|103|Bundesliga und merkwürdige Verwicklungen

Ende April wurde dann auch in unserem Café Jura über den sogenannten Schiedsrichterskandal diskutiert. Schon im Eingangsbereich zum Hauptportal hatte man Probleme, sich durch die Menschenmengen zu drängen, wenn wieder eine Pressekonferenz mit dem Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Berlin anstand. Er hatte in diesen Tagen und Wochen viel zu tun. Ein ehemaliger Bundesligaschiedsrichter war in Untersuchungshaft genommen worden, weil er Fußballspiele so gepfiffen haben sollte, dass seine Komplizen hohe Wettprämien kassieren konnten. Der Verdacht weitete sich auf andere Schiedsrichter aus und erschütterte die gesamte Fußballnation.

Der Fall wurde einer Staatsanwältin aus dem Bereich der organisierten Kriminalität zugeteilt. Sie war eine sehr erfolgreiche und hartnäckige Ermittlerin (oft brannte spätabends noch Licht in ihrem Büro). Entsprechend hoch war ihr Ansehen innerhalb der Staatsanwaltschaft. Selbst ich als Neuling hatte schon von ihr gehört. Später erlebte ich eine Hauptverhandlung mit ihr, die mir in Erinnerung blieb, weil der Angeklagte sich plötzlich völlig unmotiviert und laut beschwerte, dass sie immer nur an seine Laptops (für die er wegen Hehlerei angeklagt war) denken würde. Es war das einzige Mal in dem Jahr bei der Staatsanwaltschaft, dass ich mitbekam, wie sich ein Angeklagter darüber beschwerte, |104|dass die Staatsanwaltschaft zu genau und streng ermittelte.

Sie gehörte also zu den besten Staatsanwälten Berlins. Aber sie war auch eine Frau! Konnte das gutgehen, wenn es um einen Skandal dieses Ausmaßes im Männerfußball ging? Darum drehte sich die Diskussion in unserer Kaffeerunde. Zusätzliches Öl aufs Feuer goss die Staatsanwältin selbst, als sie in einem Interview wohl versehentlich einmal von »Bayern Münchengladbach« sprach. Jörg und ich meinten, dass ein Mann für diesen Fall erforderlich sei. Zumindest sollte ihr ein männlicher Berater zur Seite gestellt werden. Wir verwiesen in diesem Zusammenhang auf unser Fachwissen, das wir durch jahrelanges Studium der Sportschau angehäuft hatten.

Jens war es egal. Mona und Maja waren klar für die Staatsanwältin. Mona sagte, dass wir allenfalls »gefährliches Halbwissen« hätten. Außerdem sei es gar nicht so schlecht, wenn die ermittelnde Staatsanwältin sich bei diesem »Zirkus« nicht so auskenne, der da jedes Wochenende über den Bildschirm flimmerte, sondern völlig unvoreingenommen an die Sache herangehe. Maja erinnerte an den Fußballweltmeistertitel der deutschen Frauennationalmannschaft. Gegenworte gab es nicht. Die Europameisterschaft 2004 in Portugal war uns schließlich noch hinlänglich in Erinnerung. Im Prinzip hatten wir auch nichts gegen die Zuständigkeit der Staatsanwältin einzuwenden. Insgeheim waren wir nur ein bisschen neidisch auf die interessante Materie dieses Ermittlungsverfahrens, die Vernehmungen berühmter Spieler, Schiedsrichter usw. Egal. Vielleicht würde die Staatsanwältin, die nicht weit von uns (eine Etage höher) saß, einmal in unser Zimmer kommen und nach unserem geballten |105|Sachverstand fragen. Dann könnten wir zusammen Videoaufnahmen anschauen und auswerten, ob es in dem einen Fall ein Handelfmeter gewesen war und ein anderes Mal der Spieler klar im Abseits stand.

Am Ende der Kaffeerunde erklärte dann Oberstaatsanwalt Berndt, dass er noch ein paar Änderungen bezüglich der Geschäftsverteilung in unserer Abteilung bekanntgeben müsse. Da Gerlinde zwei wichtige Sonderfälle umgehend anklagen müsse, solle sie vorübergehend von ihrem sonstigen Dezernat freigestellt werden. Die Vertretung ihres Dezernats bis Mitte Mai sollten Mona und ich übernehmen. Wir waren von dieser Nachricht ziemlich geplättet. Das Dezernat von Gerlinde war bekanntermaßen mit deutlichem Abstand das umfangreichste in unserer Abteilung. Die Hälfte davon war beinah so viel wie ein volles Dezernat anderer Kollegen. Mona und mich würde jede Menge Arbeit erwarten. Gerlinde hob beschwichtigend die Hände und meinte, das sei alles kein Problem. In zwei Wochen wäre die Sache erledigt.

