|62|Zwei Gürteltiere werden abgearbeitet

Der Februar ging ins Land und ich konnte den Zeitverlust durch die nun jede Woche anstehenden Sitzungstage einigermaßen kompensieren. Ich kam morgens kurz vor 9 Uhr, begann mich durch die täglich eingehenden Aktenberge zu wühlen, hatte ein- bis zweimal die Woche Sitzungstag und verließ gegen 20 Uhr das Büro. Manchmal ging ich sogar vor Anna um 19 Uhr oder 19:30 Uhr. Das fand die sonst so humorvolle Anna dann weniger lustig. Der Bauchwehstapel sollte durch gelegentliche Arbeit am Wochenende einem langsamen Zerfallsprozess zugeführt werden.

Sobald wir morgens den Kaffee gekocht hatten, machten wir uns über die Akten her. Irgendwie war es ein seltsamer Beruf und ein wenig deprimierend, von morgens bis abends immer nur über die schlechten Seiten der Menschen zu lesen oder (in den Sitzungen) von ihnen zu hören. Ich fragte mich, ob diese Arbeit auf Dauer den Staatsanwälten unserer Abteilung aufs Gemüt schlug. Gingen sie auch außerhalb des Kriminalgerichts stets vom Schlechtesten bei Mitmenschen aus? Fehlte ihnen das Vertrauen zu anderen sogar im Privatleben? Konnten sie nie unbeschwert auf andere zugehen und waren deshalb ungenießbar und unausstehlich? Ertappten sie sich morgens dabei, wie sie misstrauisch ihr Spiegelbild beäugten? Dafür wirkten sie (zumindest |63|in unserem morgendlichen Café Jura) eigentlich viel zu fröhlich und aufgeschlossen. So erfüllte das quirlige, muntere Geschwatze von Mona genauso unser Zimmer wie das dröhnende Lachen von Jens. Ich hatte auch nie gehört, dass einer von ihnen Supervisionen bei einem Psychologen oder Ähnliches wahrnahm. Vielleicht härtete man mit der Zeit ab oder verdrängte belastende Gedanken – irgendwohin?

Auch Oberstaatsanwalt Berndt nahm ab und zu an der Kaffeerunde teil und erzählte fröhlich drauflos. Er hatte zwei Themen, entweder ein paar ältere Fälle oder Geschichten von seinen Urlaubsreisen. Die älteren Fälle waren ganz amüsant. Nach etwa zwei Monaten merkte ich aber, dass mir die meisten bekannt vorkamen. Wenn er mit seinen Fällen anfing, wurde es in der Kaffeerunde schnell leer. Anna und ich konnten aber nicht gehen, weil es unser Zimmer war. Wir warteten dann geduldig, bis er zu einem Ende kam. Das konnte sich hinziehen. War Annas oder mein Stuhl gerade frei – mehr Stühle gab es im Zimmer nicht –, nahm er Platz und erzählte weiter. Er schien es nicht zu bemerken, wenn wir dann ungeduldig dreißig Minuten danebenstanden und von einem Fuß auf den anderen traten. Die Akten warteten! Versuchte man, ihm fachliche Fragen zu stellen, wich er eigentlich immer auf sein zweites Lieblingsthema Urlaubsreisen aus. Er fragte dann beispielsweise, ob man eine Ahnung habe, wo Antananarivo (die Hauptstadt von Madagaskar) liege. Wenn wir es nicht wussten, war Herr Berndt schon aufgestanden und bewegte sich Richtung Tür: »Ich hole mal den Atlas.« Hilfeschreie, abwehrende Gesten oder Ausreden halfen nichts. Es folgten eine geographische Einführung mit dem Atlas sowie ein bis zwei Urlaubsgeschichten.

Wenn Jens das mitbekam, lachte er kräftig: »Da müsst ihr |64|noch dazulernen. Am besten nehmt ihr einfach die nächste Akte, fangt an zu lesen und reagiert nicht auf Herrn Berndt.« Das trauten wir uns dann aber doch nicht. Er war schließlich unser Chef.

