vormittag einem anderen Angeklagten zwei Säle weiter die Flucht gelungen war. Er war durch das geschlossene Fenster des Sitzungssaales in einen Innenhof gesprungen (Höhenunterschied mindestens drei Meter) und war offenbar so weit unverletzt geblieben, dass er erfolgreich flüchten konnte.