Das einzig Gute daran sei, dass sie künftig abends nicht immer so lange allein im Zimmer sitzen müsse, meinte Maja. Überrascht schaute ich zu ihr rüber. Anna hatte offensichtlich, was zynische Sprüche anging, eine würdige Nachfolgerin gefunden. So richtig lachen konnte ich trotzdem nicht.

Jens kam später in unser Zimmer und erklärte uns die Sache mit den Schleuserverfahren, alten und umfangreichen Ermittlungsakten aus dem Dezernat von Gerlinde. Gerlinde hätte »einfach zu lange auf den Dingern herumgesessen«. Normalerweise wäre es allein ihre Angelegenheit, diese Verfahren »nebenbei« zum Abschluss zu bringen. Aber bestimmte Verwicklungen hätten dazu geführt, dass wir ihr |106|nun den Rücken freihalten müssten, meinte Jens mit erhobenem Finger. Mit »wir« konnte Jens nur Mona und mich meinen, da wir Gerlindes Dezernat übernommen hatten. »Was sind denn das für Verwicklungen?«, wollte ich wissen.

Jens seufzte: »Also, dazu muss man die Vorgeschichte kennen.« Er setzte sich und erklärte sie uns. Ende der neunziger Jahre wurden in den deutschen Botschaften und Konsulaten immer mehr Anträge auf Besuchsvisa gestellt. Diese waren meistens auf drei Monate begrenzt und durften unter anderem nur dann erteilt werden, wenn keine Zweifel an der Rückkehrbereitschaft bestanden und die einladende Person in Deutschland sich für den Reisenden verbürgte, also Risiken wie Krankheit versicherte oder auch die Kosten für die Rückreise abdeckte. Der enorm hohen Zahl der Antragsteller stand aber eine viel zu geringe personelle Ausstattung der Konsulate und Botschaften gegenüber, und so wurden einige von Antragstellern regelrecht belagert. Einen extremen Fall bildete die deutsche Botschaft im ukrainischen Kiew. Dort bildeten sich bereits seit einigen Jahren extrem lange Schlangen vor dem Botschaftsgelände. Die deutsche Botschaft in Kiew stellte 1999 zirka 150 000 Dreimonats-Einreisevisa aus. Später wurde mal anhand der Personalzahlen berechnet, dass die durchschnittliche Bearbeitungszeit für ein Visum in der Ukraine nur wenige Minuten betragen haben konnte. Da also lediglich eine recht oberflächliche Prüfung erfolgte, bestanden ideale Bedingungen für bandenmäßige Schleuser.

Innerhalb der Botschaft sorgte der Bundesgrenzschutz für Ordnung, außerhalb dagegen ukrainische Sicherheitskräfte. Antragsteller berichteten später, dass einige dieser Wachleute Geld von ihnen forderten, damit sie unbehelligt blieben. |107|Sie verlangten umgerechnet zwischen 50 und 250 Euro je nach Platz in der Warteschlange. Daraus entwickelte sich mit den Jahren eine regelrechte »Warteschlangen-Mafia«. Vor den Augen der machtlosen Botschaftsangehörigen entschieden organisierte Banden, wer gegen Gebühr ein oder zwei Schritte in der Schlange vor der Visastelle vorrücken durfte.

Nicht zuletzt aufgrund solcher Zustände wurden in der Folgezeit erhebliche Reiseerleichterungen durch die Bundesregierung eingeführt, die jedoch leider auch der Schleuserkriminalität Tür und Tor öffneten. Sie führten insbesondere in der deutschen Botschaft in Kiew (nochmals!) zu einem erheblichen Anstieg an ausgeteilten Visa. Zwischen 1999 und 2001 kam es fast zu einer Verdoppelung auf rund 300 000 Visa.

Die Reiseerleichterungen wurden für kriminelle Schleusungen von Tausenden Menschen missbraucht. So wurde beispielsweise der Geschäftsführer eines deutschen Reisebüros zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, nachdem ihm nachgewiesen werden konnte, dass er massenhaft Gruppenreisen mit fingierten Programmen beantragt und an die deutsche Botschaft in Kiew weitergeleitet hatte. Die in Deutschland Eingereisten, so stellte das Gericht fest, waren umgehend untergetaucht, hatten sich in andere Länder abgesetzt oder gingen der Prostitution nach. In die breite Öffentlichkeit rückte diese Visavergabepraxis ab Februar 2004. Die Zustände um das Botschaftsgelände in Kiew waren weitgehend bekannt. Zudem gab es erste Urteile über »bandenmäßige Menschenschleusung« gegenüber einzelnen Angeklagten, in denen dem Außenministerium vorgeworfen wurde, dieser Praxis durch »schweres Fehlverhalten |108|Vorschub geleistet« zu haben. In den Regierungserlassen wurde ein »kalter Putsch gegen die bestehende Gesetzeslage« gesehen.