 

Im Laufe des Monats Februar konnte ich zwei umfangreiche Gürteltiere aus meinem Bauchwehstapel mit einer Anklage abschließen. Bei dem ersten Fall handelte es sich um den Tod eines Alkoholikers. Der schwerkranke ältere Mann, der nicht mehr klar denken und sich kaum artikulieren konnte, wurde in einem Heim untergebracht, da er keine Angehörigen hatte. Nach einem Monat verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zunehmend und man lieferte ihn im Krankenhaus auf der Intensivstation ein. Dort legte man ihm einen Urinkatheter. Der zuständige Oberarzt notierte auf den Krankenunterlagen fürs Heim eine entzündete Stelle von zwei Zentimetern Durchmesser im Intimbereich, die wohl durch das viele Liegen entstanden war.

Sechs Monate später wurde der Mann von Mitarbeitern des Altenheims erneut in die Notaufnahme gebracht. Sein Zustand war lebensbedrohlich, und er verstarb nach zwei Tagen. Der Oberarzt stellte erzürnt fest, dass sich niemand um die entzündete Stelle gekümmert hatte. Sie hatte sich zu einer offenen, eitrigen, kreisrunden, stinkenden und von Maden befallenen Wunde entwickelt. Bei der Obduktion zeigte sich, dass die Wunde fast in die gesamte Bauchhöhle Eiter gestreut hatte. In einem Artikel für ein Wochenmagazin prangerte der Oberarzt die oft katastrophalen Zustände in Heimen an. Der enorme Kostendruck der Pflegeheime führe zur Einstellung von unqualifiziertem Personal und damit mangelhafter Pflege. Insbesondere Menschen ohne |65|Angehörige (die sich nicht beschweren und Druck machen können) würden häufig links liegengelassen.

Der vorliegende Fall war jedoch besonders erbarmungslos. Niemand hatte es im Heim für nötig befunden, die entzündete Stelle medizinisch zu versorgen, obwohl das Pflegepersonal die Entzündung täglich mehrmals gesehen und gerochen haben musste. Immer dann, wenn sie den Urinkatheter wechselten. Sie sahen zu, wie der alte Mann an der Wunde langsam zugrunde ging. Erstaunlich war, dass zweimal im Monat eine Heimärztin zur Visite kam und den Gesundheitszustand als »in Ordnung« vermerkte. Im Übrigen hatte keiner der 15 Mitarbeiter der Station eine Pflegeausbildung absolviert. Es handelte sich durchweg um ungelernte Kräfte oder Zivildienstleistende.

Ein gerichtsmedizinisches Gutachten belegte, dass der alte Mann mit hoher Wahrscheinlichkeit an Sepsis, bedingt durch diese Wunde, gestorben war. Es bestand jedoch eine ganz geringe Wahrscheinlichkeit, dass er aufgrund seines allgemein schlechten Gesundheitszustandes auch so gestorben wäre. Der Tatbestand eines Tötungsdelikts entfiel damit (im Zweifel zugunsten des Angeklagten). Aber auch sonst war es schwer, eine Anklage zu erheben. Genau genommen waren alle Mitarbeiter des Heims, die mit dem alten Mann zu tun gehabt hatten, Beschuldigte. Sie konnten die Aussage verweigern und taten dies, genau wie die Heimärztin. Ich stieß auf eine Mauer des Schweigens. Das Einzige, was mir blieb, waren die beschlagnahmten Pflegeunterlagen der Station. Darin war in unverständlichen Abkürzungen festgehalten, wer wann Dienst gehabt hatte. Unklar blieb außerdem, wer in welchem Bereich der Etage tätig gewesen war. Ich entschied mich trotzdem, gegen die Ärztin, die Pflegeleiterin |66|der Station und die Heimleiterin wegen fahrlässiger Körperverletzung vorzugehen. Die Anklage stand auf dünnen Beinen. Ich beruhigte mich damit, dass es im ungünstigsten Fall wenigstens ein Warnschuss vor den Bug wäre. Man musste zumindest deutlich machen, dass entsprechende Fälle verfolgt werden. Hier hatten schon zu viele weggesehen. Ich als Staatsanwalt würde das nicht auch noch tun. Später hörte ich, dass das Verfahren gegen eine Geldbuße eingestellt worden war. Ich war ziemlich enttäuscht, aber nicht unbedingt überrascht.

