|81|Unangenehme Überraschungen

Sinan befand sich seit zwei Wochen in Untersuchungshaft in Leipzig, als der Ermittlungsrichter ihn wieder vorführen ließ: »Entschuldigen Sie, dass ich Sie beim letzten Mal mit falschem Namen angeredet habe. Aber erst seit der Auswertung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen wissen wir, dass Sie Sinan H. sind. Das wird die Strafe für den räuberischen Diebstahl aufgrund der Vorstrafe sicherlich etwas erhöhen. Und dann haben Sie noch eine lange Reise vor sich.« Sinan war schon in den letzten Tagen klar geworden, dass sie seine Identität herausfinden konnten. Nach der Verbüßung der Strafe würde er wieder in Algerien landen. »Wann werde ich ungefähr abgeschoben?«, fragte er den Ermittlungsrichter. »Das kann ich nicht sagen. Mit der langen Reise meinte ich auch eher Chemnitz und Berlin. Ich habe noch zwei Haftbefehle für Sie. In beiden Städten will man gegen Sie wegen besonders schweren Raubes verhandeln. Mindeststrafe jeweils fünf Jahre.« Sinan starrte ihn mit offenem Mund an. Von dem Inhalt der Haftbefehle bekam er kaum etwas mit. Der Schock erwischte ihn mit voller Wucht. An die Fälle konnte er sich nur dunkel erinnern. Wie sie gerade auf ihn kamen, war ihm ein Rätsel. Die anderen Mittäter waren bisher nicht belangt worden. Das wusste er genau.

 

|82|Der Transport von Häftlingen kann eine langwierige Sache sein. Soll ein Häftling beispielsweise von Chemnitz nach Berlin verschoben werden, so wird er nicht sofort mit einem Fahrzeug und Bewachern losgeschickt. Vielmehr gibt es in regelmäßigen Abständen Sammeltransporte zwischen den einzelnen Haftanstalten. Alles andere würde zu viel Personal für die Bewachung erfordern. So kann beispielsweise die Reise eines Häftlings von Chemnitz nach Berlin über Leipzig und Brandenburg gehen und durchaus zwei Wochen dauern.

 

Sinan grübelte in seiner Zelle. Zuerst musste er hier die Hauptverhandlung wegen der Wodkaflasche abwarten. Nach seiner Verurteilung ging es nach Chemnitz und Berlin. Er wusste nicht, was sie nach all dieser Zeit gegen ihn in der Hand hatten, aber es drohten in jedem Fall sehr hohe Strafen. Es war Zeit, sich abzusetzen. Er hatte einen ganz ordentlichen Geldbetrag zur Seite gelegt. Nicht so viel, wie er gehofft hatte. Für einen Neuanfang in Algerien aber musste es reichen. Hatte er es dorthin geschafft, würden sie ihn nicht mehr finden. Die nächsten zehn Jahre würde er jedenfalls nicht in Haft sitzen. Er musste zu Verhandlungen bei drei Gerichten und hatte zwei längere Transporte vor sich. Irgendwo würde sich die Möglichkeit zur Flucht ergeben. Er musste wachsam sein und im richtigen Moment explodieren. Mit einer zweiten Chance konnte er nicht rechnen.

Wenige Tage später stellte sich ein Rechtsanwalt bei Sinan als sein Pflichtverteidiger vor. Er übernehme jetzt den Fall.

Die Strafprozessordnung verlangt zwingend, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, wenn zum Beispiel eine Freiheitsstrafe von einem Jahr droht oder der |83|Angeklagte sich bereits längere Zeit in Haft befindet beziehungsweise sich aus anderen Gründen nicht selbst hinreichend verteidigen kann. Hat der Angeklagte kein Geld für einen eigenen Verteidiger, so wird ihm ein Pflichtverteidiger vom Gericht beigeordnet, den der Staat vergütet. Zwar muss der Angeklagte im Falle der Verurteilung die Kosten des Strafverfahrens tragen. Sehr oft gibt es da aber nichts zu vollstrecken.