Es entwickelte sich die sogenannte Visa-Affäre und Ende 2004 wurde ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, der klären sollte, wer für die zehntausendfache Erschleichung von Visa zwischen 1999 und 2002 verantwortlich zeichnete.

Einer der ersten und sicherlich wesentlichen Ermittlungsschritte des Untersuchungsausschusses war es, bei den einzelnen Staatsanwaltschaften in Erfahrung zu bringen, um wie viele Missbrauchsfälle es sich tatsächlich handelte. Man wollte schließlich genau wissen, über welche Ausmaße man verhandelte.

Bei diesen Schleuserfällen handelte es sich überwiegend um sehr schwere Verstöße gegen das Ausländergesetz, Urkundenfälschung und Ähnliches. Zuständig waren bei der Staatsanwaltschaft Berlin meistens keine Spezialabteilungen, sondern die Buchstabenabteilungen. Jeder hier Beschäftigte kannte diese Schleuserverfahren. Sie wurden gleichmäßig unter den Staatsanwälten aufgeteilt. Die Ermittlungen und die Abfassung der Anklagen waren aufwändig. Jedes Ermittlungsverfahren bestand bereits aus einem »Gürteltier«. Dazu gehörten meist mehrere Kartons voll mit Unterlagen, die bei den Beschuldigten beschlagnahmt worden waren und ausgewertet werden mussten. Ein Verfahren konnte ohne Weiteres aus zweihundert bis vierhundert Einzelfällen bestehen. Die zu fertigenden Anklageschriften waren oft unfassbar lang. Wenn der Staatsanwalt sie zu Beginn einer Hauptverhandlung verlesen musste, konnte dies Stunden dauern.

Diese Ermittlungsverfahren waren nun, auch durch die Anfragen des Untersuchungsausschusses, in besonderem |109|Maße ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Die Staatsanwaltschaft Berlin wollte sich dabei nicht in schlechtem Licht präsentieren. Soweit einige Verfahren noch nicht zur Anklage gebracht worden waren, sollte dies jetzt zügig passieren. Damit die überlasteten zuständigen Staatsanwälte nicht alle anderen Fälle für längere Zeit liegenlassen mussten, wurde entschieden, dass die noch offenen Schleuserfälle von den Abteilungsleitern selbst umgehend abzuschließen waren.

 

In unserer Abteilung hatte fast jeder Staatsanwalt mindestens ein dickes Schleuserverfahren erhalten. Das geschah schon vor meiner Zeit. Alle hatten es mittlerweile geschafft, diese Verfahren »nebenbei« zur Anklage zu bringen. Alle außer Gerlinde. Sie hatte noch zwei offene und dabei sehr umfangreiche Schleuserverfahren in ihrem Dezernat. Sie bestanden neben mehrbändigen Akten aus diversen Kisten, voll mit Aktenordnern. Nach mehreren staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsschritten meinte Gerlinde, dass die Fälle nun reif für die Verfassung einer Anklageschrift waren. Es wäre eine der nächsten größeren Sachen gewesen, die sie in Angriff nehmen wollte. Wie auch immer, jetzt war Oberstaatsanwalt Berndt dafür zuständig.

»Das alles«, meinte Jens zu uns, »wäre eigentlich nicht euer Problem. Aber Gerlinde ist in die Fälle eingearbeitet. Sie kennt den gesamten Sachverhalt, hat die in Betracht kommenden Strafvorschriften durchgeprüft und wollte ohnehin demnächst die Anklageschriften fertigen. Oberstaatsanwalt Berndt hätte jedoch noch einmal völlig von vorn beginnen müssen. Außerdem hat er seit Jahren sehr viele Verwaltungsangelegenheiten zu bearbeiten, sodass er nicht mehr so in |110|der Materie der Anklageverfassung drinsteckt wie Gerlinde. Also fragte er Gerlinde, ob diese die beiden Fälle selbst weiterbearbeiten könnte. Gerlinde stimmte dann ›großzügig‹, gegen Freistellung von ihrem sonstigen Dezernat für zwei Wochen, zu.«