 

Das zweite »Gürteltier« war ein umfangreiches Ermittlungsverfahren gegen den gebürtigen Araber Hamid D., einen Fahrschullehrer. Arabisch sprechenden Kunden bot er an, für ein Entgelt von etwa 1000 Euro den Nachweis einer erfolgreich abgelegten theoretischen Prüfung zu besorgen. Es sei doch recht umständlich, die deutsche Sprache und diese ganzen Verkehrszeichen, von denen ohnehin nur ein Dutzend wichtig seien, zu lernen. Dazu muss gesagt werden, dass die schriftliche Prüfung durchaus in anderen Sprachen, zum Beispiel Arabisch, abgelegt werden kann.

Irgendwann fiel einem Aufsicht führenden Prüfer auf, dass er den Kandidaten links am Fenster doch vorgestern auch schon bei einer schriftlichen Prüfung gesehen hatte. Er rief die Polizei und der Mann wurde festgenommen. Der Beschuldigte, Cemil K., gestand in der Untersuchungshaft vor dem Ermittlungsrichter und gab auch noch zwei weitere Fälle zu. Er habe von dem Fahrlehrer 200 Euro je Prüfung und die jeweiligen Personaldokumente erhalten. Anschließend identifizierte er den Fahrlehrer anhand einer sogenannten Wahllichtbildvorlage, bei der ihm verschiedene, |67|namentlich nicht gekennzeichnete Fotos gezeigt wurden. Nach dem Geständnis wurde er gegen die Auflage entlassen, sich wöchentlich bei seinem Polizeirevier zu melden. Er wurde nie wieder gesehen.

Prüfungsbögen der letzten Monate wurden in großem Umfang auf Fingerabdrücke hin überprüft. Dabei stellte sich heraus, dass der Beschuldigte zumindest dreizehn theoretische Prüfungen unter wechselnden Personalien absolviert hatte (allesamt Fahrschüler von Hamid D.). Die Ermittlungsakte wuchs und wuchs. Die dreizehn Beschuldigten, die sich bei schriftlichen Prüfungen hatten vertreten lassen, konnte ich leicht anklagen. Wie sollte ich aber den Fahrschullehrer überführen? Sowohl er als auch die anderen Beschuldigten mussten nicht aussagen (um sich nicht selbst zu belasten), was sie auch nicht taten. Die belastende Aussage des Prüfungskandidaten vor dem Ermittlungsrichter konnte zwar durch Verlesen des richterlichen Protokolls in den Prozess eingeführt werden. Es war aber mehr als fraglich, ob das reichen würde. Da, wo sich für das Gericht Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieser Aussage ergeben und sich Fragen aufdrängen würden, schweigt das Papier. Ohne seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung wäre mit der Aussage des Prüfungskandidaten Cemil K. nichts anzufangen. Der Verteidiger würde die Anklage in Stücke reißen. Ob man den untergetauchten Cemil K. jemals fassen würde, war unklar. Seit seinem Verschwinden waren bereits zwei Jahre vergangen.

Wie nun weiter? Der Fahrschullehrer musste unbedingt aus dem Verkehr gezogen werden. Es handelte sich nicht um ein Kavaliersdelikt. Führerscheine ohne theoretische Kenntnisse zu verteilen, konnte auf Dauer nicht gutgehen. |68|Musste erst ein schlimmer Unfall passieren? Ich entschied mich, nicht länger zu warten und den Fall zur Anklage zu bringen. Die Anklageschrift war gerade fertiggestellt, als ich eine Idee hatte. Konnte ich nicht einen der 13 anderen Beschuldigten zu einer Aussage bewegen? Sie hatten zwar alle die Aussage verweigert. Vielleicht konnte ich aber im Gegenzug etwas anbieten. Zum Beispiel eine Verfahrenseinstellung. Ich besprach mich mit Jens. Er meinte, dies sei grundsätzlich möglich. Wie das Gericht allerdings die Aussage eines »gekauften« Zeugen bewerten würde, lasse sich im Vorhinein kaum abschätzen. Damit hatte ich kein Problem, da die Beweislage sowieso schlecht war und nur besser werden konnte. Ich sollte am besten den Anwalt eines auswärtigen Beschuldigten kontaktieren. Das sei von Vorteil, meinte Jens, da er »nicht so dicht an dem ganzen Verfahren dran« sei. Beschuldigte würden sich oft miteinander absprechen, waren womöglich familiär verbunden oder bedrohten einander.

Dankbar kehrte ich mit den Ratschlägen meines Gegenzeichners ins »Assessorenzimmer« zurück. Jens hatte bis vor Kurzem in einer Abteilung für organisierte Kriminalität gearbeitet. Sie haben dort verdeckte Ermittler, die sich langsam in Verbrecherbanden einschleusen, Fahrzeuge werden per GPS überwacht und Telefonanschlüsse abgehört. Schwierige Ermittlungen, bei denen es auf letzte Feinheiten ankommt. Jens kannte jede Ermittlungssituation, die in den Akten unserer »Buchstabenabteilung« auftauchte, in- und auswendig. Wahrscheinlich war er in Gedanken immer schon drei Züge weiter. Er bewegte sich mit der Leichtigkeit eines Florettfechters durch die Verfahren, während im Nachbarzimmer sich die Proberichter mit schweren Säbeln |69|übers Schlachtfeld schleppten und vor jedem Schlag keuchend nach Luft schnappten.

Ich durchwühlte die neunbändige Ermittlungsakte und fand tatsächlich einen Beschuldigten, der nicht in Berlin wohnte. Ich rief seinen Verteidiger an und hatte Glück. Relativ schnell erhielt ich eine belastende Aussage gegen den Fahrschullehrer. Der Beschuldigte, dessen Verfahren ich daraufhin einstellte, gab an, sich mit Hamid D. in einem Café getroffen zu haben. Dort habe er ihm 1100 Euro sowie sein Personaldokument für die Prüfung überreicht. Wenig später habe er dann den praktischen Teil bei dem Fahrschullehrer absolviert. Seinen Führerschein habe er aber nicht erhalten, da die Führerscheinbehörde über das Ermittlungsverfahren informiert worden sei. Kurze Zeit später erhob ich Anklage gegen Hamid D. und beantragte als Nebenstrafe, also zusätzlich zur Geld- oder Freiheitsstrafe als Hauptstrafe, den Entzug der Fahrerlaubnis sowie drei Jahre Berufsverbot.

Später erfuhr ich, dass diese Anklage erfolgreich war. Der »gekaufte« Zeuge hatte sich als Trumpfkarte erwiesen. Der Angeklagte agierte in der Hauptverhandlung erst mit einem, dann mit zwei und schließlich mit drei Verteidigern gleichzeitig. Sie versuchten natürlich Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Zeugen zu säen. So fragten sie, ob er nicht kurz vor der Hauptverhandlung noch Hamid D. kontaktiert habe. Das bejahte der Zeuge frei heraus. Er habe von dem Angeklagten sein Geld zurückverlangt und mit einer Aussage vor Gericht gedroht. Hamid D. habe es ihm aber nicht zurückgegeben, sondern erklärt, dass man ohnehin keine Beweise gegen ihn habe und ihn nicht überführen könne. Diese prompten Antworten des Zeugen fand das Gericht überzeugend und die Äußerungen des Angeklagten etwas |70|voreilig. Es verurteilte Hamid D. schließlich zu eineinhalb Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung mit der Auflage, einen Betrag von 10 000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen. Gleichzeitig wurde ein Berufsverbot von drei Jahren ausgesprochen.